Was andere schon richtig machen - Halden vermeiden

Was andere schon richtig machen - Halden vermeiden
Das ist Wim Wenders. Er ist einer der bekanntesten zeitgenössischen deutschen Regisseure mit Weltruf. Von ihm können wir als Softwareentwickler etwas lernen.
Als Regisseur ist es seine Aufgabe, gewisse Ziele zu erreichen: Er hat ein inhaltliches/künstlerisches Ziel, er hat ein Terminziel und er hat natürlich auch ein Budgetziel. Gerade Termin und Geld zwingen dazu, die Produktion genau zu planen. Das beginnt beim Drehbuch, denn ohne Drehbuch ist ja ungewiss, was an Drehorten, Schauspielern, Bühnbild und schließlich Zeit und Geld überhaupt nötig wäre. Auf dessen Basis entsteht dann ein Drehplan. Der sagt, was wann wie wo genau zu drehen ist, so dass die kosten minimal sind. Was im Drehbuch wie in einer Theaterstück in einer für die Geschichte passenden Reihenfolge steht, wird dafür in Teile zerlegt und neu gemischt. Szenen am selben Ort zu unterschiedlichen Zeiten im Film, werden zusammengelegt, so dass der Drehort nur einmal besucht werden muss. Und was am Ende passiert, wird an den Anfang gelegt. Der Dreh ist mithin nicht chronologisch.
Das bedeutet, etwas das früh gedreht wird, aber erst spät im Film auftaucht, muss 100% so gedreht werden, dass es später passt. Der Regisseur muss also genau wissen und dem ganzen Team klar machen, was vorher passiert sein wird, damit die früh gedrehten späteren Szenen auch brauchbar sind. Sie liegen dann nach der Aufnahme auf Halde. Nicht nur steckt in ihnen jetzt Kapital, sie zwingen den Rest des Drehs auch in eine Form, der sie anschlussfähig macht.
Der nicht-chronologische Dreh ist damit eine lokale Optimierung im Sinne des Geld-/Zeitbudgets - und stellt ansonsten nur eine Belastung dar: Die Continuity steht vor einer großen Herausforderung, um visuelle Sprünge zwischen aneinander geschnittenen Einstellungen zu vermeiden, die mit großem Abstand gedreht wurden. Die Schauspieler stehen vor großen Herausforderungen, da sie Präsenz in ihren Rollen "auf Zuruf" ganz ohne Kontext herstellen müssen. Der Regisseur steht vor der großen Herausforderungen, das Ganze in seinem Zusammenhang und seiner Entfaltung allen Beteiligten immer wieder präsent zu machen, auch wenn jeden Tag nur beliebige Ausschnitte gedreht werden.
Als Resultat entsteht eine wachsende Halde von Takes, deren Qualität im Rahmen eines Ganzen erst im Schnitt deutlich wird. Nicht nur wird sich dann erst erweisen, ob alles so anschlussfähig ist, wie geplant.
Insofern kann denn auch das Drehbuch als Halde angesehen werden. Es ist ein Plan für die Herstellung einer Wirkung beim Zuschauer. Ob der aufgeht, zeigt sich ebenfalls erst im Schnitt.
Monatelang wird Geld in ein Drehbuch investiert, ohne dass man weiß, ob das Endresultat dem künstlerischen Anspruch gerecht wird. Wochenlang wird dann Geld in einen Dreh investiert, ohne dass man weiß, ob der in Summe das Drehbuch angemessen umsetzt und im Schnitt das gewünschte Ergebnis entstehen kann.
Während seiner ersten 10 Filme hatte Wim Wenders versucht, diese Unsicherheiten durch viel Planung zu kompensieren. Er hatte Drehbücher nicht nur umgesetzt, sondern auch geschrieben. Nicht umsonst war er Mitgründer des Filmverlags der Autoren. Damit vermied er Reibungsverluste zwischen Regisseur und Drehbuchautor. Seine Planung begann also schon bei der Idee.
Während des Drehs dann hatte er - wie er heute während eines Colloquiumgesprächs an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater berichtete - alles genau vorausgeplant. Jede Einstellung, jeder Auftritt, jeder Abgang, alles hatte er spätestens am Vorabend eines Drehs genaustens ausgetüftelt. Damit sollten Reibungsverluste zwischen Schauspielern und ihm oder auch der Technik während des Drehs reduziert werden. Es galt ja, die knappe Drehzeit bestmöglichst zu nutzen.
So war das. Bis zum Film "Paris, Texas".
