Solche treffsichere Beitraege ueber die Missstaende in Italien wie dieser aus dem Wall Street Journal haben Seltenheitswert ...... deshalb den vollen Wortlaut (altro che Berlusca) :
FLORENZ—Bernardo Caprotti steckte voll Tatendrang. Der 45-jährige Unternehmer kaufte am Stadtrand von Florenz ein Stück Land, um darauf einen neuen Supermarkt zu bauen. Vor kurzem wurde ihm die Baugenehmigung für das Vorhaben erteilt. Caprotti ist inzwischen allerdings schon 88 Jahre alt.
Seit 1971 lag der Chef der Mailänder Einzelhandelskette Esselunga mit den städtischen Bürokraten im Clinch. Immer neue Hürden bauten die Behörden vor ihm auf. Mit dem Supermarkt fließe zu viel Verkehr durch das Viertel, brachten sie vor. Die architektonische Ausgestaltung passte den Beamten nicht, und überhaupt liege das Gebäude viel zu nah an einem mittelalterlichen Kloster, monierten sie. „Es ist so schwierig und kompliziert geworden, in Italien ein Geschäft zu führen", resümiert Caprotti. „So kann Italien nicht weiter machen. Entweder wir ändern uns, oder wir landen in der Sackgasse."
Dass Caprotti ein halbes Leben darauf warten musste, einen Laden eröffnen zu können, ist nur ein kleines Beispiel für ein großes und hartnäckiges Problem in Italien. Wie einige andere europäische Länder kämpft auch Italien damit, einen Wandel herbeizuführen und wirtschaftlich schnell genug zu wachsen, um seine lang anhaltende Schuldenkrise zu überwinden.
Das Beharrungsvermögen bestimmter Interessensgruppen und eingefahrene Gewohnheiten verstärken sich in Europa seit Jahrzehnten. Ihre Wucht drängt einst dynamische Volkswirtschaften auf die Kriechspur ab. Die alten Fahrrillen sind mittlerweile so tief eingekerbt, dass ein Verlassen der gewohnten Bahnen schwierig geworden ist. Von den Bürokraten über die Unternehmer, von den Gewerkschaftlern bis hin zu den Rentnern vertreten die unterschiedlichsten Lobbygruppen vehement und nachdrücklich den Status Quo. Selbst wenn damit schon längst niemand mehr glücklich ist.
Sechs Jahre lang dümpelte die Eurozone mit ihren 18 Mitgliedsnationen in der wirtschaftlichen Flaute vor sich hin. Nun bewegt sich der Währungsverbund, Italien eingeschlossen, langsam aus der Talsohle. Optimisten sprechen schon davon, dass die Krise Europa aus ihren Fängen entlässt. Angesichts der Schwierigkeiten allerdings, mit denen die Länder bei der wirtschaftlichen Erneuerung konfrontiert sind, setzt sich bei Volkswirten und Unternehmenschefs eine ernüchternde Erkenntnis durch: Die Krise wurde nicht gelöst. Sie hat sich nur von einem akuten Anfall in einen chronischen Zustand verwandelt.
Eurozone hinkt weiter hinterher
Eine kraftlose Erholung nach einem langen Niedergang, sich bis zum Himmel türmende Schulden und eine hohe Arbeitslosigkeit versetzen Europa in die missliche Lage, möglicherweise ein verlorenes Jahrzehnt durchleiden zu müssen. Ein Jahrzehnt, in dem es für die Europäer nur humpelnd und schrittweise vorwärts geht, während einige andere Weltregionen forschen Schrittes davon marschieren. Immer noch liegt die Wirtschaft in der Eurozone um 2,7 Prozent unter dem Niveau, das Anfang 2008 erreicht worden war.
Für viele Europäer liegt der Grund für die Malaise klar auf der Hand: Jahre der strengen Sparpolitik haben die Nachfrage zum Erliegen gebracht und den Abschwung nach 2008 nur verlängert, sind sie überzeugt. Doch einige Ökonomen und politisch Verantwortlich graben tiefer. Woran Europa eigentlich kranke, sei der langfristige Rückgang der wirtschaftlichen Wachstumsraten auf dem Kontinent, argumentieren sie. Gesellschaften, deren Bevölkerung nicht zunimmt, können nur dann nachhaltig wachsen, wenn sie ihre Produktivität oder die Effizienz der Angebotsseite der Wirtschaft erhöhen. Doch dafür ist beständiger Wandel notwendig – die Achillesferse Europas.
Seit Mitte der 1990er Jahre schon habe sich der langfristige Produktivitätszuwachs der Eurozone verlangsamt, hatte die EU-Kommission im Januar gewarnt. Und die Krisenjahre hätten die Wachstumsfähigkeit der Region weiter in Mitleidenschaft gezogen.
Der Druck, der während der Schuldenkrise entstanden war, hatte einige Euroländer wie etwa Spanien oder Griechenland dazu gezwungen, unter anderem Reformen bei den Arbeitsmarktgesetzen und in stark reglementierten Industriesektoren vorzunehmen. Doch diese Neuordnungen werden allgemein bestenfalls als Teilerfolg gewertet. Und der Reformschwung hat sich seit den wildesten Ausbrüchen der Panik auf den Finanzmärkten mittlerweile auch schon wieder weitgehend verflüchtigt.
Will man die europäischen Probleme beleuchten, eignet sich Italien als überaus prägnantes Beispiel. Das Wachstum des Landes holpert und stolpert seit 20 Jahren vor sich hin. Seit 2008 ist die italienische Wirtschaft um neun Prozent geschrumpft. Und in diesem Jahr erweist es sich für die Italiener schon als schwierig, auch nur um ein Prozent zu expandieren.
