Was bedeutet gewaltlose humanitäre Intervention?

Zur Notwendigkeit gewalt­lo­ser huma­ni­tä­rer Interventionen in Iran ange­sichts insti­tu­tio­na­li­sier­ter Verletzung der Menschenrechte

“Die Statthalterschaft des Faghih (Rechtsgelehrten, D.G.) ist eine rela­tive Angelegenheit, sie wird durch Ernennung über­tra­gen, ein Akt, der ver­gleich­bar ist mit der Ernennung eines Vormundes für Minderjährige. Vom Standpunkt der Aufgabe und der Stellung besteht kein Unterschied zwi­schen dem Vormund der Nation und einem Vormund für Minderjährige” (Khomeini)1

von Dawud Gholamasad

Dawud Gholamasad

Dawud Gholamasad

I. Zu illu­sio­nä­ren Erwartungen, die Rohanis Wahlversprechen erweckt haben

Zu die­sen uner­füll­ba­ren Wahlversprechen gehö­ren u. a. die ver­spro­chene Über­win­dung der Frauen- und kon­fes­sio­nel­len Diskriminierungen, die zuwei­len mit eth­ni­schen Diskriminierungen ein­her­ge­hen. Eine Institutionalisierung der Freiheit und Gleichheit im Sinne der zuneh­men­den Erweiterung der Entscheidungs- und Handlungsspielräume der Menschen als Einzelne und unab­hän­gig von ihren Gruppenzugehörigkeiten ist im Rahmen der „Islamische Republik“ ein unmög­li­ches Unterfangen. Dies hat nicht nur die bis­he­rige Erfahrung der Menschen seit der Konstitution die­ser „Republik“ bewie­sen. Das die­ser Staatsform zugrunde lie­gende Menschenbild als ewig unmün­dige Menschen wider­spricht der indi­vi­du­el­len Freiheit, Gleichheit und dem Ethos der Menschenrechte. Als ewig unmün­dige Menschen haben Menschen dem­nach keine Rechte son­dern nur reli­giöse Pflichten. Dies drückt sich nicht nur in den ver­fas­sungs­mä­ßi­gen Einschränkungen aller in der Verfassung ver­an­ker­ten bür­ger­li­chen Rechte und Menschenrechte durch die Scharia aus, son­dern auch in der Islamisierung der Menschenrechte, die anstatt den Islam zu huma­ni­sie­ren die Menschenrechte archai­siert, indem sie die voris­la­mi­schen archai­schen Verhaltens- und Erlebensmuster der ara­bi­schen Stämme zu „Gottes Gesetz“ erklärt und diese Scharia als ein­zi­gen Bezugsrahmen aller Menschenrechte zugrunde legt.2

II. Zu illu­sio­nä­ren Erwartungen, die Rohanis Wahlversprechen erweckt haben

Die Einschränkung die­ser Rechte durch die Scharia bedeu­tet vor allem die insti­tu­tio­na­li­sierte Diskriminierung der Frauen und der nicht „gläu­bi­gen Muslime“ in allen Lebensbereichen. Nur der „gläu­bige Muslim“ gilt in der Verfassung der „Islamischen Republik“ und in den „Islamischen Menschenrechten“ als voll­wer­ti­ger Mensch. In der Alltagspraxis der „Islamischen Republik“, gehö­ren aber nur die­je­ni­gen Muslime in die­sen exklu­si­ven Kreis der Privilegierten, die als Zwölfer Schiiten ihre „prak­ti­sche Loyalität gegen­über der beste­hen­den Ordnung bewie­sen haben“. („eltezam-e amali be nezam“). Diese kon­fes­sio­nell nar­ziss­tisch ein­ge­schränkte Reichweite der Identifizierung der sich grup­pen­cha­ris­ma­tisch erfah­re­nen „gläu­bi­gen Muslime“ mit Menschen, prä­des­ti­niert die Destruktivität die­ses Rechtssystems, wie sie sich in der uner­träg­li­chen dis­kri­mi­nie­ren­den und gewalt­tä­ti­gen Alltagspraxis der Etablierten in der „Islamischen Republik“ mani­fes­tiert.

Hinzu kom­men die straf­recht­li­chen Folgen der prak­ti­schen Rechtsprechung im Namen der Scharia wie sie sich vor allem in der mar­tia­li­schen straf­recht­li­chen Gesetzgebung und Praxis der „Islamischen Republik“ in erschre­cken­der Weise zeigt.

Das „isla­mi­sche Strafrecht“ ist eine Rechtsfigur, die seit 2112 v. Chr. als Talion bekannt ist, nach der zwi­schen dem Schaden, der einem Opfer zuge­fügt wurde, und dem Schaden, der dem Täter zuge­fügt wer­den soll, ein Gleichgewicht ange­strebt wird. Der nicht nur bib­li­sche Ausdruck „Auge um Auge“ ist ein Spezialfall davon, in dem die­ses Gleichgewicht nach einer Körperverletzung durch Zufügen eines gleich­ar­ti­gen Schadens her­ge­stellt wer­den soll.

Davon ist die „Spiegelstrafe“ zu unter­schei­den, die neben der Gleichartigkeit des Schadens, den der Täter erlei­det, auch eine Anknüpfung an Organe, mit denen die Tat began­gen wurde, vor­ge­nom­men wird, z. B. das Abhauen der Diebeshand.

Die Talion ist ein Unterfall der „Vergeltung“, die auch sol­che Schädigungen eines Täters umfasst, die über die Talion hin­aus­ge­hen. Und ist zum Vergleich der Privatstrafe, also, wo die Bestrafung des Täters dem Opfer zuge­spro­chen wurde, vom Schadensersatz kaum zu unter­schei­den. Allerdings ist die­ser Schadensersatzanspruch in der „isla­mi­schen Republik“ dis­kri­mi­nie­rend und gilt nicht für alle Menschen glei­cher­ma­ßen.

Er gilt nur für „die gläu­bi­gen männ­li­chen Muslime“, nicht aber für mus­li­mi­sche Frauen und Kinder sowie Nichtmuslime. Diese Diskriminierung mani­fes­tiert sich z.B. in der Verhängung der „Todesstrafe wegen vor­sätz­li­chem Mordes“ in der „Islamischen Republik“. In dem gegen­wär­tig gel­ten­den Strafrecht sind Menschen und ihr Leben nicht gleich­wer­tig. Ihr Wert vari­iert je nach ihrem Geschlecht, sowie deren reli­giö­ser, kon­fes­sio­nel­ler, poli­ti­scher Einstellungen und Verwandtschaftsbeziehungen.