Da machte er es anders. Motiviert hatte ihn seine Erfahrung mit der Inszenierung eines Theaterstücks. Denn im Theater wird anders gearbeitet. Es gibt nur eine Einstellung, es gibt nur eine chronologische Darstellung. Und hat das Stück begonnen, muss der Regisseur auf die Schauspieler vertrauen. Während der ganzen Vorstellung kann er nicht mehr eingreifen.
"Paris, Texas" hat Wim Wenders dann anders gemacht.
Das Drehbuch war nur halb fertig bei Drehbeginn. (Eine zweite Hälfte existierte nur für die Geldgeber. Sie war nie für die Produktion bestimmt, sondern ein Fake.)
Und der Dreh verlief streng chronologisch.
Das Ergebnis? Ein Film der von der Kritik gelobt und mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet. Das Ergebnis lässt sich also sehen - und das ganz ohne Aufhäufung von Halden. Für Wim Wenders ist klar, dass der Film seine Qualität nur erhalten konnte, weil eben nicht zwanghaft ein Ende vor Drehbeginn vorgedacht worden war und sich die Schauspieler mit ihren Figuren entwickeln konnten. Das Geheimnis für das gute Ergebnis, ja, das bessere Ergebnis als bei vorhergehenden Filmen besteht für ihn mithin in der Vermeidung von Halden. Er hat in nichts investiert, von dem er nicht wusste, ob es so später gebraucht werden würde. Er hat sich mit keiner Halde von Vorproduziertem die Möglichkeit zur Reaktion auf Entwicklungen während des Drehs eingeschränkt.
Mir scheint das eine kopierenswerte Haltung. Auch in der Softwareentwicklung sollten wir es vermeiden, ein ausgefeiltes Drehbuch von Anfang bis Schluss zu schreiben. Vor Beginn der Entwicklung zunächst ein Backlog satt zu füllen, versenkt Geld in Anforderungen, von denen nicht sicher ist, wann, wie und ob sie später umgesetzt werden sollten, ob sie einem Anwender wirklich den intendierten Nutzen bieten. Ein pralles Backlog schränkt durch die Investitionen auch die spätere Reaktionsmöglichkeit ein. Denn was im Backlog steht, muss ja umgesetzt werden. Immerhin steckt da ja einige Mühe drin. Die darf nicht umsonst sein. Wenn in Wochen oder Monaten Neues auftaucht, dann hat sich das hinten anzustellen. Mit einem ausführlichen Backlog gilt das Prinzip "First come, first serve".
Ebenso sollte die Softwareentwicklung vermeiden, Code auf Halde zu produzieren. Der nicht-chronologischen Drehreihenfolge beim Film entspricht eine Entwicklungsreihenfolge, die sich von Befindlichkeiten der Softwareentwicklung leiten lässt. Wenn die meint, es müsse zuerst eine Infrastruktur aufgesetzt werden, ein Persistenzframework geschrieben, ein Security-API entwickelt werden, bevor auch nur ein Anwender etwas in die Hand bekommt… dann produziert sie Code auf Halde. Von dem weiß auch niemand, wann, wie, ob er mal Nutzen entfalten wird.
Zum Glück vertritt die Agilitätsbewegung diese Sichtweise schon länger. Sie ermahnt, Code nicht auf Halde zu produzieren, sondern nur in nützlichen Inkrementen. Sie ermahnt, nicht zuviel in Vorabplanung von Anforderungen und Entwürfen zu investieren. In der Projektrealität ist das allerdings immer noch nicht überall angekommen. Deshalb finde ich es motivierend, aus ganz anderer Richtung davon zu hören, wie die Reduktion von Halden erfolgssteigernd wirken kann. Dass selbst die Filmproduktion davon profitiert… Wer hätte das gedacht?
Vielen Dank, Wim Wenders, für diese Plauderei aus dem Nähkästchen.
PS: Woody Allen hat übrigens auch erkannt, dass Drehbuchhalde und Takehalde sich abträglich auf das künstlerische Ziel auswirken können. Er stellt sie zwar noch komplett her - doch er erlaubt sich spätere Korrekturen. In den Verträgen seiner Schauspieler steht, dass sie - wenn ich es recht erinnere - bis zu einem halben Jahr nach Drehschluss noch für Nachdrehs zur Verfügung stehen müssen. Für Woody Allen kann sich einfach im Schnitt herausstellen, dass Haldenmaterial in seiner Qualität ungenügend ist. Dann bessert er aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse einfach nach.
Das scheint mir auch in Linie mit der Agilität zu sein. Woody Allen hat erkannt, dass sich Ziel und/oder Weg mit der Zeit durch die Produktion verändern können. Das überrascht ihn nicht mehr, sondern er weiß es und trifft also vertragliche Vorkehrungen.

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