Besitzstandswahrer hintertreiben die wirtschaftliche Erneuerung
Erzielt das Land kein höheres Wachstum, wird es schwierig werden, die Staatsverschuldung von mehr als 2 Billionen Euro oder 133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in den Griff zu bekommen. Und wenn der Schuldenberg weiter zunimmt, könnten sich die Sorgen um die Zahlungsfähigkeit Italiens wieder Bahn brechen und erneut eine Kapitalflucht auslösen, die bereits in den Jahren 2011 und 2012 den Euro in der Luft zu zerreißen drohte.
Die Hoffnungen der Italiener richten sich nun auf Matteo Renzi. Er soll Italien aus der Sackgasse manövrieren. Der umtriebige 39-jährige Ministerpräsident war quasi über Nacht in sein neues Amt gelangt. Und er hat große Pläne für sein Land. Er will die Steuern senken und der Regulierungswut einen Riegel vorschieben. Doch trotz der großen Unterstützung, die Renzi in der Öffentlichkeit genießt, zweifeln selbst viele seiner Sympathisanten daran, dass er dem Wachstum des Landes auf die Beine helfen kann.
Im Kern drehe sich das Problem darum, dass Besitzstandswahrer im privaten und öffentlichen Sektor die wirtschaftliche Erneuerung hintertreiben. Darin sind sich viele Italiener einig. Sie verhinderten den notwendigen Wandel, bei dem überkommene Verhaltensweisen durch neue, wirksamere Ansätze ersetzt werden. Wiederholt schon hätten sie politische Versuche sabotiert, einen Umbau im Land auf den Weg zu bringen.
Das alles summiere sich zu „tief verwurzelten kulturellen Wachstumshindernissen", findet Professor Tito Boeri, der an der Mailänder Bocconi-Universität lehrt und zu den führenden Volkswirten Italiens zählt. „In Italien definiert sich deine Identität über deine Zugehörigkeit zu einer spezifischen Interessensgruppe", erklärt er. Daher ließen sich auch nur schwer Unterstützer für eine wie auch immer geartete Vorstellung von Allgemeinwohl mobilisieren.
Trotz ihrer beneidenswert lässigen Lebensart scheuen sich manche Italiener hartnäckig, neue Wege zu betreten. Kleinere Familienbetriebe, die unter der Fuchtel alternder Clanchefs stehen, schmettern Investoren, die von außen kommen, rundweg ab - auch wenn ihnen das Geld oder die Visionen fehlen, um dem Wettbewerb standhalten zu können. Vertreter reglementierter Berufsgruppen wie Anwälte und Apotheker wehren sich beständig mit Händen und Füßen gegen alle Versuche, ihre Kartelle aufzubrechen. Einflussreiche Bürokraten blockieren Jahre lang die Umsetzung neuer Gesetze. Und die Polit-Elite in Rom ist derart streitsüchtig, dass sich Regierungen im Schnitt kaum je länger als ein einziges Jahr in Amt und Würden halten.
Viele Familienbetriebe wollen nicht expandieren
Früher fiel das alles nicht so stark ins Gewicht. In der Nachkriegszeit wuchs die italienische Wirtschaft schnell – trotz mauernder Bürokraten, trotz der Unzahl winziger Unternehmen und trotz eines fragmentierten und oftmals korrupten politischen Systems. Aber damals war das Wachsen auch keine allzu große Kunst. Für die relativ armen Länder im Süden Europas genügte es im Großen und Ganzen, technische Errungenschaften stärker entwickelter Volkswirtschaften, wie etwa der USA, zu kopieren und sie dazu einzusetzen, Güter billig herzustellen.
Das Räderwerk einer fortgeschrittenen Volkswirtschaft in Bewegung zu setzen, erfordere dagegen einen gut funktionierenden Rechtsstaat, eine verlässliche öffentliche Verwaltung und mehr Kapital und Fachwissen, als viele Tante-Emma-Läden dies gewöhnlich vorweisen könnten, urteilt Fabiano Schivardi, ein Volkswirt an der Luiss-Universität in Rom. Er hat sich mit der Stagnation in einer ganzen Reihe von Industriezweigen in Italien auseinander gesetzt. „Unsere Institutionen waren gut genug für eine Wirtschaft, die am Aufholen war. Jetzt aber sind sie nicht mehr gut genug", sagt er.
Kulinarisch und in punkto Mode sind die Italiener kaum zu schlagen. Das beweisen einige der bekanntesten Namen der italienischen Unternehmenswelt: Prada, Ferrero und Luxottica LUX.MI -0,90% mischen weltweit erfolgreich mit. Doch nach Angaben der italienischen Notenbank Banca d'Italia beschäftigen 98 Prozent der italienischen Firmen weniger als 15 Angestellte.
Viele Eigentümer von Familienbetrieben wollten gar nicht expandieren. Sie nähmen mit der Belegschaft und den Kunden vorlieb, die sie bereits kennen und denen sie vertrauen, erklärt Matteo Bugamelli, leitender Analyst der Notenbank. „Oft steckt das gesamte Familienvermögen in der Firma. Und es besteht keine Risikobereitschaft, die zum Investieren und Wachsen aber notwendig wäre."
Dieses bescheidene Nischendasein wollte Roberto Zuccato hinter sich lassen. Dem Unternehmer aus Vicenza im wohlhabenden Nordosten Italiens schwebte vor, seiner Firma Ares Line zu größerem internationalen Einfluss zu verhelfen. Ares Line stellt Möbel für Büros und öffentliche Einrichtungen wie etwa Theater her. Die rund 90 Mitarbeiter erwirtschaften einen Jahresumsatz von 20 Millionen Euro. Der Branchenführer, die US-Firma Steelcase, SCS +0,18% kann dagegen jährliche Einnahmen über umgerechnet 2,1 Milliarden Euro vorweisen.