Abgesehen von der Straffreiheit der Mörder der Menschen, die als poten­ti­elle Gefahr für die beste­hende Ordnung kein Lebensrecht haben und des­we­gen Opfer des Staatsterrors im In- und Ausland wer­den, ver­dient nicht jeder nor­male Mörder die Todesstrafe glei­cher­ma­ßen. Weil nach dem gel­ten­den Strafrecht nicht jeder Mensch glei­ches Recht auf Leben hat. So darf ein mus­li­mi­scher Mörder eines Menschen, der nicht Muslim ist, nicht zum Tode ver­ur­teilt wer­den. So darf ein Mann mus­li­mi­schen Glaubens seine mus­li­mi­sche Frau ermor­den, ohne des­we­gen hin­ge­rich­tet zu wer­den. Hingerichtet wer­den kann er nur, wenn die Familienangehörigen des Opfers die Hälfte des „Blutwertes“ eines mus­li­mi­schen Mannes dem Mörder oder sei­ner Familienangehörige nicht als Kompensation bezahlt.3

Nach dem § 220 des gel­ten­den Strafrechtes dür­fen sogar die Väter und Großväter der Kinder, die sie vor­sätz­lich getö­tet haben, nicht zum Tode ver­ur­teilt wer­den, weil sie nach dem Gesetz ihre Eigentümer sind. Sie wer­den höchs­tens zur Zahlung ihres „Blutwertes“ ver­ur­teil. Nach § 630 des Strafrechtes darf ein Ehemann, der seine Frau mit ihrem Liebhaber in Flagranti ertappt, sie und ihren Liebhaber straf­frei ermor­den. Selbst ein Ehemann, der seine Ehefrau unter dem Verdacht des Ehebruches vor­sätz­lich ermor­det, darf nicht zum Tode ver­ur­teilt wer­den. Er steht unter dem Schutz des Gesetzes.

Nach § 226 und dem Zusatz zum § 295 des „isla­mi­schen Strafrechtes“, darf ein „gläu­bi­ger Muslim“ „zum Schutz der isla­mi­schen Werte“ straf­frei jeden ermor­den, der sei­ner Meinung nach geläs­tert hat. Er hat laut Gesetz seine „reli­giöse Pflicht“ erfüllt. Nach den zuletzt genann­ten §§ gibt es „Menschen, die kein Lebensrecht genie­ßen“, sie sind „Mahdur’aldam“, die straf­frei ermor­det wer­den kön­nen. Dazu gehö­ren nach der bis­he­ri­gen Praxis u.a. die Bahais, die mis­sio­nie­ren­den Christen und die kon­ver­tier­ten Muslime, sowie die für die beste­hende Ordnung poten­ti­ell als gefähr­lich ein­ge­schätz­ten Menschen wie die ermor­de­ten 10.787 nament­lich bekann­ten poli­ti­schen Gefangenen4, die 1988 in den ira­ni­schen Gefängnissen ihre ver­häng­ten Strafen absa­ßen und die als „Kettenmorde“ bekann­ten, 1988-1989 „seri­ell ermor­de­ten Intellektuellen“ im Iran sowie die seit der Etablierung der „Islamischen Republik“ im Ausland ermor­de­ten Oppositionellen.

Nach dem gel­ten­den „isla­mi­schen Strafrecht“ gibt es sogar Hinrichtungen, die mit Folter beglei­tet wer­den, so müs­sen nach §§ 83 und 99 die zum Ehebruch ver­ur­teil­ten Männer und Frauen gestei­nigt wer­den. Nach § 101 die­ses Gesetzes sind die „gläu­bi­gen Muslime“ sogar ver­pflich­tet an die­ser bar­ba­ri­schen Hinrichtung teil­zu­neh­men.

Trotz die­ser bar­ba­ri­schen Rechtspraxis, die am 21. Dezember 2010 durch die UNO-Vollversammlung ver­ur­teilt wurde, betonte Djavad Laridjani – der „Sekretär des Menschenrechtsstabes des Justizministeriums – in der letz­ten Menschenrechtskommissionssitzung der UNO am 18.11.20105, sei­nen kon­fes­sio­nelle grup­pen­cha­ris­ma­ti­schen Narzissmus durch die Hervorhebung der „Islamischen Menschenrechte“ und die Rechtsprechung in der „isla­mi­schen Republik“ als eigene Werte der Muslime, wor­auf sie stolz seien6.

Diese Fixierung des Establishment der „Islamischen Republik“ an die als ewig und unver­än­der­bar defi­nierte archai­sche soziale Praxis der voris­la­mi­schen Araber als Scharia, die jedes posi­tive Recht so auch „die Islamischen Menschenrechte“ ein­schränkt, mani­fes­tiert zudem die nekro­phile Orientierung ihrer Urheber, neben ihrer bös­ar­ti­gen nar­ziss­ti­schen Orientierung. Diese nar­ziss­ti­sche Selbstwertbeziehung der „Kairoer Erklärung der Islamischen Menschenrechte“, wie sie gleich in der Präambel her­vor­ge­ho­ben wird, unter­streicht daher ihren Ursprung im Islam als der „wah­ren Religion“ und der Lebensart der isla­mi­schen Gemeinschaft (Umma) die als beste aller mensch­li­chen Gesellschaften beschrie­ben wird7.

Im Gegensatz zu demo­kra­ti­schen Verfassungen steht hier nicht das „Individuum“ im Vordergrund, son­dern die Gemeinschaft der Gläubigen (Umma) als Kollektiv. Damit neigt hier die Balance zwi­schen Individuum und Gesellschaft zuguns­ten der letz­te­ren im Sinne einer kol­lek­tiv gepräg­ten Identität der Menschen als Manifestation der Triade ihres Verfallssyndroms: der sym­bio­ti­schen Fixierung an einer Gemeinschaft der gläu­bi­gen Muslime, ihrer kon­fes­sio­nel­len nar­ziss­ti­schen Orientierung, die die isla­mi­sche Umma als beste aller mensch­li­chen Gesellschaften beschreibt und nekro­phi­lisch der Scharia als Bezugsrahmen aller Entscheidungs- und Handlungsspielräume abso­lute Priorität ein­räumt.

Sie ist destruk­tiv, weil sie unter dem Schutz der isla­mi­schen Scharia, die Praktiken, bei­spiels­weise der Körperstrafen, legi­ti­miert, wel­che die Integrität und Würde des mensch­li­chen Wesens angrei­fen. Bei fast jedem Verweis auf die ver­fas­sungs­mä­ßig garan­tier­ten bür­ger­li­chen Rechte und Freiheiten sowie die Menschenrechte machen die Verfassung der „Islamischen Republik“ und „die Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ die Einschränkung, dass diese Rechte im Einklang mit der Scharia aus­ge­übt wer­den müss­ten. Artikel 22 die­ser Erklärung z. B. beschränkt die Redefreiheit auf die­je­ni­gen Meinungsäußerungen, die dem isla­mi­schen Recht nicht wider­spre­chen8. Auch das Recht zur Ausübung öffent­li­cher Ämter könne nur in Über­ein­stim­mung mit der Scharia wahr­ge­nom­men wer­den, wes­we­gen die nicht schii­ti­schen Muslime sowie Nichtmuslime und Frauen in der „Islamischen Republik“ sys­te­ma­tisch dis­kri­mi­niert wer­den.

