Und das schnelle Denken Pegida-Fans, Brexit-Träumern und Trump-Wählern überlassen können.
Letzte Woche ist es wieder passiert.
In einer sehr wichtigen Frage hat ein Volk über seine Zukunft abgestimmt und und ungefähr die Hälfte davon vorher nicht genügend nachgedacht. Nach einem wochenlangen Brexit-Rausch, in dem die Hälfte der Briten von einem neuen Königreich träumte und sich für unbesiegbar und vollkommen unabhängig vom Rest der Welt hielt, kommt jetzt der #Bregret-Kater.
Turbulenzen an den Märkten, Chaos in den Parteien, Schottland und Nord-Irland sind wütend. Angst, dass alles teurer wird. Sprich: All das, was Brexit-Gegner stets vorausgesagt hatten, aber Millionen Briten nicht wahrhaben wollten. Die Wortführer Johnson und Farage sind abgetaucht bzw. räumen ein, dass ihre zentrale Wahlaussagen dreiste Lügen waren.
Als deutscher oder europäischer Demokrat fasst man sich an den Kopf, was zahlreiche Anti-EU-Wähler jetzt treuherzig in die TV-Mikrofone stammeln:
- „Ich verstehe erst jetzt, was Brexit heißt.“
- „Ich habe doch nur aus Protest so abgestimmt, ich wollte das ja nicht wirklich.“
- „Ich dachte, meine Stimme zählt nicht.“
Ich will hier nicht über die Briten lästern. Auch in Deutschland (Flüchtlingsthema), Frankreich (Rente mit 65), USA (Waffenrecht) gibt es zu bestimmten Fragen Debatten, die zwar sehr emotional geführt werden, aber gerade dadurch oft zu zweifelhaften Entscheidungen und Überzeugungen führen.
Daniel Kahneman’s Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ hilft hier weiter.
„Schnelles Denken, langsames Denken“ enthält 621 Seiten und 40 Kapitel, die jeweils von einem wichtigen Forschungsereignis handeln. Es basiert auf Erkenntnissen langjähriger Forschungsarbeiten. Der 79-jährige Kahneman gilt als einer der wichtigsten Wissenschaftler dieser Zeit. 2002 erhielt er gemeinsam mit seinem verstorbenen Forschungspartner Amos Tversky für die „Neue Erwartungstheorie“ den Wirtschaftsnobelpreis. Diese Theorie geht davon aus, dass in unsicheren Situationen kognitive Verzerrungen unser Verhalten maßgeblich beeinflussen.
Denn unsere Entscheidungen und Urteile werden im Gehirn durch zwei Denksysteme beeinflusst:
- Das erste System arbeitet völlig automatisch, stark assoziativ und ohne direkte Steuermöglichkeit. Wenn wir eine schnelle Entscheidung wollen, nutzt unser Gehirn dieses System.
Weil es so automatisch arbeitet ohne die Arbeit des Nachdenkens fällt uns diese Art zu „denken“ leicht und wir bevorzugen sie in vielen Situationen.
Viele Wahlkampfstrategen zielen auf dieses erste System mit Aussagen wie „Freiheit oder Sozialismus“ (CSU-Slogan aus den 50er Jahren), „Vote Leave“ (Kampagne der Brexit-Befürworter - Das zweite System denkt langsamer, weil es Informationen vorher prüft, nachrechnet und vergleichen kann.
Das ist anstrengender, was heißt, dass wir es oft vermeiden. Es sei denn, die Aufgabe ist wirklich wichtig für uns.
Aber das Gehirn ist faul. Es will immer Energie sparen und liefert uns deshalb oft Informationen und Lösungen aus dem ersten System. Darauf baut zum Beispiel Marketing und Werbung. Sie wollen einen guten Joghurt kaufen. Im Supermarkt stehen Sie vor zweieinhalb Regalmeter mit Hunderten von Joghurts. Wie lösen Sie diese Aufgabe?
Ihr Gehirn scannt mal kurz über die Reihen mit den verschiedenen Joghurtbechern drüber und liefert Ihnen mit dem ersten System eine Lösung: „Hier der große Bauer-Joghurt. Der ist bekannt. Der muss gut sein.“ Und schon landet er in Ihrem Einkaufskorb. Denn mit dem zweiten System würden Sie jetzt anfangen, die Inhaltsstoffe zu lesen, hätten nach einer Viertelstunde sieben Joghurts in der engeren Wahl … aber Sie wollten noch was anderes kaufen als Joghurt. Also viel zu anstrengend.