Bürokratische Irrungen und Wirrungen
Im Jahr 2005 schloss sich Zuccato mit einer Mailänder Beteiligungsgesellschaft zusammen und plante, mit Lokalrivalen aus Italien unter dem Dach einer Holding mit einem Umsatz von 100 Millionen Euro zu fusionieren. Ausgestattet mit frischem Kapital und unter Ausnutzung der Größenvorteile wollten sie in den Aufbau einer globalen Marke investieren. Sie sollte sich den Ruf Italiens zu Nutze machen, bei elegantem Design stets die Nase vorn zu haben.
Doch für den Fusionsgedanken konnten sich nur Unternehmen erwärmen, die selbst am Taumeln waren. Andere hielten an ihrer Eigenständigkeit fest, selbst wenn sie kein Wachstum erzielten, erinnert sich Zuccato. „Die Kultur hier ist es, padrone und Herr im eigenen Haus zu sein", führt er aus. Viele Familienunternehmer „vertrauen Außenstehenden nicht und bringen lieber den eigenen Sohn ins Geschäft, auch wenn der dazu nicht sonderlich gut qualifiziert ist." Im Jahr 2009 gab die Beteiligungsgesellschaft auf. Nach fruchtlosen Verhandlungen mit etwa 20 Firmen verkaufte das Private-Equity-Haus seine Investition in Ares Line wieder an Zuccato.
Bürokratische Irrungen und Wirrungen sind ein weiterer Faktor, der die Firmen an der Expansion hindert. Die Supermarktkette Esselunga hat mehrmals vergeblich Anlauf genommen, neue Läden zu eröffnen. Gescheitert sind die Vorhaben an verweigerten Baugenehmigungen und anderen Bewilligungen. Mittlerweile hat der Einzelhändler seine Pläne für Neueröffnungen zurückgeschraubt – obwohl der seit Ewigkeiten geplante Markt in Florenz nun in diesem Herbst endlich die Pforten öffnen wird.
Was Einheimische fuchst, kann ausländische Investoren völlig aus der Fassung bringen. British Gas zum Beispiel hatte sich mehr als zehn Jahre lang bemüht, die notwendigen Genehmigungen für ein 500 Millionen Euro schweres Gasimportterminal in Süditalien einzuholen. Im Jahr 2012 warf der Energieriese schließlich entnervt das Handtuch.
Caprotti kommt dieses Problem durchaus bekannt vor. „Wenn wir heute etwas auf dem Weg bringen, kann es 15 Jahre dauern, bis es durch ist", bestätigt er. „Und dann hast du den Kürzeren gezogen, weil du feststellst, dass die Größe oder der Standort nicht mehr hinhauen."
Und auch das italienische Gerichtswesen schreckt die Unternehmer ab. Im Schnitt dauert es mehr als drei Jahre, um ganz gewöhnliche Vertragsstreitigkeiten vor Gericht beizulegen. Und weitaus länger, wenn Berufung eingelegt wird. Italiens Juristen, die ihre französischen Kollegen zahlenmäßig um das Vierfache übertreffen, haben sich bisher standhaft allen Versuchen widersetzt, ein Justizwesen zu straffen, das langwierigen Verfahren Tür und Tor öffnet. Ende 2012 standen insgesamt 9,7 Millionen Fälle aus, teilte der Internationale Währungsfonds mit.
Angst als Antrieb für das Beharren auf dem Status Quo
Ebenso reformunwillig präsentierten sich häufig die italienischen Gewerkschaften. Ihr Aufstand verhinderte über Jahre hinweg, dass die staatliche Fluglinie Alitalia ihre Arbeitskosten senken und saniert werden konnte. Erst im vergangenen Herbst, als die Pleite der Fluggesellschaft unmittelbar bevorstand, stimmten die Arbeitnehmervertreter Lohnkürzungen und flexibleren Arbeitskonditionen zu.
Oft ist Angst der Antrieb für das sture Beharren der Gewerkschaften auf dem Status Quo. Überzählige, weniger qualifizierte Arbeiter könnten sonst vielleicht für immer vom starren italienischen Arbeitsmarkt ausgesperrt bleiben, fürchten sie.
Allerdings scheint in einigen Fällen ein Lernprozess eingesetzt zu haben. Natuzzi, einer der führenden Sofaproduzenten des Landes, musste sich auch erst eine Konfrontation mit den Gewerkschaften liefern, um sich über Wasser zu halten. Nach der Einführung des Euro sah sich der Möbelhersteller zusehends den Konkurrenten aus dem Ausland ausgesetzt, die billiger produzierten. Jahrelang unternahm das Management zu wenig, um die hohen Kosten unter Kontrolle zu bekommen – selbst als sich die Verluste häuften. Im Jahr 2013 einigte sich Natuzzi schließlich mit den Gewerkschaften auf eine Senkung der Arbeitskosten und bot hunderten Mitarbeitern eine Abfindung an, um weiter in Italien produzieren zu können.
„Wir können die Tatsache nicht leugnen, dass es Schwierigkeiten gibt", sagt Firmengründer Pasquale Natuzzi. „Aber sowohl seitens der Gewerkschaften als auch seitens der Wirtschaft ist man sich jetzt stärker bewusst", dass ein Wandel vonnöten ist, um das verarbeitende Gewerbe in Italien zu verteidigen, führt er weiter aus.