Angesichts die­ser insti­tu­tio­na­li­sier­ten Menschenrechtsverletzungen sind gewalt­lose huma­ni­täre Interventionen eine unab­ding­bare Notwendigkeit, soll­ten die dekla­rier­ten Menschenrechte nicht nur auf dem Papier ste­hen. Doch bevor die mög­li­chen Formen der gewalt­lo­sen huma­ni­tä­ren Intervention dis­ku­tiert wer­den, müs­sen die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Entwicklungsprozesse iden­ti­fi­ziert wer­den, die dadurch unter­stützt wer­den sol­len, die sich aus die­ser insti­tu­tio­na­li­sier­ten Verletzung der Menschenrechte erge­ben. Die Einsicht in der Sozio- und Psychogenese die­ser sys­tem­im­ma­nen­ten Menschenrechtsverletzungen macht daher die Notwendigkeit der gewalt­lo­sen huma­ni­tä­ren Intervention nach­voll­zieh­ba­rer.

Zur Sozio- und Psychogenese der insti­tu­tio­na­li­sier­ten Verletzungen der Menschenrechte im Iran

Die zivil­ge­sell­schaft­li­chen Entwicklungsprozesse im Iran mani­fes­tie­ren sich gegen­wär­tig in einer viel­schich­ti­gen sozia­len Bewegung, die Produkt der sie­ben Hauptspannungsachsen der Gesellschaft sind. Sie erge­ben sich aus:

  • Konflikten zwi­schen Regierenden und der zuneh­mend recht- und selbst­be­wusst gewor­de­nen Regierten,
  • Konflikten zwi­schen Eigentümern der Produktions- und Konsummittel und abhän­gig Beschäftigen,
  • Geschlechterkonflikten,
  • Generationenkonflikten,
  • Ethnischen und kon­fes­sio­nel­len Konflikten
  • Konflikten zwi­schen moder­nen Wissenschaften und dog­ma­ti­schem Gehalt der Religion als kon­kur­rie­rende Orientierungsmittel und ihre Träger.
  • Außenpolitischen Konflikten, die zu mas­si­ven inter­na­tio­na­len öko­no­mi­schen Sanktionen geführt haben und mitt­ler­weile das Regime exis­ten­ti­ell bedro­hen.

Diese viel­schich­ti­gen sozia­len Bewegungen, die sich aus die­sen Konflikten erge­ben, sind ein Nachholeffekt des sozia­len Habitus der zuneh­mend recht­be­wuss­ten und mün­di­gen Bürger, die ihre Bürger- und Menschenrechte erkämp­fen.

Erst durch rea­lis­ti­sche Lösungsstrategien für diese Hauptkonflikte im Rahmen der Menschenrechte hat die zivil­ge­sell­schaft­li­che Entwicklung eine Zukunftschance – diese Entwicklung darf kei­nes­wegs deter­mi­nis­tisch begrif­fen wer­den.

Eine gewalt­lose huma­ni­täre Intervention rich­tet sich auf die Unterstützung der gewalt­lo­sen Austragung die­ser sozia­len und poli­ti­schen Konflikte, ohne ihre Zielrichtungen bestim­men zu wol­len. Die Respektierung der Autonomie die­ser sozia­len und poli­ti­schen Bewegungen ist die unab­ding­bare Voraussetzung jeder huma­ni­tä­ren Intervention.

Besondere Bedeutung bekommt vor allem die Unterstützung der gewalt­lo­sen Austragung der Konflikte zwi­schen Regierenden und der zuneh­mend recht- und selbst­be­wusst gewor­de­nen Regierten als all­ge­meine poli­ti­scher Rahmenbedingung der wei­te­ren grup­pen­spe­zi­fi­schen Konflikte in der „Islamischen Republik“ im Sinne der insti­tu­tio­nel­len Demokratisierung Irans.

Denn die „isla­mi­sche Republik“ ist Folge der „Islamisierung“ einer Revolution, die als Funktion einer wachs­tums­ori­en­tier­ten Modernisierung eine funk­tio­nelle Demokratisierung der Gesellschaft Vorschubleistete und zugleich die insti­tu­tio­nelle Demokratisierung der Gesellschaft und des sozia­len Habitus der invol­vier­ten Menschen unter­band. Die Islamisierung der Revolution ist daher ein Nachhinkeffekt des sozia­len Habitus der sie tra­gen­den Menschen. Sie mani­fes­tierte sich in ihrem auto­ri­tä­ren Charakter, der die cha­ris­ma­ti­sche Führungsfunktion Khomeinis her­vor­brachte.

Bei die­ser „Islamisierung“ der sich ent­wi­ckeln­den Staatsgesellschaft domi­nierte vor allem die Durchsetzung des dog­ma­ti­schen Gehaltes einer Zwölfer schii­ti­schen Lesart des Islams, die gegen­wär­tig durch Extremkonservativen „Usulgerajan“ („Prinzipienorientierte“) reprä­sen­tiert wird, wäh­rend mit der Unterdrückung der libe­ra­len Islamisten der ethi­sche Gehalt der Religion zuneh­mend in Vergessenheit geriet. Diese Vernachlässigung des ethi­schen Gehaltes des Islam ergab sich aus der von Khomeini gefor­der­ten Systemerhaltung um jeden Preis, die zu einer Glorifizierung einer beson­de­ren Lesart der ver­stei­ner­ten Dogmen führte. Denn für Khomeini hatte die Systemerhaltung im Sinne der machia­vel­lis­ti­sche Sicherung der „Schriftgelehrten Herrschaft“ abso­lute Priorität („odjeb-e vad­je­bat“), wofür sogar die Primärgebote des Islams zeit­weise sus­pen­diert wer­den dürf­ten.

Was Khomeini aber unter „Islamische Republik“ ver­stand, hatte er bereits in den sech­zi­ger Jahren in sei­nem Exil in Irak in sei­nem Buch über den „Islamischen Staat“ (Velajat-e Faghih), die „Schriftgelehrten Herrschaft“9 dar­ge­stellt. Damit hat er die Notwendigkeit der Durchsetzung eines sozia­len Glaubenssystems begrün­det, in dem die Theokratie der Dreh- und Angelpunkt ist.

Wie in jedem sozia­len Glaubenssystem steht im Zentrum des Khomeinismus die Frage, in wel­cher Weise Menschen ihr eige­nes gesell­schaft­li­ches Leben mit­ein­an­der ord­nen sol­len. Für ihn ist die nor­ma­tive Struktur der Gesellschaft durch die Scharia vor­ge­ge­ben, denn Koran und Über­lie­fe­run­gen lie­fern das ewig gül­tige nor­ma­tive Regelwerk für die Gesellschaft der Menschen von ihrem Geburt bis zu ihrem Tod. Sie seien nicht nur gül­tig für kurze Zeit der Herrschaft Muhammads und der ihm fol­gen­den 12 Imame gewe­sen, son­dern ewig.

Somit wer­den die nor­ma­ti­ven Strukturen einer archai­schen Gesellschaft der ara­bi­schen Stämme vor 14 Jahrhunderten zu ewi­gen gött­li­chen Gesetzen erklärt, deren situa­ti­ons­ge­rechte Interpretation nur dem „Schriftgelehrten“ zusteht. Ohne die ethi­schen Grundlagen die­ses über­lie­fer­ten archai­schen Regelwerks als Regulationsprinzip sozia­ler Beziehungen und Konflikte führt ihre for­melle Exekution zu jener Vergewaltigung der sich moder­ni­sie­ren­den Beziehungen, die die auf­ge­zähl­ten Hauptspannungsachsen her­vor­brin­gen und zuneh­mend ver­schär­fen.

