Chihiros Reise ins Zauberland von Hayao Miyazaki gilt als ein Meisterwerk des Animes. Das konventionelle Kino kann einiges davon lernen, wenn es um das Erzählen einer Geschichte geht und darum, wie man durch einen Film Kritik an Gesellschaft und Kultur üben kann.
Chihiros Reise ins Zauberland ist ein zauberhalftes Abenteuer, in dem Chihiro aus ihrem alltäglichen Leben in ein fantastisches Abenteuer geschmissen wird. Darin begegnet sie Geistern und Monstern in einem traditionellen japanischen Badehaus. Um ihre Eltern, die in Schweine verwandelt wurden, muss sie ihren Namen ablegen und im Badehaus arbeiten. Aber sie findet Freunde und Helfer und kann sich in dieser erstaunlichen Welt behaupten.
Chihiros Reise ins Zauberland — Eine Geschichte ohne Logik?
Die Besonderheiten von Chihiros Reise ins Zauberland (CRZ) beginnen bereits in der Erzählstruktur. Im klassischen Kino wird die Geschichte meist durch Ursache- und Wirkungsbeziehungen erzählt. Dem Zuschauer wird gezeigt, wie ein Ereignis zum anderen führt und welchen Einfluss der Hauptcharakter in dieser Ereignisreihe hat. Anders ist es jedoch bei Chihiros Reise ins Zauberland. Oftmals scheint der Film sich nicht an die Logik von Ursache und Wirkung zu halten. Sobald Chihiro in die Zauberwelt eintritt, scheinen wir eine Logik vorgeführt zu bekommen, die wir nicht mehr verstehen. Die Regeln scheinen teilweise sogar willkürlich zu sein. Warum können die Geister Chihiro nicht sehen, wenn sie die Luft anhält? Dafür bekommen wir keine Erklärung und das macht das fantastische der Geisterwelt aus. Außerdem bekommen wir eine Welt gezeigt, in der Chihiro nicht, wie im klassischen Kino üblich, alle Geschehnisse bestimmt. Das meiste was wir zu sehen bekommen, würde auch passieren, wenn Chihiro nicht anwesend wäre.
Dadurch, dass wir Ursache- und Wirkungsbeziehungen der Geisterwelt nicht verstehen, werden wir in die gleiche Lage wie Chihiro versetzt: Wir verstehen einfach nicht, was genau gerade in dieser wundersamen Zauberwelt passiert. Doch wie schafft es Miyazaki dann trotz dieser Strukturlosigkeit eine Geschichte zu erzählen? Er ersetzt die gewohnten Strukturen im Narrativ von Ursache und Wirkung durch räumliche und zeitliche Strukturen. In vielen Szenen wird uns klar gemacht, welche Tageszeit gerade anbricht und der Tag und Nacht Rhythmus spielt eine entscheidende Rolle für das Narrativ. Außerdem strukturiert der vertikale, in mehrere Etagen unterteilte Aufbau des Badehauses die Geschichte.
Dadurch werden Reiseabschnitte, die normalerweise im klassischen Kino herausgeschnitten werden, wenn sie keine Informationen enthalten, wichtig. All die Szenen in denen Chihiro durch die Korridore läuft oder mit dem Zug reist, tragen zur Struktur der Geschichte bei.
Kritik am post-modernen Japan — pure Nostalgie?
Architektur mit westlichen und japanischen EinflüssenAuch inhaltlich ist Chirios Reise ins Zauberland faszinierend komplex. Die Tendenzen in der japanischen Gesellschaft, die Miyazaki anspricht und kritisiert, sind offensichtlich: ein verschwindendes Verständnis für japanische Traditionen und Kultur, sowie das Verlangen nach sofortiger Befriedigung von unmittelbaren Bedürfnissen, anstatt das übernehmen von sozialer Verantwortung im kapitalistischen, post-modernen Japan. Allerdings ist der Film kein nostalgisches Plädoyer für die Rückkehr zu einem „ursprünglichen“ Japan, sondern eine Kritik an der Vorstellung was das typisch japanische Leben ausmacht selbst.