Die Forderungen der Unternehmen, die Arbeitskosten zu senken, kommen bei den Arbeitnehmern nicht gerade gut an. Nach dem langen Abschwung und verschiedenen Steuererhöhungen bleibt ihnen netto ohnehin schon weniger als früher. Das verfügbare Einkommen italienischer Privathaushalte ist gemäß den Angaben des staatlichen Statistikamts seit 2007 um 13 Prozent oder rund 2.400 Euro pro Kopf geschrumpft. In kaum einem anderen Land der Eurozone waren diese Einbußen so hoch wie in Italien.
Arbeit wird besonders hoch besteuert
Renzi hat die Senkung der Lohnsteuer zu einem seiner vorrangigsten Anliegen erklärt. In diesem Jahr soll sie um insgesamt 10 Milliarden Euro gekürzt werden, hat er versprochen.
Arbeit wird in Italien besonders hoch besteuert. Mitverantwortlich dafür ist der Umstand, dass Steuern, wie etwa Abgaben auf die Einkommen von Kleinunternehmen und Selbstständigen, durch die normalerweise die Lasten besser verteilt würden, weitgehend umgangen werden.
Italienische Unternehmer hinterziehen mehr als 50 Prozent der Ertragssteuern, die sie dem Staat schulden. Bei Kapitalerträgen liegt der Prozentsatz der Hinterziehungen gar bei 80 Prozent, schätzt die Banca d'Italia. Dass die Unternehmen beim Faktor Arbeit steuerlich so stark belastet werden, halte sie von Neueinstellungen ab und schwäche die Kaufkraft der Konsumenten, stellen Volkswirte fest.
Und selbst wenn Reformen von oben gesetzlich verordnet werden, heißt das noch lange nicht, dass sich deswegen tatsächlich auch etwas verändert. Bürokraten, die Gesetze mit Hilfe von Verwaltungsdekreten umsetzen müssen, schöben sie oft auf die lange Bank, weichten die Regelungen auf oder schrieben sie so lange um, bis keiner sie mehr verstehe, berichten Reformbefürworter in der Regierung. Als die Regierung von Enrico Letta im Februar abtrat, waren zwar rund 500 Gesetze verabschiedet, aber keines umgesetzt worden. Darunter befand sich auch eine Maßnahme, um die Zahl der Genehmigungen zu verringern, die Unternehmen brauchen, um ihr Geschäft aufzunehmen. Ein weiteres Gesetz beschäftigt sich mit der Digitalisierung bestimmter Vorgänge, um den Firmen die Behördengänge zu vereinfachen.
„Es gibt jede Menge Schwierigkeiten, der Bürokratie und der ganzen Staatsmaschinerie Beine zu machen", meint Graziano Delrio, Staatsekretär des Ministerpräsidenten. „Es gab da diesen Ansatz zu moderaten Änderungen, aber wir müssen einen Sprung beim gesamten Ablauf machen."
„In allen Bereichen fehlt oft das letzte Glied in der Kette, wenn es um die Umsetzung geht"
Der ehemalige Ministerpräsident Mario Monti hatte Anlauf genommen, den Dienstleistungssektoren, in denen die Gewinne der Etablierten durch Reglements geschützt werden, mehr Wettbewerb im Sinne der freien Marktwirtschaft einzuhauchen. Kaum hatte er den Reformvorschlag vorgelegt, traten die Taxi- und Fernfahrer, die Bahnarbeiter, Apotheker, Rechtsanwälte und Tankstellenbesitzer laut protestierend in den Streik. Sie bearbeiteten die Parlamentsabgeordneten, die Gesetzesvorschläge abzumildern. Doch selbst die entschärfte Fassung, die letztendlich verabschiedet wurde, habe kaum etwas bewirkt, weil die öffentliche Verwaltung sich nicht daran halte, erklärt Monti.
„In allen Bereichen fehlt oft das letzte Glied in der Kette, wenn es um die Umsetzung geht", sagt Monti zu seinen Reformanstrengungen. Er war nur 17 Monate lang als Ministerpräsident im Amt und stellt fest, dass er mehr Zeit gebraucht hätte, um es mit den unkooperativen italienischen Apparatschiks aufzunehmen. Doch er habe damals dringende haushaltspolitische Schritte einleiten müssen, um die italienische Schuldenkrise einzudämmen. „Eine Revolte der Bürokraten konnte ich mir da nicht leisten."
Einigen ausländischen Unternehmern dämmert gerade, wie hart es nach wie vor ist, auf den italienischen Markt vorzudringen. Die US-Transportfirma Uber zum Beispiel hatte im vergangenen Jahr ihren europaweit nicht ganz unumstrittenen Taxivermittlungsdienst in Italien an den Start gebracht. Das Start-Up bietet privaten Fahrern die Möglichkeit, ihren eigenen Wagen bei Uber anzumelden und dann Personen zu befördern. Die Fahrgäste ordern die Privatchauffeure über eine Smartphone-App herbei.
Die alteingesessenen italienischen Taxifahrer hätten die Uber-Fahrer wüst beschimpft, gibt der Neueinsteiger zu Protokoll. Die Gewerkschaft der Taxifahrer streitet ein aggressives Verhalten der Fahrer ab, verweist aber darauf, dass ihre Mitglieder ein Vermögen für ihre Taxi-Lizenzen bezahlt hätten. Derzeit koste eine Lizenz etwa 170.000 Euro. Sie böten eine öffentliche Dienstleistung an, die geschützt werden müsse.
„Während einer Phase des Umbruchs gibt es einige, deren Arbeitsplätze gefährdet sind. Und dann macht sich Protektionismus breit", meint dazu Benedetta Arese Lucini, Geschäftsführerin von Uber in Italien. „Leider hat Italien Angst davor, sich zu verändern."