Diese nor­ma­tive Regression wird mit der immer noch dau­ern­den Verborgenheit des 12. Imam, Mahdi ratio­na­li­siert: Da der 12. Imam ent­rückt sei, sind die „Schriftgelehrten“ zur Durchsetzung die­ser nor­ma­ti­ven Strukturen ver­pflich­tet, um Chaos zu ver­hin­dern; denn es kann ja sein, dass der ent­rückte Mahdi noch einige Jahrtausende ver­bor­gen bleibe. Ausgangspunkt sei­ner Begründung der Notwendigkeit der „Schriftgelehrten Herrschaft“ ist aber ein Menschen ver­ach­ten­des Menschenbild als ewig Unmündigen, die einen Vormund brau­chen10. Als Unmündige haben Menschen daher keine Rechte son­dern nur Gehorsamspflichten gegen­über Gottes Stellvertreter auf Erden, dem Rechtsgelehrten. Als „Gottes Untertanen“ wer­den die Menschen in der „Islamischen Republik“ zu „Untertanen der Stellvertreter Gottes“, also der Geistlichkeit, degra­diert.

Die soziale Basis die­ser nekro­phi­len Herrschaftsform besteht aus jenen sozia­len Gruppen, die durch die „Modernisierung“ der Staatsgesellschaft sozial abge­stie­gen waren, vor allem:

  • Die durch die Landreform sozial abge­stie­ge­nen ehe­ma­li­gen Großgrundbesitzer,
  • Das durch die Industrialisierung sozial abge­stie­gene zer­setzte tra­di­tio­nelle Kleinbürgertum, die klei­nen Gewerbetreiber und tra­di­tio­nelle Großhändler (Bazar), die sich in reli­giö­sen Netzwerken seit Jahrzehnten zusam­men geschlos­sen hat­ten und sym­bio­tisch mit der Geistlichkeit ver­bun­den,
  • Die durch die Säkularisierung der Bildung und des Justiz zuneh­mend ent­funk­tio­na­li­sierte Geistlichkeit,
  • Die durch die „Verwestlichung“ über­for­der­ten kon­ser­va­ti­ven Männer und Frauen, die mit ihrer Neigung zur Uniformierung der Gesellschaft und ihrer Forderung nach „Einhaltung der isla­mi­schen Äuße­res“ („hefz-e zavaher-e eslami“) Träger einer Art „Tugendterror“ wur­den,
  • Jene Menschen, die die Familienrechtsreform und Frauenwahlrecht sowie die Gleichberechtigung aller Konfessionen als eine uner­träg­li­che Macht- und Statusverlust erleb­ten,
  • Die ent­wur­zel­ten Massenindividuen, die seit der „Landreform“ in den sech­zi­ger Jahren in die Städte wan­der­ten und statt sich zu urba­ni­sie­ren zur kul­tu­rel­len Verbäuerlichung der Städte bei­tru­gen.

Ihre gemein­same Identifikation mit­ein­an­der über ihren cha­ris­ma­ti­schen Führer, Khomeini, kon­sti­tu­ierte die Massenbasis des Khomeinismus in Gestalt der sozia­len Bewegung der „isla­mi­schen Gemeinschaft“, mit ihrer inzes­tuö­sen Symbiose mit Khomeini, als Quelle ihrer nar­ziss­ti­schen Befriedigung. Diese Identifikation mit dem Aggressor unter­mau­ert eine „Radfahrermentalität“ und führt zu einer patho­lo­gi­schen Form von Intoleranz, die als „kul­tur­schüt­zen­des Verhalten“ gefor­dert wird und in einem Hegemonialrausch das nach­re­vo­lu­tio­näre Alltagsleben geprägt hat. Diese Form der Identifikation mani­fes­tiert sich in der all­täg­li­chen Betreuung ihrer Unterwerfung gegen­über dem mäch­ti­gen „Führer“ und gleich­zei­ti­gem Zertreten der Machtschwächeren als Kompensation des Zugeständnisses der eige­nen Wertlosigkeit.

Die Akzeptanz die­ses Bildes eines unmün­di­gen Menschen impli­ziert das Eingeständnis des Fehlens eines rela­tiv auto­no­men Gewissens, das die mora­li­schen Funktionen der Persönlichkeit umfas­sen würde. Für die Verhaltenssteuerung die­ser schein­bar mehr oder weni­ger urteils- und ent­schei­dungs­un­fä­hi­gen Menschen kann dem­nach weni­ger ihr Gewissen aus­schlag­ge­bend sein, als viel­mehr ihre Orientierung an einem “leben­den Vorbild”, das allein über gött­li­che Orientierungs- und Kontrollmittel ver­fü­gen kann. Nur die Nachahmung die­ses Vormundes macht eine gott­ge­fäl­lige Anpassung an die gesell­schaft­li­chen Verhältnisse und die Beherrschung der all­täg­li­chen Kontrollsituationen erst mög­lich. Die Garantie des mora­li­schen Verhaltens ist also gebun­den an ein exter­nes Orientierungswissen, über das nur bestimmte aus­er­wählte Menschen ver­fü­gen kön­nen. Bei die­sem Mangel eines indi­vi­du­el­len Rechts- und Moralsubjektes gilt der „Führer“ als gesell­schaft­li­che Zentralinstanz, an der sich die Menschen zu ori­en­tie­ren haben. In solch einer Gesellschaft ist die Schriftgelehrtenherrschaft die Herrschaft eines gött­lich bestimm­ten Vormundes, der Hüter von Ordnung und Gesetz des Islam ist. Diese Herrschaft wäre als sol­che ewig11, weil die Menschen immer unvoll­kom­men sind und der Vollkommenheit bedür­fen12. Sie ist inso­fern eine „ewig“ äußer­lich not­wen­dige Durchsetzungsform der Gesetze in Gestalt des Normbewusstseins, weil sich diese Moral mehr als ethi­sches Wissen der Rechtsgelehrten als “Vorbilder” eta­bliert denn als Gewissensmoral der Gläubigen: “Da die isla­mi­sche Regierung die Regierung des Gesetzes ist, müs­sen Kenner der Gesetze und vor allem die Theologen die Führung des Staates über­neh­men”13; in die­sem Sinne “ver­kör­pern die Rechtsgelehrten das Gesetz” und “das Volk und die Muslime sind im Rahmen der reli­giö­sen Vorschriften frei, d.h., wenn sie sich an die Vorschriften des Islams hal­ten, darf sie nie­mand beläs­ti­gen.”14 (her­vor­ge­ho­ben von mir – D.G.).