Bei dem britischen Referendum hätte sich ein Wähler mit den Vor- und Nachteilen einer EU-Mitgliedschaft befassen müssen. Also etliche Zeitungsartikel lesen müssen. Die Debatten im Unterhaus verfolgen. Mit guten Freunden diskutieren. Und sich dann eine eigene Meinung bilden … viel zu anstrengend. Besser die Lieblingszeitung mit den großen Schlagzeilen lesen (siehe oben) und man glaubt, Bescheid zu wissen.
Auf komplexe Fragen gibt es aber keine einfachen Antworten.
Das ist einfach die Krux in vielen Lebensbereichen. Die Problemlagen sind verzwickt, vielschichtig und mehrdeutig. Und wir müssen uns trotzdem dauernd entscheiden. Denn wenn wir uns für keine Alternative entscheiden, wählen wir automatisch den Status quo. Und komplexe Situationen gibt es zuhauf:
- Griechenland retten oder gegen die Wand fahren lassen?
- Sollen wir Flüchtlinge aufnehmen? Wenn ja, wie viele?
- Unser Kind impfen lassen oder besser nicht?
- Wie lebt man gesund? Vegetarisch, vegan, glutenfrei?
- Welche Versicherung brauche ich, welche nicht?
- Ist der Brexit Fluch oder Segen?
Keiner kennt die Wahrheit. Und alle Experten haben für ihre jeweilige Position gute Argumente. Entscheiden muss aber jeder für sich. Dabei hilft Ihnen Ihr erstes System. Denn für komplexe Situationen kennt es einfache Lösungen. Meist natürlich durch das Weglassen relevanter Informationen und das Überbetonen von unwichtigen Informationen. Kahnemann nennt das kognitive Verzerrungen. Die wichtigsten sind diese hier: dem
Der Halo-Effekt.
Damit wird ein Wahrnehmungsfehler bezeichnet, bei dem einzelne Eigenschaften einer Person oder einer Sache so stark auf uns wirken, dass sie einen dominierenden Gesamteindruck erzeugen und andere Eigenschaften überstrahlen. Deshalb auch „Halo“ (englisch für Heiligenschein) Effekt. Wir schließen also von den bekannten Eigenschaften einer Person oder einer Sache auf deren unbekannte Eigenschaften.
- Wer Anlegern mit einem dubiosen Geldanlage reinlegen will, braucht vor allem ein repräsentatives Büro in einer teuren Lage, ein repräsentatives Auto à la Porsche, Aston Martin, Jaguar vor der Tür. Die Interessenten vertrauen diesem Anbieter mehr als einem, der ein Büro in einer Etagenwohnung betreibt und einen Ford Fiesta fährt.
- Weil Boris Johnson ein beliebter Bürgermeister Londons war, glaubten ihm viele seine Argumente beim EU-Referendum.
- So funktionieren auch Trickfragen: Fordert man einen Menschen auf, zehnmal hintereinander „weiß“ zu sagen und fragt anschließend: „Was trinkt die Kuh?“ antworten die meisten antworten dann mit „Milch“. Da siegt das System 1 locker über das Denksystem 2.
Der Glaube an das Gesetz der kleinen Zahl.
Das ist die Tendenz, Informationen zu vertrauen, obwohl die Stichproben, auf denen sie basieren, viel zu klein sind, um zuverlässige Daten zu liefern.
- Bei der Geldanlage vertrauen viele Anleger Bestenlisten.
Steht ein Fonds drei Jahre in Folge auf den vorderen Plätzen einer Rangliste, so glauben viele, dass dieser Fonds wirklich gut sein muss. Doch bleibt es ein zufälliges Ereignis, weil es nur eine kleine Stichprobe – drei Jahre – abbildet. Mit dem schnelln Denken und dem ersten System denken wir aber automatisch: „Drei Jahre hintereinander Platz Eins – das kann doch kein Zufall sein!“ Ist es aber doch. - Erfolge von angeblichen Wunderheilern machen oft Eindruck und verheißen Schwerkranken Hoffnung. Meist können sie aber keine Studien vorweisen, die ihre Wirksamkeit belegen, sondern verweisen auf Einzelfälle. Mit dem Gesetz der kleinen Zahl neigt man dazu, diesen zu vertrauen, obwohl vielleicht die Stichprobe nur 5 Patienten umfasst.
Der Verfügbarkeitsfehler.
Hierbei wird ein Urteil stark davon beeinflusst, wie verfügbar dieses Ereignis oder Beispiele ähnlicher Ereignisse im Gedächtnis sind. Ereignisse, an die wir uns sehr leicht erinnern, scheinen uns daher wahrscheinlicher zu sein als Ereignisse, an die wir uns nur schwer erinnern können.