Kontakt zu den Autoren: [email protected]
FLORENZ—Bernardo Caprotti steckte voll Tatendrang. Der 45-jährige Unternehmer kaufte am Stadtrand von Florenz ein Stück Land, um darauf einen neuen Supermarkt zu bauen. Vor kurzem wurde ihm die Baugenehmigung für das Vorhaben erteilt. Caprotti ist inzwischen allerdings schon 88 Jahre alt.
Seit 1971 lag der Chef der Mailänder Einzelhandelskette Esselunga mit den städtischen Bürokraten im Clinch. Immer neue Hürden bauten die Behörden vor ihm auf. Mit dem Supermarkt fließe zu viel Verkehr durch das Viertel, brachten sie vor. Die architektonische Ausgestaltung passte den Beamten nicht, und überhaupt liege das Gebäude viel zu nah an einem mittelalterlichen Kloster, monierten sie. „Es ist so schwierig und kompliziert geworden, in Italien ein Geschäft zu führen", resümiert Caprotti. „So kann Italien nicht weiter machen. Entweder wir ändern uns, oder wir landen in der Sackgasse."
Dass Caprotti ein halbes Leben darauf warten musste, einen Laden eröffnen zu können, ist nur ein kleines Beispiel für ein großes und hartnäckiges Problem in Italien. Wie einige andere europäische Länder kämpft auch Italien damit, einen Wandel herbeizuführen und wirtschaftlich schnell genug zu wachsen, um seine lang anhaltende Schuldenkrise zu überwinden.
Das Beharrungsvermögen bestimmter Interessensgruppen und eingefahrene Gewohnheiten verstärken sich in Europa seit Jahrzehnten. Ihre Wucht drängt einst dynamische Volkswirtschaften auf die Kriechspur ab. Die alten Fahrrillen sind mittlerweile so tief eingekerbt, dass ein Verlassen der gewohnten Bahnen schwierig geworden ist. Von den Bürokraten über die Unternehmer, von den Gewerkschaftlern bis hin zu den Rentnern vertreten die unterschiedlichsten Lobbygruppen vehement und nachdrücklich den Status Quo. Selbst wenn damit schon längst niemand mehr glücklich ist.
Sechs Jahre lang dümpelte die Eurozone mit ihren 18 Mitgliedsnationen in der wirtschaftlichen Flaute vor sich hin. Nun bewegt sich der Währungsverbund, Italien eingeschlossen, langsam aus der Talsohle. Optimisten sprechen schon davon, dass die Krise Europa aus ihren Fängen entlässt. Angesichts der Schwierigkeiten allerdings, mit denen die Länder bei der wirtschaftlichen Erneuerung konfrontiert sind, setzt sich bei Volkswirten und Unternehmenschefs eine ernüchternde Erkenntnis durch: Die Krise wurde nicht gelöst. Sie hat sich nur von einem akuten Anfall in einen chronischen Zustand verwandelt.
Eurozone hinkt weiter hinterher
Eine kraftlose Erholung nach einem langen Niedergang, sich bis zum Himmel türmende Schulden und eine hohe Arbeitslosigkeit versetzen Europa in die missliche Lage, möglicherweise ein verlorenes Jahrzehnt durchleiden zu müssen. Ein Jahrzehnt, in dem es für die Europäer nur humpelnd und schrittweise vorwärts geht, während einige andere Weltregionen forschen Schrittes davon marschieren. Immer noch liegt die Wirtschaft in der Eurozone um 2,7 Prozent unter dem Niveau, das Anfang 2008 erreicht worden war.
Für viele Europäer liegt der Grund für die Malaise klar auf der Hand: Jahre der strengen Sparpolitik haben die Nachfrage zum Erliegen gebracht und den Abschwung nach 2008 nur verlängert, sind sie überzeugt. Doch einige Ökonomen und politisch Verantwortlich graben tiefer. Woran Europa eigentlich kranke, sei der langfristige Rückgang der wirtschaftlichen Wachstumsraten auf dem Kontinent, argumentieren sie. Gesellschaften, deren Bevölkerung nicht zunimmt, können nur dann nachhaltig wachsen, wenn sie ihre Produktivität oder die Effizienz der Angebotsseite der Wirtschaft erhöhen. Doch dafür ist beständiger Wandel notwendig – die Achillesferse Europas.
Seit Mitte der 1990er Jahre schon habe sich der langfristige Produktivitätszuwachs der Eurozone verlangsamt, hatte die EU-Kommission im Januar gewarnt. Und die Krisenjahre hätten die Wachstumsfähigkeit der Region weiter in Mitleidenschaft gezogen.
Der Druck, der während der Schuldenkrise entstanden war, hatte einige Euroländer wie etwa Spanien oder Griechenland dazu gezwungen, unter anderem Reformen bei den Arbeitsmarktgesetzen und in stark reglementierten Industriesektoren vorzunehmen. Doch diese Neuordnungen werden allgemein bestenfalls als Teilerfolg gewertet. Und der Reformschwung hat sich seit den wildesten Ausbrüchen der Panik auf den Finanzmärkten mittlerweile auch schon wieder weitgehend verflüchtigt.
Will man die europäischen Probleme beleuchten, eignet sich Italien als überaus prägnantes Beispiel. Das Wachstum des Landes holpert und stolpert seit 20 Jahren vor sich hin. Seit 2008 ist die italienische Wirtschaft um neun Prozent geschrumpft. Und in diesem Jahr erweist es sich für die Italiener schon als schwierig, auch nur um ein Prozent zu expandieren.