Hiermit wird die Gleichheit und indi­vi­du­elle Freiheit im Sinne eines indi­vi­du­el­len Entscheidungs- und Handlungsspielraums aus­drück­lich durch die als gött­lich defi­nier­ten Gesetze ein­ge­schränkt. Die Akzeptanz die­ser Einschränkung setzt aber eine Verschiebung der Balance zwi­schen Rechts- und Pflichtbewusstsein eines Gläubigen zuguns­ten des Pflichtbewusstseins eines auto­ri­tä­ren Menschen vor­aus, der im Extremfall kei­nen indi­vi­du­el­len Rechtsanspruch kennt. Er kennt nur seine reli­giös sank­tio­nier­ten Pflichten, deren Verletzung er als Sünde fürch­tet. Es ist die­ser spe­zi­fi­sche Aspekt des sozia­len Habitus der Mehrheit der isla­misch gepräg­ten Menschen, die eine Re-Islamisierung der Gesellschaft im Sinne einer insti­tu­tio­nel­len Ent-Demokratisierung ermög­li­chen kann und ermög­licht hat. Sie ist ein Nachhinkeffekt des sozia­len Habitus der die Revolution tra­gen­den Menschen, bei denen der Wandel der Persönlichkeitsstruktur dem funk­tio­nel­len Strukturwandel der Gesellschaft und damit ein­her­ge­hen­den funk­tio­nel­len Demokratisierung – im Sinne der Verschiebung der Machtbalance zuguns­ten der Machtschwächeren – hin­ter­her hinkt.

Damit erweist sich die „Islamische Republik“ als ein Nachhinkeffekt des sozia­len Habitus jener Iraner, die sich ent­we­der noch nicht gefun­den oder wie­der ver­lo­ren haben und sich mehr oder weni­ger als unmün­dige Untertanen ihrem Führer unter­wer­fen und in Ihrem Hegemonialrausch eine sek­tie­re­ri­sche Intoleranz kul­ti­vie­ren.

Unmittelbar nach der Revolution, vor allem nach dem Iran-Irak-Krieg setzte aber ein all­mäh­li­cher Wandel im Verhalten und Erleben einer zuneh­men­den Zahl der Menschen ein, der als prak­ti­sche Kritik der Islamisierung der Revolution und der nach­re­vo­lu­tio­nä­ren Staatsgesellschaft zu ver­ste­hen ist. Diese Kritik ist zurück­zu­füh­ren auf die all­ge­meine Erfahrung einer Islamisierung, deren Sinn und Bedeutung für die Mehrheit der Bevölkerung in ihrer suk­zes­si­ven Enteignung und Abwertung bzw. Erniedrigung15 bestand. Sie ist zugleich beglei­tet gewe­sen durch prak­ti­sche all­täg­li­che Versuche der Wiederaneignung der inzwi­schen durch eine immer klei­ner wer­dende Kerngruppe der Herrschaft mono­po­li­sier­ten Macht- und Statusquellen.

Die blu­tig nie­der­ge­schla­gene „Grüne Bewegung“, eine der Höhepunkte die­ser zivil­ge­sell­schaft­li­chen Entwicklungsprozesse, ist daher der Nachholeffekt des sozia­len Habitus der zuneh­mend recht­be­wuss­ten und mün­di­gen Bürger, die ihre Bürger- und Menschenrechte erkämp­fen. Die Transformation der gemein­sa­men gesell­schaft­li­chen Ausprägung ihres indi­vi­du­el­len Verhaltens, ihrer Sprache und Denkweise, ihrer Gefühlslage und vor allem ihrer Gewissens- und Idealbildung – kurz: des Grundschemas ihrer Persönlichkeitsstruktur holte die rela­tiv rascher vor­aus­ei­lende soziale Differenzierung nach.

Daher ist die „Grüne Bewegung“ zugleich eine erneute Manifestation der chro­ni­schen insti­tu­tio­nel­len Krise der „Islamischen Republik“. Diese insti­tu­tio­nelle Krise ist Funktion des Antagonismus zwi­schen der repu­bli­ka­ni­schen Komponente der Verfassung und der in ihr ver­brief­ten „abso­lu­ten Schriftgelehrten Herrschaft“. Dieser Antagonismus ist nur auf­heb­bar ent­we­der durch die Suspendierung ihrer repu­bli­ka­ni­schen Komponente, so wie die eta­blier­ten Kerngruppen der Macht seit Jahrzehnten ver­su­chen oder durch die Aufhebung der Schriftgelehrten Herrschaft.

Präsidentschaftswahlen und ihre natio­nale und inter­na­tio­nale Folge

Nur durch die Aufhebung die­ser Quadratur des Kreises ist die chro­ni­sche insti­tu­tio­nelle bzw. Staatskrise lös­bar. In die­sem Zusammenhang kann man ange­sichts der beste­hen­den insti­tu­tio­nel­len und rea­len Machtbalance die Bedeutung der 11. Präsidentschaftswahlen im Iran ein­schät­zen. Zuvor aber möchte ich die Funktion der Wahlen für die invol­vier­ten Menschen und Gruppen sowie deren Folgen kurz dis­ku­tie­ren.

Zur Funktion der Wahlen für das Regime:

  1. Angesichts der mani­pu­la­ti­ven Prozeduren vor, wäh­rend und nach den vor­ge­täusch­ten „freien Wahlen“ kann keine Rede sein von einer freien und fai­ren Wahl eines sou­ve­rä­nen Präsidenten, der sei­ner ver­fas­sungs­mä­ßig ver­an­ker­ten Rechten und Pflichten ohne die Imperative des Führers gerecht wer­den kann.
  2. Um sichere Unruhen nach einer mög­lich not­wen­di­gen Wahlfälschung zu ver­mei­den, wurde eine fein­säu­ber­lich aus­ge­wählte Liste der für die „Alleinherrschaft“ des „Führers“ unge­fähr­li­chen loya­len Kandidaten zuge­las­sen.
  3. Deswegen wurde sogar die Kandidatur Rafsandjanis, einer der Gründungsväter der „Islamischen Republik“, dem der „Führer“ sogar seine eigene Ernennung als „Führer“ ver­dankt, mit faden­schei­ni­gen Gründen abge­lehnt. Er hätte qua sei­ner tak­ti­schen Fähigkeiten und sei­nes poli­ti­schen Gewichts als lang­jäh­ri­ger Vertrauter Khomeinis die Alleinherrschaft Khameneis erb­lich erschwe­ren kön­nen.
  4. Deswegen hatte diese Wahl für den „Führer“ nur die Funktion, der Verfassung for­mell gerecht zu wer­den und zugleich nach Innen und Außen eine Massenbasis des Regimes und seine damit zusam­men­hän­gende Legitimation vor­zu­täu­schen, das laut einer inter­na­tio­na­len Befragung regio­nal unter­schied­lich bei 60 bis 80% der Weltbevölkerung ver­hasst ist und unter mas­si­ven inter­na­tio­na­len Sanktionen lei­det und von einer krie­ge­ri­schen Intervention bedroht ist. Daher musste Khamenei in sei­ner Letzten Rede sogar die Regimegegner im Namen der „natio­na­len Interessen“ zur Wahlbeteiligung auf­ru­fen.
  5. Um diese Massenbasis vor­zu­täu­schen wur­den außer­dem die Kommunalwahlen zugleich und in den­sel­ben Wahllokalen durch­ge­führt, von denen die bekann­ten und ein­fluss­rei­chen Kandidaten der Reformisten aus­ge­schlos­sen wur­den.
  6. Dabei wurde, unab­hän­gig von den bekannt gege­be­nen Wahlergebnissen, zugleich die zur „abso­lu­ten Schriftgelehrten Herrschaft“ nei­gende Balance zwi­schen repu­bli­ka­ni­schen und theo­kra­ti­schen Komponenten der „Islamischen Republik“ zuguns­ten ihres Totalitarismus sta­bi­li­siert – ohne die Quadratur des Kreises der „Islamischen Republik“ auf­he­ben zu kön­nen.

