Warum wir unser Gespür fürs Essen verloren haben!

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Moralappelle, Vorschriften, Unverträglichkeiten – unser Verhältnis zur Nahrung ist furchtbar kompliziert geworden. Die Expo in Mailand thematisiert das Problem der Welternährung, und wir machen aus jedem Wurstzipfel ein Theater. Es wird Zeit, wieder auf den Bauch zu hören.

Der Koalabär hat einen ziemlich übersichtlichen Speiseplan. Was aussieht wie Eukalyptus, riecht wie Eukalyptus und schmeckt wie Eukalyptus, ist Futter. Alles andere interessiert ihn nicht. Darum verschwendet der Koalabär wenig Zeit und Energie dafür, sich Gedanken über sein Essen zu machen.

Der moderne Mensch hat einen ziemlich komplizierten Speiseplan. Was aussieht wie Essen, ist meistens noch etwas anderes: eine politische Haltung, ein Gesundheitsprogramm, ein Requisit für die Selbstdarstellung. Darum verschwendet der Mensch von heute viel Zeit und Energie dafür, sich Gedanken über sein Essen zu machen.

Unser Verhältnis zur Nahrung ist anstrengend geworden: Wir wissen nicht mehr, was wir essen sollen. Jahrhundertealte Gewissheiten und Gewohnheiten haben ihre Gültigkeit verloren. Kaum ein Nahrungsmittel ist heute noch unverdächtig. Jede Frucht, jede Wurst könnte ungesund, unverträglich, unfair produziert oder ihr Konsum moralisch verwerflich sein. An die Stelle der alten Weisheiten treten verheissungsvolle Ernährungstrends, dringliche Warnungen, Appelle ans Gewissen und vielleicht bald auch staatliche Massnahmen. Der Bund will mit einer nationalen Strategie den Salzkonsum auf unter fünf Gramm pro Tag senken. In Bern und Basel werden Unterschriften gesammelt, um vegane Menus in Kantinen politisch durchzusetzen. Wir sind als Gesellschaft offenbar an einem Punkt angelangt, an dem uns jedes Gespür fürs Essen verlassen hat.

Das Problem ist grotesk: Hier biegen sich die Regale unter den Spezialprodukten für Lebensmittelallergien und Ernährungsphilosophien. Woanders sind die Teller leer. Noch immer hat jeder achte Mensch auf der Erde zu wenig zu essen. Die vor wenigen Tagen eröffnete Weltausstellung in Mailand zum Thema Ernährung ruft uns dies gerade mit aller Macht in Erinnerung.

Wie unleugbar die Ernährungs-Krise bei uns geworden ist, zeigt sich schon daran, dass die Hälfte der Schweizer und ein Drittel der Schweizerinnen übergewichtig sind und gleichzeitig 3,5 Prozent der Bevölkerung an Essstörungen wie Magersucht leidet. Hätten wir ein unverkrampftes Verhältnis zu unserer Nahrung, würden Design-Esswaren, die Gesundheit versprechen, keinen reissenden Absatz finden. Es gäbe nicht über 100 000 Konsumenten, die auf der Online-Plattformen E-Balance Hilfe suchen würden. Und es würden nicht Scharen von Konsumenten glutenfreie Spaghetti aus den Läden tragen, obwohl nur wenige von ihnen tatsächlich an einer Unverträglichkeit leiden. Eine Gesellschaft mit einem normalen Essverhalten würde wahrscheinlich auch nicht übers Wochenende oder in TV-Koch-Shows die Nahrungszubereitung als Ereignis inszenieren und im Alltag hastig Fertiggerichte aus der Plasticschale in sich hineinschaufeln.

Essen hat aufgehört bloss Essen zu sein. Es ist zu einem Problem und zugleich zu einem Kult geworden. Wie konnte das nur passieren?

Im Grunde – und das ist tröstlich – können wir nicht viel dafür. Die Biologie ist schuld. Der Mensch ist ein Allesfresser. Um unseren komplizierten Organismus in Gang zu halten, müssen wir verschiedenste Nährstoffe aus vielen Quellen zusammensuchen. Das unterscheidet uns vom genügsamen Koalabären.

Der westliche Mensch ringt mit einem Problem, das der amerikanische Ernährungspsychologe Paul Rozin vor vierzig Jahren als das Allesfresser-Dilemma bezeichnet hat. Es beschreibt die Zerrissenheit zwischen zwei Trieben: Neophobie, die Furcht vor Neuem, und Neophilie, die Offenheit gegenüber Neuem. Die Neophilie treibt uns an, neue Nahrungsquellen zu erschliessen. Die Neophobie hingegen hindert uns daran, Dinge in uns hineinzustopfen, die uns schaden.

Das Allesfresser-Dilemma bestimmt unser Essverhalten heute mehr als je zuvor. Die Neugier auf neue Esswaren und die immerwährende Furcht vor schädigender Nahrung regulieren nicht nur unseren Speiseplan. Sie sind auch der Auslöser für jeden neuen Trend und am Ende auch der Motor, der die globale Nahrungsmittelindustrie dazu antreibt, unablässig neue Produkte in die Ladenregale zu bringen. Das macht die Sache immer komplizierter: Je grösser die Auswahl, desto grösser die Krise, nicht mehr zu wissen, was richtig ist.

Und was ist richtig? Was sollen wir denn noch essen? Womöglich ist die Antwort gar nicht so schwer. Erstens gilt, auch wenn es Moralisten und Nahrungspolizisten nicht gerne hören: Wir Menschen sind und bleiben Allesfresser. Warum sollen wir nicht essen, was wir wollen? Ohne schlechtes Gewissen, ohne politische Mission und ungeachtet von behördlichen Belehrungen und von Lifestyle-Firlefanz. Zweitens: Essen braucht Zeit und Hingabe, in der Zubereitung wie im Verzehr. Fast Food zu verschlingen im prall gefühlten Pendlerzug, ist, als würde man sich ein paar Minuten ins Solarium legen, statt ans Meer in die Ferien zu fahren.

Mit Zeit, Hingabe und der Freiheit das, zu essen, was wir mögen, haben wir eine Chance, unser eigenes Gespür fürs Essen zurückzugewinnen. Mit diesem Gespür wird auch der sorgsame Umgang mit Nahrung wachsen, das Bewusstsein für Qualität und der Sinn für das, was uns guttut. Denn Essen ist vor allem eines: ein Erlebnis. Das haben wir dem Koalabären voraus. Eukalyptusblätter tagein, tagaus; kein Wunder, schaut der immer so traurig in die Welt.


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