Besitzstandswahrer hintertreiben die wirtschaftliche Erneuerung
Erzielt das Land kein höheres Wachstum, wird es schwierig werden, die Staatsverschuldung von mehr als 2 Billionen Euro oder 133 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in den Griff zu bekommen. Und wenn der Schuldenberg weiter zunimmt, könnten sich die Sorgen um die Zahlungsfähigkeit Italiens wieder Bahn brechen und erneut eine Kapitalflucht auslösen, die bereits in den Jahren 2011 und 2012 den Euro in der Luft zu zerreißen drohte.
Die Hoffnungen der Italiener richten sich nun auf Matteo Renzi. Er soll Italien aus der Sackgasse manövrieren. Der umtriebige 39-jährige Ministerpräsident war quasi über Nacht in sein neues Amt gelangt. Und er hat große Pläne für sein Land. Er will die Steuern senken und der Regulierungswut einen Riegel vorschieben. Doch trotz der großen Unterstützung, die Renzi in der Öffentlichkeit genießt, zweifeln selbst viele seiner Sympathisanten daran, dass er dem Wachstum des Landes auf die Beine helfen kann.
Im Kern drehe sich das Problem darum, dass Besitzstandswahrer im privaten und öffentlichen Sektor die wirtschaftliche Erneuerung hintertreiben. Darin sind sich viele Italiener einig. Sie verhinderten den notwendigen Wandel, bei dem überkommene Verhaltensweisen durch neue, wirksamere Ansätze ersetzt werden. Wiederholt schon hätten sie politische Versuche sabotiert, einen Umbau im Land auf den Weg zu bringen.
Das alles summiere sich zu „tief verwurzelten kulturellen Wachstumshindernissen", findet Professor Tito Boeri, der an der Mailänder Bocconi-Universität lehrt und zu den führenden Volkswirten Italiens zählt. „In Italien definiert sich deine Identität über deine Zugehörigkeit zu einer spezifischen Interessensgruppe", erklärt er. Daher ließen sich auch nur schwer Unterstützer für eine wie auch immer geartete Vorstellung von Allgemeinwohl mobilisieren.
Trotz ihrer beneidenswert lässigen Lebensart scheuen sich manche Italiener hartnäckig, neue Wege zu betreten. Kleinere Familienbetriebe, die unter der Fuchtel alternder Clanchefs stehen, schmettern Investoren, die von außen kommen, rundweg ab - auch wenn ihnen das Geld oder die Visionen fehlen, um dem Wettbewerb standhalten zu können. Vertreter reglementierter Berufsgruppen wie Anwälte und Apotheker wehren sich beständig mit Händen und Füßen gegen alle Versuche, ihre Kartelle aufzubrechen. Einflussreiche Bürokraten blockieren Jahre lang die Umsetzung neuer Gesetze. Und die Polit-Elite in Rom ist derart streitsüchtig, dass sich Regierungen im Schnitt kaum je länger als ein einziges Jahr in Amt und Würden halten.
Viele Familienbetriebe wollen nicht expandieren
Früher fiel das alles nicht so stark ins Gewicht. In der Nachkriegszeit wuchs die italienische Wirtschaft schnell – trotz mauernder Bürokraten, trotz der Unzahl winziger Unternehmen und trotz eines fragmentierten und oftmals korrupten politischen Systems. Aber damals war das Wachsen auch keine allzu große Kunst. Für die relativ armen Länder im Süden Europas genügte es im Großen und Ganzen, technische Errungenschaften stärker entwickelter Volkswirtschaften, wie etwa der USA, zu kopieren und sie dazu einzusetzen, Güter billig herzustellen.
Das Räderwerk einer fortgeschrittenen Volkswirtschaft in Bewegung zu setzen, erfordere dagegen einen gut funktionierenden Rechtsstaat, eine verlässliche öffentliche Verwaltung und mehr Kapital und Fachwissen, als viele Tante-Emma-Läden dies gewöhnlich vorweisen könnten, urteilt Fabiano Schivardi, ein Volkswirt an der Luiss-Universität in Rom. Er hat sich mit der Stagnation in einer ganzen Reihe von Industriezweigen in Italien auseinander gesetzt. „Unsere Institutionen waren gut genug für eine Wirtschaft, die am Aufholen war. Jetzt aber sind sie nicht mehr gut genug", sagt er.
Kulinarisch und in punkto Mode sind die Italiener kaum zu schlagen. Das beweisen einige der bekanntesten Namen der italienischen Unternehmenswelt: Prada, Ferrero und Luxottica LUX.MI -0,90% mischen weltweit erfolgreich mit. Doch nach Angaben der italienischen Notenbank Banca d'Italia beschäftigen 98 Prozent der italienischen Firmen weniger als 15 Angestellte.
Viele Eigentümer von Familienbetrieben wollten gar nicht expandieren. Sie nähmen mit der Belegschaft und den Kunden vorlieb, die sie bereits kennen und denen sie vertrauen, erklärt Matteo Bugamelli, leitender Analyst der Notenbank. „Oft steckt das gesamte Familienvermögen in der Firma. Und es besteht keine Risikobereitschaft, die zum Investieren und Wachsen aber notwendig wäre."
Dieses bescheidene Nischendasein wollte Roberto Zuccato hinter sich lassen. Dem Unternehmer aus Vicenza im wohlhabenden Nordosten Italiens schwebte vor, seiner Firma Ares Line zu größerem internationalen Einfluss zu verhelfen. Ares Line stellt Möbel für Büros und öffentliche Einrichtungen wie etwa Theater her. Die rund 90 Mitarbeiter erwirtschaften einen Jahresumsatz von 20 Millionen Euro. Der Branchenführer, die US-Firma Steelcase, SCS +0,18% kann dagegen jährliche Einnahmen über umgerechnet 2,1 Milliarden Euro vorweisen.