Zur Funktion der Wahlen für die Wahlbeteiligung der „Reformisten“

  1. Für die Reformisten, deren kon­ser­va­ti­ver Kandidat zur Wahl zuge­las­sen wurde, hatte die aktive und pas­sive Wahlbeteiligung die Funktion, eine totale Exklusion aus den Kerngruppen der Macht zu ver­hin­dern. Als Teil der Randgruppen des Establishments hof­fen sie wei­ter­hin mit ihrer Strategie der „Mobilisierung von Unten und Verhandlung von Oben“, ihre Existenz als Teil des Establishment zu sichern, ihre Handlungs- und Entscheidungsspielräume aus­wei­ten und damit der repu­bli­ka­ni­schen Komponente der Verfassung grö­ße­res Gewicht ver­lei­hen zu kön­nen. Denn nur so glau­ben sie die „Islamische Republik“ ange­sichts des zuneh­men­den Legitimationsverlustes des Regimes ret­ten zu kön­nen. Dabei fürch­ten sie eine auto­nome soziale Bewegung der Republikaner genauso wie das kon­ser­va­tive Establishment, das sich nur durch die Kasernierung der Gesellschaft zu erhal­ten gedenkt.
  2. Aus die­sem Grunde bil­de­ten sie gemein­sam mit den „Technokraten“ unter Rafsandjanis Führung eine Koalition mit den so genann­ten „mode­ra­ten Konservativen“, deren Kandidat – Rohani – Sieger der Wahl wurde.
  3. Dabei dürfte nicht ver­ges­sen wer­den, dass Hassan Rohani fünf Wahlperioden Abgeordneter, zeit­weise sogar stell­ver­tre­ten­der Parlamentspräsident war, 16 Jahre lang als „Generalsekretär des natio­na­len Sicherheitsrates“ und zwei Jahre als Atomunterhändler fun­gierte und zum Schluss sogar durch Khamenei zum Mitglied des „Expertenrates“ („Khobregan-e Rahbarie“) und des „Vermittlungsrates“, ernannt wor­den war, der in Streitfällen „im Interesse des Systems“ letzte Entscheidungen trifft.

Zur Funktion der Wahlen für die Wähler

  1. Für das ver­zwei­felte Wahlvolk, das nur zwi­schen Pest und Cholera wäh­len durfte, war es ein Versuch, eine Verschlechterung der bedroh­li­chen innen- und außen­po­li­ti­schen sowie öko­no­mi­schen Lage ver­hin­dern zu kön­nen.
  2. Vor allem ging es den meis­ten jün­ge­ren und weib­li­chen Wählern aus den Mittelschichten vor­wie­gend um die Verhinderung der wei­te­ren Verschiebung der Balance von der repu­bli­ka­ni­schen zur „Islamischen“ Komponente des Regimes, die durch Djalili als Lieblingskandidat des „Führers“ und der „Extremkonservativen“ („Usulgerajan) ver­tre­ten wurde.
  3. Doch sind diese ver­zwei­fel­ten Versuche, den wei­te­ren Abbau der repu­bli­ka­ni­schen Komponente der Verfassung zuguns­ten ihrer abso­lu­tis­ti­schen Komponente nach­hal­tig zu ver­hin­dern zum Scheitern ver­ur­teilt, solange keine freien und fai­ren Wahlen nach inter­na­tio­nal aner­kann­ten Regeln statt­fin­den dür­fen.
  4. Die Voraussetzung der freien und fai­ren Wahlen sind auto­nome Organisationen der Opposition, die ohne Kommunikation unmög­lich ist. Letztere setzt aber eine freie Meinungsäußerung vor­aus, denn ohne Kommunikation ist keine Organisation mög­lich.
  5. Die inter­na­tio­nale Unterstützung die­ser demo­kra­ti­schen Forderungen ist eine unab­ding­bare Voraussetzung ihrer Realisierung.