- Ein Terroranschlag in den letzten Wochen, bei dem vielleicht 300 Menschen umkommen, macht uns mehr Angst als die Information, dass etwa genauso viele Menschen durch Züge kommen.
- Nach den Anschlägen 2001 in New York nutzten viele Amerikaner in den Folgemonaten lieber das Auto statt ein Flugzeug. Daraufhin starben im folgenden Jahr 1600 Menschen mehr im Straßenverkehr.
- Angela Merkel hätte den kompletten Ausstieg aus der Atomenergie wohl nicht ohne das verheerende Unglück von Fukushima geschafft.
Der Ankereffekt.
Bei Entscheidungen, bei denen wir kaum oder keine Informationen haben, lassen wir uns oft von momentan vorhandenen Umgebungsinformationen beeinflussen, ohne dass uns dieser Einfluss bewusst wird.
- In einem naturwissenschaftlichen Museums in San Francisco wurden Besuchern zwei Fragen gestellt:
„Beträgt die Höhe des größten Küstenmammutbaums mehr oder weniger als 366 Meter?“
„Wie hoch ist Ihrer Meinung nach der größte Küstenmammutbaum?
Im Schnitt schätzten die Besucher die Größe auf 257 Meter.
Einer anderen Gruppe von Besuchern wurde diese Frage in abgewandelter Form gestellt:
„Ist der größte Mammutbaum höher oder niedriger als 55 Meter?
Jetzt betrug die durchschnittliche Schätzung 86 Meter.
Verantwortlich für die unterschiedliche Schätzung ist die jeweils vorgegebene Bezugsgröße – 366 oder 55. - Geschäfte versehen ihre Waren oft mit einem Preis wie 1,99 € oder 199,00 €.
Auch dieser Preis scheint uns günstiger als die volle Summe, weil der Preis vor dem Komma als Anker wirkt. - Bei einer Gehaltsverhandlung oder beim Honorar eines Beraters oder Coaches kann es klug sein, eine höhere Summe zu nennen, damit Ihr Gegenüber Ihre Arbeitsleistung nicht mit dem Anker „billig und nichts wert“ verbindet. Aber Vorsicht vor Übertreibungen.
- In einem Experiment verurteilten erfahrene deutsche Richter eine Ladendiebin zu einer höheren Haftstrafe, wenn sie zuvor eine hohe Zahl gewürfelt hatten.
Selbstüberschätzung
Bei dieser kognitiven Verzerrung überschätzen wir unsere angeblichen Kenntnisse und vernachlässigen systematisch die Rolle des Zufalls.
- Wer mit 55 Jahren keine gesundheitlichen Probleme hat, erklärt das vielleicht so: „Ich bin gesund, weil ich nicht rauche, keinen Alkohol trinke, mich vegetarisch ernähre und regelmäßig Sport mache.“
Doch es gibt Hunderttausende auf der Welt, die genauso leben und Herzinfarkt, Krebs oder andere Krankheiten haben. - Statistiken zeigen, dass die Aktienanlage in gut gemanagten Fonds keinen Vorteil bringt. Meist ist eine Geldanlage nach dem Index lukrativer. Und noch besser ist es, gar nichts zu wissen und völlig willkürlich sein Portfolio zu bestücken.
- Hundertjährige werden anlässlich ihres Geburtstags oft interviewt und nach ihrem persönlichen Rezept für ein langes Leben gefragt. Heraus kommen dann Tipps wie „Zigaretten, Whisky und wilde Frauen!“
- Donald Trump’s Pläne für das angestrebte Präsidentenamt zeigen auch ein hohes Maß von Selbstüberschätzung. Doch Millionen von Wählern, die langsames Denken scheuen, glauben ihm.
Warum Sie für bessere Entscheidungen anders denken müssen.
Unser Denksystem 1 überrumpelt permanent das Denksystem 2. „Ist doch alles ganz einfach!“ flüstert es uns zu. Das schnelle assoziative Denken ist in in unseren Gehirnen die Regel. Lassen sich also Fehlentscheidungen überhaupt vermeiden?