Miazaki wählte für das Setting des Badehauses die Meiji Peridode (1886 – 1912). In dieser Periode übernahm der Westen wesentlichen Einfluss auf Japan und reorganisierte die japanische Gesellschaft in ein kapitalistisches System. Während der Edo Periode (1603 – 1867) war Japan noch ein feudales Land, das von der autokratischen Klasse der Samurai regiert wurde. In dieser Zeit grenzte sich Japan von ausländischen Einflüssen ab. Als die Vereinigten Staaten Japan zu einer Öffnung der Märkte brachte, wurde die Meiji Periode eingeleitet, in der sich die traditionell japanische Kultur mit westlicher Architektur, Philosophie, Mode und Werten vermischte.
Das Badehaus repräsentiert diese Neuordnung und Vermischung. Während in den unteren Etagen vor allem ein noch fast feudales japanisches Leben stattfindet, ist die obere Etage vom westlichen Einfluss gezeichnet. Yubaba, die Chefin des Badehauses, ist die einzige, die westliche Kleidung trägt. Der gesamte Freizeitpark in dem sich das Badehaus befindet, weist die für die Meiji Periode Architektur auf, die traditionell japanische mit westlicher Architektur verbindet.
Identitätserlust und das „typisch“ Japnische
Bevor Chihiro und ihre Eltern den Park finden, laufen sie an alten Shinto Schreinen vorbei. Shinto ist die klassisch japanische Naturreligion. Diese Schreine wurden wahrscheinlich für den Bau des Freizeitparks einfach entsorgt und Chihiro weiß nicht einmal, was sie sind. Auch die Identitätskrise vieler Menschen werden immer wieder angesprochen. Yubaba nimmt Chihiro ihren Namen und reduziert sie auf einen Buchstaben. In der Meiji Periode durfte nur die herrschende Klasse ihren Familiennamen benutzen. Der Inbegriff dieser Identitätskrise im postmodernen Kapitalismus ist das Ohngesicht. Die Maske die das Ohngesicht trägt, verdeckt nicht das Gesicht, sondern ist nur eine symbolische Maske, die er vor sich her trägt. Er isst die Menschen die nach dem Gold, was er ihnen anbietet, gieren und wird dadurch selbst immer gieriger. Und doch sucht er eine echte Beziehung zu Chihiro, die sich nicht einfach nur in Materialität erschöpft. Dies kann er jedoch nur dadurch erreichen, dass er das Badehaus verlässt und zu Yubabas Zwillingsschwester geht.
Das Verhältnis von Yubaba und Bo, ihrem Sohn, deutet auf das veränderte Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern hin. Die Geburtenrate in Japan ist gesunken und viele Eltern stecken all ihr Geld in das einzige Kind. All diese Aspekte spielen in die Kritik, die Myazaki an die Gesellschaft richtet. Die oben angesprochene Nostalgie für ein „ursprüngliches“ Japan umgeht Myazakhi dadurch, dass er ein anderes Verständnis davon liefert, was typisch japanisch ist.
Mehr als nur Nostalgie
Hayao MiyazakiLange galt es als Mehrheitsmeinung, dass Japan eine Sonderstellung im asiatischen Raum einnimmt. Der Einfluss der anderen asiatischen Völker sei gering und daher konnte sich eine ganz eigene japanische Kultur entwickeln. Miyazaki ist allem, was sich als „typisch japanisch“ ausgibt — Samurais, Zen Architektur, etc. — gegenüber skeptisch. Für ihn ist das „typisch japanische“, dass die japanische Kultur schon immer externe Einflüsse — egal aus anderen Bereichen oder aus dem Westen — in sich aufgenommen und verarbeitet hat. Es ist ein kulturelles Unterbewusstsein, das nicht vergisst, aber auch nicht statisch ist. Es ist vielmehr dynamisch und entwickelt sich. Dies wird vor allem in der Architektur der Meiji Periode deutlich, die traditionell japanische mit westlicher Architektur verbindet und die Miyazaki besonders bewundert.
Miyazakis Meisterwerk ist also nicht einfach pure Nostalgie. Er erschafft einen Film, der Kindern eine fabelhafte Geschichte liefert und gleichzeitig eine differenzierte und kluge Kritik der japanischen Gesellschaft darstellt.
Was haltet ihr von Chihiros Reise ins Zauberland? Lasst es uns in den Kommentaren wissen!