Warum man Irkutsk lieben muss. Teil 3: Das Wetter.

Drei Tage bleiben mir noch. Um deshalb nun nicht im Abschiedsschmerz über Leute, Alltag und Natur schreibend zu vergehen, ziehe ich das Thema der Mehrzahl aller der reinen Höflichkeit halber geführten Small-Talks vor: Das Wetter.

Auch hier in Sibirien spricht das gemeine Volk gerne darüber. Ganz wie bei uns. Und meistens ist es dabei zu heiß, zu kalt, zu windig, zu schlecht. Nur zu gut nie. Ganz wie bei uns. Der oft unverhofft in den Genuss eines solchen Gesprächs kommende fremde Mensch ist dabei aber meist eines: wildfremd. Besonders die Babuschkas, die betagten und rabiat-willenskräftigen aber einigermaßen lieben russischen Großmütter, habe ich schon gleich am Anfang in mein Herz geschlossen. Erkennt im Laufe eines kurzen Wortwechsels dann eine dieser eloquenten Amazonen noch, dass ein sie einen Ausländer am Haken hat, kann es sein, dass das Gespräch geschickt vom Wetter in Richtung „hübsche, junge Enkelin“ und ihrer Handynummer gelenkt wird. Ach so, ich schweife ab.

Zurück zum Wetter, also. Ich weiß genau, dass meine südtiroler Leser derzeit im Regen sitzen. Ehrlich gesagt blicke ich mit ein wenig Neid in meine Heimat. Erst vor ein paar Stunden bin ich auf dem Heimweg aus dem Stadtzentrum von einer Art Staubsturm überrascht worden: Plötzlich kam ein starker Wind auf, der am Anfang zwar die Hitze linderte, dann aber den Staub und Dreck aus der Umgebung und der Stadt selbst aufwirbelte und alles in ein diffuses, unwirkliches Licht tauchte. Atmen war übrigens nicht wirklich angenehm. Und die Augen aufzureißen auch nicht.

Das ist der Nachteil, wenn man so gut wie jeden Morgen von strahlend blauem Himmel begrüßt wird. In Irkutsk ist es im Vergleich zu Mitteleuropa und sogar im Vergleich zum Vinschgau (ein Gruß dorhin) staubtrocken – aber sonnig. Natürlich weiß ich nach vier Jahren Studium in Salzburg schönes Wetter zu schätzen (und damit auch ein Gruß nach dort), dennoch ist mein Klagen auf hohem Niveau verständlich, wenn man sich vorstellt, wie sehr man sich Sonne nach wochenlangem Regen wünscht. Bei mir ist es halt umgekehrt. Damit wäre der erste Sibirien-Mythos aus dem Weg geräumt.

Und noch ein sich im Westen festgesetztes Bild, das entweder ganz und gar nicht oder nur bedingt zur sibirischen Realität passt: Schnee gibt es verhältnismäßig wenig. Ewas mehr im Osten und Westen, wenig im Norden und Süden Sibiriens. So hat es in Irkutsk den ganzen Winter über gerade einmal 30 oder 40 Zentimeter geschneit. Das reichte übrigens vollkommen: der Müll verschwand, die Stadt war weiß, die Loipen konnten gespurt und die Skipisten präpariert werden. Als ich mich Ende April schon längst vom Winter verabschiedet hatte und die Tage im T-Shirt durch die Stadt streundend verbrachte, wütete ein 24-stündiger Schneesturm über der Stadt, entwurzelte Bäume, kappte Stromleitungen (was der Nachtschwärze etwas Apokalyptisches gab) und legte Mobilfunk- und Internetverbindungen und den Verkehr auf Straße, Schiene und in der Luft lahm. Der Schnee, der fast einen halben Meter hoch lag, brauchte mehr als eine Woche um zu tauen. Dann aber ging alles ganz schnell: innerhalb von wenigen Tagen ergrünte Ende Mai die ganze Stadt. Genau zu dieser Zeit war ich in der Mongolei unterwegs – und traute meinen Augen kaum, als ich nach sechs Tagen in ein völlig anderes Irkutsk zurückkehrte. Man muss hier auf alles gefasst sein.

Und hier noch ein letztes Sibirien-Klischee, das ich aus dem Weg geräumt wissen möchte: In Sibirien ist es nicht immer kalt. Zugegeben, von Ende Oktober bis Anfang März herrscht Dauerfrost. Man gewöhnt sich aber daran – minus dreißig oder gar minus vierzig Grad fühlen sich zwar immer noch eiskalt an – ein gewisser „Spaßfaktor“ macht diese Kälte aber erträglich. Und minus zwanzig Grad nahm ich schon als „warm“ wahr – am Körper und im Kopf. Außerdem scheint so gut wie immer die Sonne; sie wärmt zwar nicht, verbessert aber die Laune. Von der Salzburger Winterdepression keine Spur.

Und noch eine gute Seite der Eiseskälte: Was war es ein freudiges Ereignis, als die Minustemperaturen das erste Mal einstellig wurden – von den Glücksgefühlen ganz zu schweigen, als die Lufttemperatur zum ersten Mal in den positiven Bereich rutschte. Diese Aneinanderreihung der „erfreuenden ersten Male“ kann fast endlos weitergeführt werden: zum ersten Mal ohne Kopfbedeckung, zum ersten Mal ohne Daunenjacke, zum ersten Mal ganz ohne Jacke, zum ersten Mal im T-Shirt und zum ersten Mal in kurzen Hosen. Letzteres liegt übrigens erst zwei Wochen zurück.

Aber zurück zum Kälte-Klischee: Von Anfang Juni bis Anfang September ist es sommerlich warm bis heiß in Irkutsk. Wirklich. Die Hitze hier nehme ich aber anders wahr als in Europa – sie ist angenehmer. Dadurch, dass die Luft so trocken ist, empfindet man hohe Temperaturen als weniger drückend. Einzig durch die Sonne, die hier unvergleichbar kräftig vom Himmel brennt, kommt man ins Schwitzen. Gut, dies spricht nicht der ganzen Wahrheit: Die öffentlichen Transportmittel könnte man gut und gerne zu rollenden Banjas (russ. Sauna, Anm.) umfunktionieren. Das wär’ doch was.

Um ein Fazit zu ziehen: Das Wetter hier in Irkutsk empfinde ich als sehr ansprechend – es macht sogar gute Laune. Und dabei kann man auch bei den unangenehmen Seiten – dem langen Winter und den häufigen „Überraschungen“ – ein Auge zudrücken. Ja, Irkutsk muss man sogar des Wetters wegen lieben.



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