Was Du hoffentlich nie erleben wirst

Mein Schatz,

in vermutlich ein paar Jahren werde ich Dir meine Geschichte erzählen. Ich werde Dir erzählen, dass ich zwar in Deutschland geboren wurde. Aber nicht in dem Deutschland, in dem Du geboren wurdest.

Ich werde Dir erzählen, dass es dieses Deutschland – diesen Teil von Deutschland – nicht mehr gibt. Zum Glück. Das Land in dem ich das Licht der Welt erblickte nannte sich Deutsche Demokratische Republik. Und dieses Land wurde am 3. Oktober 1990 – 23 Jahre vor Deiner Geburt – Geschichte.

Geschichte, die ich erlebte. Direkt. Hautnah.

Ich war ein Kind von neun Jahren, als wir die DDR verließen. Deine Tante, Deine Großeltern und ich. Als wir gingen wussten wir nicht, dass es gerade mal noch vier Jahre dauern wird, bis die Mauer, die so vielen Menschen Leid brachte, an der hunderte Menschen erschossen wurden, aufgehen und sogar verschwinden wird. Für uns war diese Zugfahrt im Februar 1985 unumkehrbar. Für immer. Final. Und die Mauer, die uns fortan von unseren geliebten trennen würde war gebaut für die Ewigkeit.

Wir ließen Freunde zurück. Verwandte. Die Eltern von Oma und Opa – Deine Ur-Großeltern. Viele Menschen die wir liebten. Alles ließen wir zurück. Als wir gingen hatte wir sieben Koffer für uns vier. Das war alles, was wir noch besaßen, was wir mitnehmen durften.


Ich erinnere mich sehr gut an diese Nacht. Trotz das ich so jung war, hat sich vieles in meiner Erinnerung eingebrannt.

Wir mussten am Tag der Abreise früh schlafen gehen. Irgendwann wurden wir geweckt. Der Trabi wurde gepackt und wir wurden von Deinem Ur-Großonkel zum Bahnhof gefahren. Der Moment des Abschieds. Dann waren da zehn, zwölf, vielleicht zwanzig Leute, die mit uns auf dem Bahnhof standen und warteten. Um Mitternacht. Die nicht in den Zug einstiegen. Alle ganz sicher von der Stasi.

Wie wir einstiegen. Wie sich die Türen des Zugs schlossen und Deine Großeltern in Tränen ausbrachen.

Der Moment, als wir vielleicht eine Stunde später aus dem Dunkel der Nacht in pures Tageslicht fuhren. Die Grenze. Es war dank des Flutlichts so hell wie an einem Sonnentag im Sommer.

Das Gefühl der Angst als ich die Soldaten sah, die sich mit Maschinenpistolen bewaffnet vor unserem Zug postierten.

Das Gefühl der Angst, als der wirklich freundliche Grenzer unsere Ausreisepapiere kontrollierte. Begleitet von einem weiteren Soldaten mit Maschinenpistole. Es gab Unstimmigkeiten. Er musste mitten in der Nacht jemanden in der Verwaltung zuhause wach klingeln um diese zu klären.

Das alles dauerte eine Stunde, vielleicht auch zwei. Ich weiß es nicht mehr. Der Zug konnte deswegen nicht mehr weiter fahren.

Aber in der Zeit des Wartens standen vor unserem Abteil wieder zwei Soldaten. Mit Maschinenpistole über der Schulter. Und bewachten uns wie Verbrecher. Wir redeten nicht. Keiner sagte einen Ton. Wir Kinder waren von Deinen Großeltern vor der Fahrt instruiert worden, dass wir nach dem Einsteigen in den Zug nicht reden. Bis wir die Grenze passiert haben.

In dieser Nacht hatte ich Angst, wie ich sie nie zuvor und auch nie wieder danach in meinem Leben hatte. Angst vor der Grenze. Angst vor den Soldaten. Angst vor den Maschinenpistolen. Angst vor der Zukunft. Alles war ungewiss. In dem Moment an der Grenze sogar, ob wir sie passieren werden.


Ich hoffe so inständig, dass Du etwas vergleichbares nie erleben wirst. Dass Du deine Heimat nie verlassen musst ohne zu wissen, wie es weiter geht. Dass der Staat in dem Du lebst Dich nie so sehr verzweifeln lässt, Dir das Leben so unmöglich macht, Dich so drangsaliert, Dir so die Luft zum Atmen nehmen wird, dass Du bereit bist alles was Du hast stehen und liegen zu lassen. Zu gehen und nie wieder zu kommen.

Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass wir hier in Frieden und Wohlstand leben dürfen. Ohne Hunger, ohne Krieg, ohne Vertreibung. Wir sind privilegiert und wir sollten das nie vergessen.

Du sollst wissen, die Wende im November 1989 haben sich die Menschen der DDR erkämpft. Und als im Frühherbst 89 die große Protestwelle losging wusste keiner, ob nicht die Staatsführung der DDR oder gar die Sowjetunion wieder Panzer rollen lassen werden. Ob nicht Menschen wieder erschossen werden um den Status Quo ja nicht zu gefährden.

Wie im Juni 1953 in Berlin. Oder im August 1968 in Prag.

Sie gingen auf die Straße für ein besseres Leben. Ein Leben ohne Angst. Ohne Repressalien. Ohne Stasi. Ohne Redeverbote. Ohne SED. Für ein Leben in Freiheit.


Du wirst all das vermutlich nicht verstehen. Für Dich wird das so abstrakt sein, wie als Deine Urgroßmutter mir als Kind aus dem Krieg erzählte. Es war im wahrsten Sinne des Wortes unfassbar was sie erzählte. Ich konnte das nicht begreifen, nicht verstehen, nicht realisieren.

Heute, da ich ein erwachsener Mann bin, der selbst Vater ist, bekommen ihre Worte nicht nur mehr Gewicht. Sie bekommen ein Gesicht, eine Vorstellung, eine Ahnung dessen was sie an schlimmen Dingen erlebt haben muss.

Ich weiß noch immer nicht, wie es ist, im Krieg zu leben. Aber ich weiß soviel, dass ich das nie herausfinden möchte. Genausowenig wie ich zurück in die DDR möchte.


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