Was ich nach der pariser Tragödie noch zu sagen hätte

In Frankreich folgen Geiselnahmen, Erpressungen, Ermordungen und Polizeijagden auf den Angriff auf die Satirezeitung Charlie Hebdo. Und noch während dies alles geschieht, macht sich die Politik auf, die grausamen Mordtaten für ihre Zwecke auszunutzen.

Nun wäre der Zeitpunkt, politische Streitigkeiten ruhen zu lassen und sich ganz der Opfer und der Jagd nach den Tätern zu widmen, hieß es nach dem Anschlag am Mittwoch. Überall auf der Welt gab es eine Menge von Solidaritätskundgebungen, viele davon auch von islamischen Gruppen organisiert. Trauer und Entsetzen waren bei den einfachen Menschen weltweit zu spüren und halten immer noch an. Einen Moment der Ruhe und des Nachdenkens hätten wir sicher alle gebrauchen können, denn die Frage, wie wir damit umgehen sollen, was da geschehen ist, geht uns alle an. Ich habe versucht, mir solche Gedanken zu machen, zum Beispiel den folgenden: Zyniker würden jetzt behaupten, es sei doch nur ein kleiner Anschlag gewesen, auf das Konto der USA und ihrer Verbündeten gingen täglich mehrere Tausend Menschen, ohne dass jemand Solidaritätsveranstaltungen organisierte. Wer aufrechnet und ein Attentat nicht einmal als Einzelereignis behandeln kann, das menschlich einfach erschüttert, der trauert nicht, der lässt sich nicht mehr von Brutalität und menschlichem Leid berühren. Oder ich dachte über einen Satz nach, den ich auf Twitter las: Die Zeichner von Charlie Hebdo sind für einige ihrer schlechtesten Arbeiten und für die Meinungsfreiheit gestorben. Ich frage mich: Spielt das irgendeine Rolle? Sie sind gestorben, und zwar weil es Menschen gibt, die mit dem Tod anderer Menschen ihre Ziele durchsetzen wollen. Also spielt es keine Rolle, wie gut die Zeichnungen über den Propheten Mohammed gewesen sind.

Wie gesagt: Ein Moment der Ruhe und der Trauer, mindestens aber der Besinnung und Einkehr hätte uns allen an- und zugestanden. Aber dazu kamen und kommen wir ja eigentlich nicht. Zum einen reißen die Schreckensmeldungen aus Frankreich nicht ab, die Mörder hinterlassen auf ihrer Flucht weiterhin Leid und Tod, und zum Anderen hat die politische Debatte längst wieder begonnen. Der Ruf nach der Vorratsdatenspeicherung wird immer lauter, der anlasslosen Überwachung der Kommunikation aller Bürger. Es ist das alte Lied: Durch die Vorratsdatenspeicherung werde das Land sicherer, das Leben der einzelnen unschuldigen Bürger könnte besser geschützt werden, sagen sie. Natürlich wissen sie, dass es nicht stimmt, aber ihre Marketingberater werden ihnen einbläuen, ja nicht die Wahrheit zu sagen, wenn sie keinen panischen Aufstand oder gar Machtverlust riskieren wollen.

Die traurige Wahrheit ist, dass die Attentäter von Paris bereits ständig überwacht wurden, ihr Anschlag aber trotzdem nicht verhindert wurde. Die Vorratsdatenspeicherung wurde auf diese Leute faktisch angewandt, aber es hat nichts geholfen. Es gibt vernünftige Journalisten, die das recherchiert haben und zu bedenken geben, aber sie werden im allgemeinen politisch-medialen Aufschrei einfach nicht gehört.

Die Wahrheit ist auch: Die Vorratsdatenspeicherung, wie sie bislang in Deutschland ja schon praktiziert wird, führt regelmäßig zur Überwachung kritischer und wacher Geister, zur Einschränkung ihrer Freiheit, zur Beschwörung eines Bedrohungspotentials von links, wobei links mit kritisch gleichgesetzt wird. Auf dem rechten Auge aber ist der Verfassungsschutz nicht nur blind, sondern auch noch hilfreich. Er unterstützte die Mörder des NSU und versucht heute, dies mit aller Gewalt zu vertuschen. Vorratsdatenspeicherung ist gut für den Aufbau eines repressiven Systems, nicht zur Verhinderung von Terrorismus.