Praktische Konsequenzen der Wahlergebnisse

  1. Die prak­ti­schen Konsequenzen der Wahlergebnisse für die Iraner beste­hen zunächst in der Einsicht, dass sie als Rechtssubjekte nicht nur Wirtschaftsbürger („Bourgeoise“ im all­ge­mei­nen Sinne der Unternehmer und Erwerbstätigen) son­dern zugleich auch Staatsbürger (Citoyens) und Weltbürger sind, deren jewei­li­gen Rechte sie zugleich zu erkämp­fen haben.
  2. Dafür sind ent­spre­chende Organisationstypen not­wen­dig. Außerdem ist es not­wen­dig, die „Ungleichzeitigkeit“ der Entwicklung die­ser drei exis­ten­ti­el­len Dimensionen ihres Lebens prak­tisch und orga­ni­sa­to­risch über­win­den ver­su­chen. Dabei ist neben den funk­tio­nel­len und insti­tu­tio­nel­len Dimensionen die­ser Transformation der als Untertanen behan­del­ten Menschen in auto­nome und mün­dige Rechtssubjekte auch die Transformation ihrer hab­itu­el­len Dimension unab­ding­bar. Die prak­ti­sche Förderung der demo­kra­ti­schen Transformation des sozia­len Habitus der in die­sem Demokratisierungsprozess invol­vier­ten Menschen muss im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der demo­kra­ti­schen Opposition ste­hen, die nicht bloß eine Aufnahme in die Kerngruppen der Macht anstre­ben. Denn nur durch einen Mentalitätswechsel der Mehrheit der Iraner ist ein nach­hal­ti­ger Demokratisierungsprozess mög­lich.
  3. Als „Wirtschaftsbürger“ müs­sen sie sich ein­set­zen für die Durchsetzung Ihrer Assoziationsrechte in Form des Erkämpfens ihrer unab­hän­gi­gen Gewerkschaften und sons­ti­ger Berufsverbände zur Durchsetzung ihrer gerech­ten öko­no­mi­schen Interessen. Mit ihren auto­no­men Interessenverbänden wer­den sie zugleich zur „Ordnungsfaktor“ einer demo­kra­ti­schen Staatsgesellschaft.
  4. Als Staatsbürger müs­sen sie sich ein­set­zen für die Durchsetzung Ihrer Assoziationsrechte in Form des Erkämpfens ihrer demo­kra­tisch orga­ni­sier­ten poli­ti­schen Parteien zur Durchsetzung ihrer ver­fas­sungs­mä­ßig ver­an­ker­ten Bürgerrechte bis hin zu Demokratisierung der Verfassung.
  5. Als Weltbürger müs­sen sie sich ein­set­zen für die Durchsetzung ihrer Menschenrechte, zur deren Respektierung sogar die „Islamische Republik“ ver­pflich­tet ist. Als Weltbürger haben die Iraner sogar das Recht, alle die Charta der Menschenrechte unter­zeich­nen­den Staaten zur Verteidigung ihrer Menschenrechte auf­zu­for­dern, ihre unter­las­sene Hilfeleistung anpran­gern und gewalt­lose huma­ni­tä­ren Interventionen ein­kla­gen.
  6. Alle der Mitgliedstaaten der UNO sind nicht nur mora­lisch son­dern auch poli­tisch ver­pflich­tet, sich nicht nur natio­nal son­dern inter­na­tio­nal aktiv für die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte ein­zu­set­zen ange­sichts der zuneh­men­den Globalisierung der poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Interdependenzen der natio­nal­staat­lich orga­ni­sier­ten Menschheit, sowie der damit ein­her­ge­hen­den regio­na­len und glo­ba­len Folgen natio­nal­staat­lich statt­fin­den­der poli­ti­schen und öko­no­mi­schen sowie öko­lo­gi­schen Entwicklungen (z.B. Tschernobyl). Syrien demons­triert gegen­wär­tig augen­schein­lich die Notwendigkeit einer prä­ven­ti­ven gewalt­lo­sen huma­ni­tä­ren Intervention ange­sichts der vor­herr­schen­den unde­mo­kra­ti­schen und zuwei­len gewalt­sa­men Austragung sozia­ler und poli­ti­scher Konflikte, die sich aus der Blockierung fried­li­cher sozia­ler Mobilität der Menschen und ihrer Partizipationsmöglichkeiten erge­ben.
  7. Die all­ge­meine Voraussetzung für die prä­ven­tive gewalt­lose huma­ni­täre Intervention ist die Förderung der Erweiterung der Reichweite der Identifikation der Menschen mit Menschen jen­seits ihrer Gruppenzugehörigkeit als ein Teilaspekt der Zivilisierung der Menschheit. Dafür ist die mas­sive Unterstützung der Menschenrechtsorganisationen als Manifestation der erwei­ter­ten Reichweite der Identifikation der Menschen mit ein­an­der und der damit ein­her­ge­hen­den Etablierung des Ethos der Menschenrechte.
  8. Um die kata­stro­phale Folgen natio­nal­staat­li­cher „Souveränität“ der men­schen­recht­ver­let­zen­den Staaten pro­phy­lak­tisch zu ver­hin­dern, ist eine gewalt­lose huma­ni­täre Intervention der demo­kra­ti­schen Staaten und ihrer regio­na­len Organisation wie der „euro­päi­schen Gemeinschaft“ sowie der „Weltgemeinschaft“ als einer „Wertegemeinschaft“ drin­gend erfor­der­lich. Und zwar nicht nur in Form eines blo­ßen Hinweises auf „inak­zep­ta­ble“ Menschenverletzungen als eine Art Pflichterfüllung bei offi­zi­el­len Begegnungen der Staatschefs.
  9. Die huma­ni­tä­ren Interventionen soll­ten sich nicht nur kon­zen­trie­ren auf die bloße indi­vi­du­elle Verteidigung der poli­ti­schen Gefangenen, son­dern auch auf die inter­na­tio­nale Förderung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Entwicklungsprozesse.
  10. Die „Europäische Gemeinschaft“ und die USA sowie UNO soll­ten, statt öko­no­mi­schen Sanktionen wegen des Nuklearprogramms der „Islamischen Republik“, mit mas­si­ven poli­ti­schen Sanktionen wegen insti­tu­tio­na­li­sier­ter Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte im Iran die demo­kra­ti­sche Transformation in die­sem Land unter­stüt­zen und damit eine Politik der fried­li­chen Koexistenz einer demo­kra­tisch gewähl­ten und legi­ti­mier­ten Regierung. Damit würde auch das befürch­tete Atomprogramm end­gül­tig aus der Welt geschafft sein; denn eine demo­kra­tisch legi­ti­mierte Regierung im Iran bedarf keine Atombombe als Faustpfand eige­ner natio­nal und inter­na­tio­nal zuneh­mend iso­lier­ten Herrschaftsform.
    Öko­no­mi­sche Sanktionen belas­ten die Bevölkerung, die ohne­hin lei­den ohne poli­tisch wir­kungs­mäch­tig zu wer­den ange­sichts des gerin­gen Organisationsgrades der Opposition im Iran. Der süd­afri­ka­ni­sche Erfolgsrezept ist des­we­gen nicht über­trag­bar, weil so etwas wie INC mit hohem Organisationsgrad in Iran genauso fehlt wie sei­ner­zeit im Irak. Deswegen war die­ses Instrument auch nicht in Irak erfolg­reich.

Was bedeu­tet gewalt­lose huma­ni­täre Intervention zur Unterstützung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Entwicklungsprozesse?

Um die gewalt­lose Austragung der sich aus den Hauptspannungsachsen erge­ben­den Konflikte zu erleich­tern, bedarf es der nach­hal­ti­gen inter­na­tio­na­len Unterstützung der sie tra­gen­den Bewegungen im Iran in Form huma­ni­tä­rer Interventionen. Sie dür­fen keine außen­po­li­tisch instru­men­ta­li­sie­rende „Unterstützung“, d.h. nicht ego­is­tisch an eige­nes natio­nal­staat­li­ches Interesse der Intervenierenden son­dern altru­is­tisch moti­viert sein. Als huma­ni­täre Interventionen dür­fen sie keine außen­po­li­ti­schen Ersatzhandlungen sein, die in der Regel natio­nal­staat­li­che Interessen ver­fol­gen son­dern kom­ple­men­tär im wah­ren Interesse der natio­nal­staat­lich orga­ni­sier­ten und glo­bal zuneh­mend inter­de­pen­den­ten Menschheit. Zu die­sen huma­ni­tä­ren Interventionen gehö­ren, die mas­si­ven Unterstützung der gewalt­lo­sen Austragung der:

  1. Konflikte zwi­schen Regierenden und Regierten. Es gibt ver­schie­dene Formen der poli­ti­schen huma­ni­tä­ren Intervention statt einer mili­tä­ri­schen Intervention, die dis­ku­tiert wer­den müs­sen. Das kana­di­sche Beispiel der par­la­men­ta­ri­schen Verurteilung der Massenhinrichtungen der ira­ni­schen Gefangenen in den acht­zi­ger Jahren als „ Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ sollte z. B. auch in Europa und USA Schule machen. Die Verhinderung der Mitgliedschaft der men­schen­recht­ver­let­zen­den Staaten wie Iran in Menschenrechtsausschuss der UNO wäre eine andere Möglichkeit. Eine inter­na­tio­nale Liste der für Menschenrechtsverletzungen ver­ant­wort­li­chen Personen als „Persona non grata“ sowie Einfrierung ihres Vermögens in demo­kra­ti­schen Staaten wäre ein ande­res Beispiel.
  2. Konflikte zwi­schen Eigentümern der Produktions- und Konsummittel und abhän­gig Beschäftigen durch prak­ti­sche Solidarität der natio­na­len und inter­na­tio­na­len Berufsverbände und gewerk­schaft­li­chen Organisation sowie den per­ma­nen­ten Druck der ILO zur Einhaltung der inter­na­tio­na­len Konventionen.
  3. Geschlechterkonflikte durch natio­nale und inter­na­tio­nale Frauenbewegungen und -Organisationen, sowie des Frauenausschusses der UNO, in der die Mitgliedschaft frau­en­feind­li­cher Regime wie Iran unter­sagt wer­den soll.
  4. Generationenkonflikte durch welt­weite Schüler- und Studentenorganisationen sowie nach­hal­tige kri­ti­sche Beobachtung der UNECO.
  5. Ethnische und kon­fes­sio­nelle Konflikte durch poli­tisch wirk­same Verurteilung jeg­li­cher eth­ni­schen und kon­fes­sio­nel­len Diskriminierungen durch die Europäische Gemeinschaft und Weltgemeinschaft als Wertegemeinschaften sowie Förderung einer Dezentralisierung staat­li­cher Organisation der Gesellschaft in Form einer föde­ra­len Verfassung mit ent­spre­chen­den Bemühungen zur Über­win­dung regio­na­ler Disparität öko­no­mi­scher, poli­ti­scher Entwicklung und der eth­ni­schen und kon­fes­sio­nel­len Diskriminierung durch „sicher­heits­po­li­tisch“ ori­en­tier­ten zen­tral­staat­li­chen Repräsentanten bei gleich­zei­ti­ger Unterstützung der zen­tri­pe­ta­len Tendenzen zum Schutz der ter­ri­to­ria­len Integrität des Landes. Die gesetz­lich garan­tierte Respektierung der föde­ra­len Kulturhoheit ist eine unab­ding­bare Voraussetzung der Über­win­dung der eth­ni­schen und kon­fes­sio­nel­len Diskriminierungen.
  6. Konflikte zwi­schen moder­nen Wissenschaften und dog­ma­ti­schem Gehalt der Religion als kon­kur­rie­rende Orientierungsmittel und ihre Träger durch ent­spre­chende inter­na­tio­nale reli­giöse und wis­sen­schaft­li­che Organisationen und Verbände, die die Autonomie der Wissenschaften for­dern. Vor allem sollte die Unterdrückung der Humanwissenschaften scharf ver­ur­teilt und durch die inter­na­tio­nale Förderung die exis­ten­ti­elle Sicherung der nächs­ten Generation der Humanwissenschaftler sicher­ge­stellt wer­den.
  7. Außenpolitische Konflikte durch die aktive Unterstützung aller demo­kra­ti­schen poli­ti­schen Bewegungen, die eine aktive fried­li­che Koexistenz sowie regio­nale und inter­na­tio­nale Kooperation anstre­ben. Zudem soll­ten die öko­no­mi­schen Sanktionen, deren Erfolg vor allem von dem Organisationsgrad der demo­kra­ti­schen Opposition abhän­gig ist, durch poli­ti­sche Sanktionen ersetzt wer­den.

Ist der Preis der Lösung des Atomproblems eine inter­na­tio­nale Toleranz gegen­über den insti­tu­tio­na­li­sier­ten Menschenverletzungen?

Es gibt inzwi­schen eine unüber­hör­bare inter­na­tio­nale ver­nehm­bare Stimme, die einen „Verzicht auf Regimewechsel“ als einen ange­mes­se­nen Lohn für ira­ni­schen Verzicht auf ato­mare Ausrüstung Irans pro­pa­giert. Dabei sug­ge­riert sie die Annahme, dass die gefor­der­ten huma­ni­tä­ren Interventionen eine Aufforderung zum extern gesteu­er­ten Regimewechsel im Iran bedeu­tet. Die prak­ti­sche Konsequenz die­ser Forderung ist eine ethisch unak­zep­ta­ble Toleranz gegen­über den insti­tu­tio­na­li­sier­ten Menschenverletzungen Irans.

Die Gefahr der Akzeptanz die­ser mora­lisch und poli­tisch ver­werf­li­chen inter­na­tio­na­len Politik gegen­über Iran wird ange­sichts der Präsidentschaft Rohanis noch grö­ßer, ange­sichts sei­ner zwei jäh­ri­gen Erfahrungen als ers­ter Verhandlungsführer Irans über fried­li­che Nutzung der Nuklearenergie. Dabei ist davon aus­zu­ge­hen, dass er in Anbetracht der inzwi­schen ange­wach­se­nen ein­hei­mi­schen nukle­ar­wis­sen­schaft­li­chen Kapazität Irans und der damit ein­her­ge­hen­den tech­ni­schen Fähigkeit der Produktion der Atombombe sowie des erreich­ten Niveaus der Anreicherung von Uranium, inter­na­tio­nal befrie­di­gende ver­trau­ens­bil­dende Maßnahmen zustimmt, um die – inzwi­schen das Regime exis­ten­ti­ell bedro­hende – inter­na­tio­na­len Sanktionen auf­zu­he­ben.

Diesen Kuhhandel abzu­weh­ren, sollte das Hauptanliegen aller inter­na­tio­na­len Bemühungen zur akti­ven Verteidigung der Menschenrechte in Iran sein, ohne eine fried­li­che Regelung die­ses Konfliktes zu tor­pe­die­ren. Zumal nur 40% der ver­häng­ten Sanktionen wegen man­geln­den Transparenz des Nuklearprograms Irans ver­hängt wor­den sind. Eine Diskussion über die gegen­wär­tig ange­mes­se­nen Formen der gewalt­lo­sen huma­ni­tä­ren Interventionen zum Schutz der Menschenrechte im Iran sollte, als Alternative zu die­ser schreck­li­chen Form der Toleranz gegen­über den insti­tu­tio­na­li­sier­ten Menschenverletzungen, für die Unterstützung einer nach­hal­ti­gen fried­li­chen Koexistenz durch eine zivil­ge­sell­schaft­lich gestützte demo­kra­ti­sche Regierung im Iran sor­gen. Die gewalt­lose huma­ni­täre Intervention in Form akti­ver Unterstützung zivil­ge­sell­schaft­li­cher Entwicklungsprozesse redu­ziert pro­phy­lak­tisch die Gefahr blu­ti­ger Austragung sozia­ler Konflikte und erhöht die Chance der gewalt­lo­sen Über­win­dung beste­hen­der insti­tu­tio­nel­ler Blockaden sozia­ler Mobilität und die Aussicht auf fried­li­che insti­tu­tio­nelle Demokratisierung der ira­ni­schen Staatsgesellschaft.

Dawud Gholamasad

Hannover, den 26.06.2013

Prof. Dr. Dawud Gholamasad ist ein iranischer Soziologe, der hier im Blog schon mehrfach zu Wort kam.

Ich danke herzlich für die Möglichkeit, diesen Artikel hier veröffentlichen zu dürfen.

Nic


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