Bürokratische Irrungen und Wirrungen
Im Jahr 2005 schloss sich Zuccato mit einer Mailänder Beteiligungsgesellschaft zusammen und plante, mit Lokalrivalen aus Italien unter dem Dach einer Holding mit einem Umsatz von 100 Millionen Euro zu fusionieren. Ausgestattet mit frischem Kapital und unter Ausnutzung der Größenvorteile wollten sie in den Aufbau einer globalen Marke investieren. Sie sollte sich den Ruf Italiens zu Nutze machen, bei elegantem Design stets die Nase vorn zu haben.
Doch für den Fusionsgedanken konnten sich nur Unternehmen erwärmen, die selbst am Taumeln waren. Andere hielten an ihrer Eigenständigkeit fest, selbst wenn sie kein Wachstum erzielten, erinnert sich Zuccato. „Die Kultur hier ist es, padrone und Herr im eigenen Haus zu sein", führt er aus. Viele Familienunternehmer „vertrauen Außenstehenden nicht und bringen lieber den eigenen Sohn ins Geschäft, auch wenn der dazu nicht sonderlich gut qualifiziert ist." Im Jahr 2009 gab die Beteiligungsgesellschaft auf. Nach fruchtlosen Verhandlungen mit etwa 20 Firmen verkaufte das Private-Equity-Haus seine Investition in Ares Line wieder an Zuccato.
Bürokratische Irrungen und Wirrungen sind ein weiterer Faktor, der die Firmen an der Expansion hindert. Die Supermarktkette Esselunga hat mehrmals vergeblich Anlauf genommen, neue Läden zu eröffnen. Gescheitert sind die Vorhaben an verweigerten Baugenehmigungen und anderen Bewilligungen. Mittlerweile hat der Einzelhändler seine Pläne für Neueröffnungen zurückgeschraubt – obwohl der seit Ewigkeiten geplante Markt in Florenz nun in diesem Herbst endlich die Pforten öffnen wird.
Was Einheimische fuchst, kann ausländische Investoren völlig aus der Fassung bringen. British Gas zum Beispiel hatte sich mehr als zehn Jahre lang bemüht, die notwendigen Genehmigungen für ein 500 Millionen Euro schweres Gasimportterminal in Süditalien einzuholen. Im Jahr 2012 warf der Energieriese schließlich entnervt das Handtuch.
Caprotti kommt dieses Problem durchaus bekannt vor. „Wenn wir heute etwas auf dem Weg bringen, kann es 15 Jahre dauern, bis es durch ist", bestätigt er. „Und dann hast du den Kürzeren gezogen, weil du feststellst, dass die Größe oder der Standort nicht mehr hinhauen."
Und auch das italienische Gerichtswesen schreckt die Unternehmer ab. Im Schnitt dauert es mehr als drei Jahre, um ganz gewöhnliche Vertragsstreitigkeiten vor Gericht beizulegen. Und weitaus länger, wenn Berufung eingelegt wird. Italiens Juristen, die ihre französischen Kollegen zahlenmäßig um das Vierfache übertreffen, haben sich bisher standhaft allen Versuchen widersetzt, ein Justizwesen zu straffen, das langwierigen Verfahren Tür und Tor öffnet. Ende 2012 standen insgesamt 9,7 Millionen Fälle aus, teilte der Internationale Währungsfonds mit.
Angst als Antrieb für das Beharren auf dem Status Quo
Ebenso reformunwillig präsentierten sich häufig die italienischen Gewerkschaften. Ihr Aufstand verhinderte über Jahre hinweg, dass die staatliche Fluglinie Alitalia ihre Arbeitskosten senken und saniert werden konnte. Erst im vergangenen Herbst, als die Pleite der Fluggesellschaft unmittelbar bevorstand, stimmten die Arbeitnehmervertreter Lohnkürzungen und flexibleren Arbeitskonditionen zu.
Oft ist Angst der Antrieb für das sture Beharren der Gewerkschaften auf dem Status Quo. Überzählige, weniger qualifizierte Arbeiter könnten sonst vielleicht für immer vom starren italienischen Arbeitsmarkt ausgesperrt bleiben, fürchten sie.
Allerdings scheint in einigen Fällen ein Lernprozess eingesetzt zu haben. Natuzzi, einer der führenden Sofaproduzenten des Landes, musste sich auch erst eine Konfrontation mit den Gewerkschaften liefern, um sich über Wasser zu halten. Nach der Einführung des Euro sah sich der Möbelhersteller zusehends den Konkurrenten aus dem Ausland ausgesetzt, die billiger produzierten. Jahrelang unternahm das Management zu wenig, um die hohen Kosten unter Kontrolle zu bekommen – selbst als sich die Verluste häuften. Im Jahr 2013 einigte sich Natuzzi schließlich mit den Gewerkschaften auf eine Senkung der Arbeitskosten und bot hunderten Mitarbeitern eine Abfindung an, um weiter in Italien produzieren zu können.
„Wir können die Tatsache nicht leugnen, dass es Schwierigkeiten gibt", sagt Firmengründer Pasquale Natuzzi. „Aber sowohl seitens der Gewerkschaften als auch seitens der Wirtschaft ist man sich jetzt stärker bewusst", dass ein Wandel vonnöten ist, um das verarbeitende Gewerbe in Italien zu verteidigen, führt er weiter aus.