Denn die dritte und entscheidende Wahrheit lautet: Es gibt keine Sicherheit vor Terrorismus. Das ist es, was die Politiker den Menschen klar machen müssen. Nur eine angstarme und zusammenarbeitende Gesellschaft kann sich der Gewalt, der Drohung und der Einschüchterung erwehren, keine Gesellschaft, die gleichermaßen Angst vor Terroristen und vor staatlicher Repression hat. Gerade in Polizeistaaten, und darauf steuern wir mit der
Vorratsdatenspeicherung und dem nach rechts ausgerichteten Verfassungsschutz zu, gibt es mehr Terrorismus, mehr Unsicherheit und mehr Angst. Das müsste man den Menschen sagen, müsste ihnen Mut machen und eine Gemeinschaft bilden gegen den Hass und die Gewalt.

Und wenn man den Moment der Ruhe gehabt und die Wahrheit gesagt hat, dann müsste man sich wirklich mit den Ursachen des Terrorismus allgemein, und des islamischen Terrorismus im Besonderen befassen. Dabei kann es weder darum gehen, eine Religion oder Kultur in Bausch und Bogen zu verdammen, noch darum, sie gegen jede Kritik stereotyp zu verteidigen. Unbestreitbar ist, dass der Dschihad, der “heilige Krieg”, im Islam eine wichtige Rolle spielt. Vor allem heutige Religions- und Rechtsgelehrte betonen, dass man diesen Begriff durchaus nichtmilitärisch sehen kann, dass es um den inneren Kampf für die Sache Gottes geht, den Kampf gegen Verführungen und Verlockungen, gegen die Unwahrheit, die Unrechtmäßigkeit. Das alles ist schön und gut, aber die klassische islamische Rechtsauslegung geht von einem militärischen Dschihad aus, sieht man von den Schiiten und einer sunnitischen Rechtsschule ab. Es geht um den Kampf gegen die Ungläubigen und um ihre Unterwerfung. Umstritten ist, ob sich das nur auf die arabische Halbinsel und die Vielgötterei dort bezog, oder ob es ein allgemeines Gebot bis in die heutige Zeit ist, wie die radikalen Islamisten behaupten. Wenn in den islamischen Ländern keine Sicherheit, keine Zufriedenheit und keine Gerechtigkeit herrscht, und solange die Welt nicht auch ehrlich und freundschaftlich auf die Muslime zu geht, wird es immer einen Nährboden für Terrorismus geben. Dem ist nicht einfach durch Konsum beizukommen, durch Erhöhung des Lebensstandards im Jemen, in Palästina, dem Irak und dem Libanon. Es muss mehr getan werden. Es muss ein echter Frieden zwischen Israel und seinen Nachbarn erreicht werden, der Irak, Afghanistan, Syrien und der Libanon müssen frei über ihre Zukunft entscheiden können, angeführt von Gruppen, die einen wirklichen Frieden wünschen. Dass das derzeit Illusion ist, ist mir auch klar. Es nützt jedenfalls nichts, zu verschweigen, dass man den Dschihad so auslegen kann, dass er zum Krieg gegen die Ungläubigen führt, und dass durch den Märtyrertod auf dem Weg Gottes der sonst im Islam verbotene Suizid eine Genehmigung erfährt.