Vermutlich nicht. Wir müssen akzeptieren, dass es dieses intuitiv arbeitende System 1 gibt, meint Kahneman. Erst dann können wir besser mit ihm umgehen. „Wenn wir an uns selbst denken, identifizieren wir uns mit System 2, dem bewussten, logisch denkenden Selbst, das Überzeugungen hat, Entscheidungen trifft und sein Denken und Handeln bewusst kontrolliert.“ Doch Kahneman zeigt in seinem Buch, dass System 1 oft auf unserem inneren Regiestuhl sitzt. „Darin entstehen spontan die Eindrücke und Gefühle, die die Hauptquellen der expliziten Überzeugungen und bewussten Entscheidungen von System 2 sind.“
System 1 greift auch deswegen so oft in unser Denken und Handeln ein, weil es nicht abgeschaltet werden kann. Es ist angeboren und arbeitet schnell und mühelos. Wir haben damit überlebt. System 2 hingegen muss willkürlich eingeschaltet werden.
Hier helfen zwei Strategien:
- Achtsamkeit.
Wenn Sie sich angewöhnen, wichtige Entscheidungen nicht gleich aus dem Bauch heraus zu treffen, sondern erst einmal eine Weile in sich zu bewegen, schalten Sie damit das System 2 ein. Und erfassen schnell, wie komplex die Situation ist.
Aber: dieser Weg führt auch raus aus der Komfortzone. Ist also mühsam und anstrengend und zeitraubend. - Das Modell des inneren Teams.
Damit erleben Sie schnell, dass es in Ihnen bereits verschiedene Repräsentanten gibt, die etwas zu der zu treffenden Entscheidung etwas sagen können. Zum Beispiel vielleicht eine solche Runde:- Den „Abenteurer“, der das Risiko liebt und langes Nachdenken spießig findet. („No risk, no fun.“)
– Den „Bedenkenträger“, der zu jeder Meinung noch ein Aber-Argument hat. („Aber wir müssen bedenken …“)
– Den „Macher“, der langes Diskutieren hasst und Action mag. („Wie lange wollen wir hier noch nutzlos herumsitzen?“)
– Den „Kritiker“, der keine eigenen Vorschläge macht aber vor denen der anderen warnt. („Das wird nicht klappen!“)
– Das „Kind“, dem das alles zu lange dauert, das Angst hat, eigene Entscheidungen zu treffen. („Ich will jetzt spielen.“)
– Den „Kreativen“, der viele gute, aber auch verrückte Ideen produziert. („Warum machen wir nicht einfach Folgendes…“)Das Entscheidende beim Inneren Team ist:
Sie sind der Boss, Sie sind die Chefin. Die einzelnen Teile sind nur Berater, die die Lage aus ihrer jeweils subjektiv beschränkten Sicht betrachten. Aber das Anhören und Abwägen wird Ihnen helfen, eine fundiertere Entscheidung zu treffen.
Fazit:
Der Mensch ist oft zu faul zum gründlichen Nachdenken und entscheidet lieber aus dem Bauch heraus. Doch damit tut er sich und manchmal der Gesellschaft keinen Gefallen. Hier zwei Beispiele.
Wie viel Geld man für die Altersrente zurücklegt, sollte man eigentlich durch langsames, abwägendes Nachdenken entscheiden. Doch man kann auch etwas nachhelfen wie beim den amerikanischen Betriebsrenten: Früher wurden die Arbeiter gefragt, ob sie im nächsten Jahr einen größeren Teil ihres Lohns fürs Alter sparen möchten – aber nur wenige willigten ein. Heute steigen die Beiträge automatisch – und die Arbeiter werden nur gefragt, ob sie wieder weniger sparen wollen. Das Ergebnis: die Sparquote steigt – und die Gefahr der Arbeitsarmut sinkt.
So auch bei der Organspende: Wenn die Menschen – wie in Deutschland – angeben müssen, dass ihre Organe nach dem Tod genutzt werden dürfen, ist die Quote an Organspendern sehr niedrig. Muss man sich ausdrücklich dagegen entscheiden – wie in Österreich – liegt die Spenderrate bei fast 100 Prozent.
In beiden Fällen wird die Entscheidung, wie so oft, intuitiv gefällt: spontan, aus dem Bauch heraus, emotional, anfällig für Ablenkungen. Allzu gerne verlässt man sich dabei auf die vorgegebene Antwort, denn sie erscheint einem als die „normale“.
Vielleicht zählen Sie sich ja zu den Ausnahmen. Also, halten sich für einen aufgeklärten, nachdenklichen Menschen und nicht für einen denkfaulen. Dann beantworten Sie doch mal schnell diese Frage:
Ein Ball und ein Schläger kosten zusammen 1,10 Dollar. Der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball. Was kostet der Ball?
Zehn Cent?
Ja, das antworten regelmäßig 80 Prozent der Befragten.
Doch richtig sind natürlich fünf.
Wann haben Sie schon mal Ihr schnelles Denken bereut?
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Bild: © www.cartoon4you.de
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