Die Forderungen der Unternehmen, die Arbeitskosten zu senken, kommen bei den Arbeitnehmern nicht gerade gut an. Nach dem langen Abschwung und verschiedenen Steuererhöhungen bleibt ihnen netto ohnehin schon weniger als früher. Das verfügbare Einkommen italienischer Privathaushalte ist gemäß den Angaben des staatlichen Statistikamts seit 2007 um 13 Prozent oder rund 2.400 Euro pro Kopf geschrumpft. In kaum einem anderen Land der Eurozone waren diese Einbußen so hoch wie in Italien.
Arbeit wird besonders hoch besteuert
Renzi hat die Senkung der Lohnsteuer zu einem seiner vorrangigsten Anliegen erklärt. In diesem Jahr soll sie um insgesamt 10 Milliarden Euro gekürzt werden, hat er versprochen.
Arbeit wird in Italien besonders hoch besteuert. Mitverantwortlich dafür ist der Umstand, dass Steuern, wie etwa Abgaben auf die Einkommen von Kleinunternehmen und Selbstständigen, durch die normalerweise die Lasten besser verteilt würden, weitgehend umgangen werden.
Italienische Unternehmer hinterziehen mehr als 50 Prozent der Ertragssteuern, die sie dem Staat schulden. Bei Kapitalerträgen liegt der Prozentsatz der Hinterziehungen gar bei 80 Prozent, schätzt die Banca d'Italia. Dass die Unternehmen beim Faktor Arbeit steuerlich so stark belastet werden, halte sie von Neueinstellungen ab und schwäche die Kaufkraft der Konsumenten, stellen Volkswirte fest.
Und selbst wenn Reformen von oben gesetzlich verordnet werden, heißt das noch lange nicht, dass sich deswegen tatsächlich auch etwas verändert. Bürokraten, die Gesetze mit Hilfe von Verwaltungsdekreten umsetzen müssen, schöben sie oft auf die lange Bank, weichten die Regelungen auf oder schrieben sie so lange um, bis keiner sie mehr verstehe, berichten Reformbefürworter in der Regierung. Als die Regierung von Enrico Letta im Februar abtrat, waren zwar rund 500 Gesetze verabschiedet, aber keines umgesetzt worden. Darunter befand sich auch eine Maßnahme, um die Zahl der Genehmigungen zu verringern, die Unternehmen brauchen, um ihr Geschäft aufzunehmen. Ein weiteres Gesetz beschäftigt sich mit der Digitalisierung bestimmter Vorgänge, um den Firmen die Behördengänge zu vereinfachen.
„Es gibt jede Menge Schwierigkeiten, der Bürokratie und der ganzen Staatsmaschinerie Beine zu machen", meint Graziano Delrio, Staatsekretär des Ministerpräsidenten. „Es gab da diesen Ansatz zu moderaten Änderungen, aber wir müssen einen Sprung beim gesamten Ablauf machen."
„In allen Bereichen fehlt oft das letzte Glied in der Kette, wenn es um die Umsetzung geht"
Der ehemalige Ministerpräsident Mario Monti hatte Anlauf genommen, den Dienstleistungssektoren, in denen die Gewinne der Etablierten durch Reglements geschützt werden, mehr Wettbewerb im Sinne der freien Marktwirtschaft einzuhauchen. Kaum hatte er den Reformvorschlag vorgelegt, traten die Taxi- und Fernfahrer, die Bahnarbeiter, Apotheker, Rechtsanwälte und Tankstellenbesitzer laut protestierend in den Streik. Sie bearbeiteten die Parlamentsabgeordneten, die Gesetzesvorschläge abzumildern. Doch selbst die entschärfte Fassung, die letztendlich verabschiedet wurde, habe kaum etwas bewirkt, weil die öffentliche Verwaltung sich nicht daran halte, erklärt Monti.
„In allen Bereichen fehlt oft das letzte Glied in der Kette, wenn es um die Umsetzung geht", sagt Monti zu seinen Reformanstrengungen. Er war nur 17 Monate lang als Ministerpräsident im Amt und stellt fest, dass er mehr Zeit gebraucht hätte, um es mit den unkooperativen italienischen Apparatschiks aufzunehmen. Doch er habe damals dringende haushaltspolitische Schritte einleiten müssen, um die italienische Schuldenkrise einzudämmen. „Eine Revolte der Bürokraten konnte ich mir da nicht leisten."
Einigen ausländischen Unternehmern dämmert gerade, wie hart es nach wie vor ist, auf den italienischen Markt vorzudringen. Die US-Transportfirma Uber zum Beispiel hatte im vergangenen Jahr ihren europaweit nicht ganz unumstrittenen Taxivermittlungsdienst in Italien an den Start gebracht. Das Start-Up bietet privaten Fahrern die Möglichkeit, ihren eigenen Wagen bei Uber anzumelden und dann Personen zu befördern. Die Fahrgäste ordern die Privatchauffeure über eine Smartphone-App herbei.
Die alteingesessenen italienischen Taxifahrer hätten die Uber-Fahrer wüst beschimpft, gibt der Neueinsteiger zu Protokoll. Die Gewerkschaft der Taxifahrer streitet ein aggressives Verhalten der Fahrer ab, verweist aber darauf, dass ihre Mitglieder ein Vermögen für ihre Taxi-Lizenzen bezahlt hätten. Derzeit koste eine Lizenz etwa 170.000 Euro. Sie böten eine öffentliche Dienstleistung an, die geschützt werden müsse.
„Während einer Phase des Umbruchs gibt es einige, deren Arbeitsplätze gefährdet sind. Und dann macht sich Protektionismus breit", meint dazu Benedetta Arese Lucini, Geschäftsführerin von Uber in Italien. „Leider hat Italien Angst davor, sich zu verändern."
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