Das alles heißt nun aber nicht, dass wir von allen Muslimen in Deutschland jetzt Ergebenheitsadressen gegenüber unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Wirtschaftssystem oder der christlichen Religion erwarten dürfen. Wenn irgendwo auf der Welt ein christlich motivierter Anschlag durchgeführt wird, sei es nun in Irland oder jetzt in Frankreich gegen islamische Gotteshäuser, dann wird auch nicht von allen Christen in der Welt verlangt, dass sie sich distanzieren und irgendeiner Gesellschaft die Treue schwören. Wir müssen lernen, den Terrorismus als das zu sehen, was er ist: Eine politisch-militärische Erscheinung überall auf der Welt und mit den unterschiedlichsten Begründungen und Ursachen. Es ist ein Auswuchs, den man mit geeigneten Mitteln bekämpfen muss, ohne dabei über zu reagieren und die Verhältnismäßigkeit der Mittel außer Acht zu lassen.

Und dann denke ich noch über den Journalismus nach. Gerade wird von allen Medien bestätigt, dass die Jagd auf die Attentäter beendet ist, dass die Verdächtigen tot sind. Ob auch Geiseln und weitere Zivilisten umgekommen sind, ist noch nicht klar, die Meldungen widersprechen sich. Überall waren Medien live dabei, vor allem mit Kameras und Livetickern, damit man auch nur ja nichts verpasste. Dabei konnte man kaum Einzelheiten bringen, aber die Menschen klebten an den Bildschirmen wie tatortsüchtige Fernsehjunkies. Ich habe das nicht getan. Ich habe das 1988 bei der Geiselnahme von Gladbeck getan und mir geschworen, nie wieder so zu reagieren. Mir reichen die Nachrichten auch noch einen Tag später als Zusammenfassung, wenn sich alles beruhigt hat. Zwar lese ich Twitter, aber ich muss nicht aktuell reagieren. Mir ist es wichtig, einen klaren Kopf zu behalten. Im Rausch trifft man falsche Entscheidungen und lässt sich blenden. Wenn der Rausch dann auch noch durch gute Verkaufszahlen oder die Angst vor dem Niedergang des eigenen Mediums forciert wird, drehen so manche Journalisten völlig ab und hauen eine Sensationsmeldung nach der Anderen heraus. Journalismus sollte neutral und auf der Suche nach der Wahrheit sein. Das war er natürlich nie zur Gänze, aber unser Blickwinkel dafür, was Aktualität ist, hat sich vollkommen verschoben. Ich kenne das auch: Eine Zeit lang war für mich nur aktuell, was sich vor wenigen Minuten oder Sekunden abgespielt hat. Nur wer der erste war, der eine sensationelle Meldung brachte, war ein guter Journalist. Wer am Besten die Möglichkeiten der neuen Medien wie Internet und Social Media ausnutzte, der hatte die Zeichen der Zeit verstanden. Mittlerweile sehe ich das ganz anders. Die ständige Überladung mit weltbewegenden Meldungen, die in Wahrheit praktisch keine verwertbaren und hilfreichen Informationen enthalten, macht uns blind für die schleichenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, denen wir uns erwehren müssten, wollten wir eine lebenswerte Gesellschaft erhalten. Journalismus ist gut, wenn er gut recherchiert informiert und analysiert, wenn er ein Meinungsspektrum darstellt, ohne dabei als Ganzes parteiisch zu werden. Journalismus ist Darstellung, Vermittlung und Erklärung der Wirklichkeit, aber er ist kein Instrument für Meinungsmache und Hetze. Zumindest sollte er das nicht sein. Er muss frei sein von politischer Beeinflussung, und er soll frei sein von Angst. Letzteres ist nicht immer möglich, weil wie schon gesagt das Verbrechen immer und überall besteht, aber die politische Beeinflussung sollte sich darauf beschränken, die Einhaltung der Spielregeln zu kontrollieren, die guten Journalismus erst möglich machen. Konkret heißt das, dass ein Sturmläuten der glocken gegen die islamische Gefahr und für mehr Sicherheitsanstrengungen den Journalismus zu Mittätern der Terroristen macht. Die wollen nämlich die Angst in die Herzen der Ungläubigen tragen, und wenn der Journalismus darauf anspringt, haben sie ihr Ziel erreicht. Es reicht schon, wenn die Politik das tut und daraus ihren eigenen Vorteil zieht.

Und dann ist da noch dieses Video von der Ermordung des Polizisten in Paris. Ich habe es nicht gesehen, ich werde es nicht sehen, ich werde es nicht verlinken. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, heißt es. Einige Zeitungen behaupten, es werde unsere Sicht auf den islamischen Terror für immer verändern, denn es zeige erstmals die brutale Hinrichtung eines Menschen in einer europäischen Großstadt durch islamische Fundamentalisten. Nun: Wenn man es gewollt hätte und damals ein Passant schneller gewesen wäre, hätte man ein solches Bild schon vor 10 Jahren bei der Ermordung des Regisseurs Theo van Gogh in Amsterdam haben können. Der Punkt ist: Dieses Bild an sich verändert nichts. Wie ich schon sagte gibt es den Terrorismus nun einmal, es hat schon in den siebzigern Terrorismus in Europa gegeben, ohne dass daran direkt Muslime beteiligt waren. Allerdings sprach man auch damals schon von einer Gefahr aus dem arabischen Raum, denn die Krisen von damals sind bis heute nicht gelöst, und Terrorismus gab es auch seinerzeit schon in Palästina und dem Libanon. Was dieses Bild, klug und propagandistisch eingesetzt, verändert, ist unsere Wahrnehmung. Es schürt Angst, macht uns unsicher, lässt uns nach schärferen Gesetzen, der Vorratsdatenspeicherung oder der Todesstrafe rufen, gibt dem Staat Gründe für eigene Repression. Es erklärt nichts, es vereinfacht. Es macht den Kopf nicht klar, es heizt die Wut an. Aber für Journalisten ist es eine Sensation, die Geld, Quoten und Ansehen bringt. Auf meiner Homepage würde ich dieses Bild jedenfalls nicht zeigen. Nicht aus Angst, denn ich wüsste mich ja in einer großen Gemeinschaft der Empörten. Ich würde es nicht zeigen aus ethischen Gründen, weil es keine wichtige Information enthält, weil es nur die niederen Instinkte anspricht und nicht den wachen Geist, weil es zwar die Wahrheit im Einzelfall zeigt, gleichzeitig aber ein allgemeines Problem oder eine fortschreitende Eskalation andeutet, die so nicht besteht. Journalismus hat viel mit Verantwortung zu tun. Deshalb sollten Journalisten eigentlich im Dienste der Allgemeinheit stehen, und nicht im Dienste irgendwelcher Privatunternehmen.

Auch Geiseln sind bei der Erstürmung der Verstecke der Attentäter umgekommen, heißt es jetzt, und ein Video von der Erstürmung wird angeboten. Ich werde es nicht sehen, ich brauche es nicht. Die Information, die weiteres Bedauern, weitere Trauer auslöst, wurde mir auch so gegeben. Wenn ich irgendwann einmal wissen wollen würde, wie ein solcher Einsatz vonstatten geht, dann würde ich die Polizei fragen, ob ich eine Übung beobachten dürfte. Diese gewalttätigen Tage in Frankreich zeigen, wenn man die Sensationsberichterstattung außer Acht lässt, dass wir ganz andere Probleme haben, die dringend gelöst werden müssen. Wie gehen wir miteinander um, innerhalb unserer westlichen Länder und als Staat mit den Staaten der islamischen Gemeinschaft? Wie können wir verhindern, dass wir, die Staaten des Westens, für die Muslime das “Haus des Krieges” sind, wie es die Dschihad-Doktrin verlangt. Wie finden wir gegenseitigen Respekt und gemeinsame Anstrengungen, Gewalt und Terror den Boden zu entziehen. Hier in Marburg hat der muslimische Verein Orientbrücke zu einer Mahnwache und Solidaritätskundgebung mit den Opfern in Paris aufgerufen, ganz selbstverständlich und so normal, wie andere gesellschaftliche Gruppen auch. Hoffentlich hat man dort nicht das Gefühl, sich rechtfertigen oder erklären zu müssen. Im Kern sind wir alle Menschen, und so sollten wir uns betrachten. An welchen Gott wir glauben, sollte dabei zweitrangig sein.

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