Warum man Irkutsk lieben muss. Teil 2: Die Stadt.

Irkutsk, Irkutsk. Irgendwie findet diese Stadt ein Mittelding: Irkutsk ist nicht zu groß und nicht zu klein; nicht zu schön, nicht zu hässlich; nicht zu sauber, nicht zu dreckig; nicht zu reich, nicht zu arm. Irkutsk ist weder zu russisch, noch zu asiatisch. Irgendwie hat Irkutsk ein gutes Maß an allem.

„Irkutsk – seredina semli“ – „Irkutsk – die Mitte der Erde“, diese Bezeichnung trifft den Nagel auf den Kopf. Das geographische Zentrum Asiens liegt ein wenig südwestlich von Irkutsk, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zentren Russlands dagegen befinden sich einige tausend Kilometer weiter im Westen. Dies alles bedingt, dass diese meine Stadt an der Angara etwas Besonderes ist: eigenständig und etwas eigenwillig, provisorisch und planlos, grellbunt und traurig grau.

Beginnen wir mit den erstgenannten Eigenschaften: eigenständig und etwas eigenwillig. Der gemeine Irkutjaner (und die gemeine Irkutjanerin) versteht sich in erster Linie als Sibirjake (bzw. Sibirjakin) und nicht als Russe (oder Russin). Russland hat es nicht allzu leicht in Sibirien. Das war schon immer so. Seit der Einverleibung Sibiriens in das russische Reich während des 16. und 17. Jahrhunderts gab sich das Land jenseits des Urals als trotziges und aufmüpfiges Kind. Durfte es auch; und darf es bis heute. Stellt es doch (nach der größmöglichen Definition) drei Viertel des gesamten russischen Staatsgebiets dar. Erdöl und Erdgas, Kohle, Gold, Diamanten, Holz und so weiter – der Großteil der russischen Naturressourcen sind in Sibirien zu finden. Deshalb verwundert es auch nicht, dass hier eine chronische Abneigung gegen den russischen Staat herrscht. Dieser wird als Ausbeuter wahrgenommen, der viel nimmt, aber wenig gibt – in finanzieller, als auch politischer Hinsicht. Dass vom Staat Gutes zu erwarten ist, von diesem Gedanken haben sich die Menschen hier schon vor einiger Zeit (und besonders seit den 90er Jahren) verabschiedet. Aufgrund dessen hat sich, so mein Eindruck, hier in Sibirien (Irkutsk eingeschlossen) eine sich vom restlichen Russland unterscheidende Gesellschaft etabliert. Ich empfinde sie als flexibler und wandlungsfähiger – das verlangen schließlich die Lebensumstände hier-, als toleranter und aufgeschlossener. Seit Jahrhunderten leben in Sibirien über 100 verschiedene Völker mit von Grund auf unterschiedlichen Kulturen und Religionen miteinander. Konflikte gibt es aber so gut wie keine. In Irkutsk werden die Burjaten, ein mit den Mongolen verwandtes Volk, seit jeher „brat’ja“ – „Brüder“ genannt. Das bezeichne ich als einzigartig.

Eigenwilligkeit herrscht auch auf der lokalen politischen Bühne. Wie es um die Politik in Russland steht, ist bekannt: Es dominiert die Partei „Geeintes Russland“. Sie stellt u.a. den Präsidenten (Dmitrij Medwedjew) und den Premier (Wladimir Putin), so gut wie alle Gouverneure und Präsidenten in den Regionen und Republiken, sowie einen Großteil der Bürgermeister bedeutender Städte.

Als die Einwohner von Irkutsk vor gut einem Jahr zu den Urnen gerufen wurden, um einen neuen Bürgermeister zu wählen, zweifelte niemand an einen Sieg von Sergej Serebrjannikow, dem Kandidaten von „Geeintes Russland“. Es kam aber anders: als Sieger ging Wiktor Kondraschkow, Mitglied der Kommunistischen Partei, hervor. Sein Name wurde von über 60 Prozent der Wähler angekreuzt. Nicht einmal 30 Prozent aller Stimmen konnte der Verlierer Serebrjannikow für sich verbuchen (übrigens erinnert mich schon sein Nachname an die „Silber“medaille). Nach dem Sieg des Außenseiters war Irkutsk, vor allem aber die junge Bevölkerung, im Freudentaumel, wie mir eine russische Freundin erzählte. Die Jugend hatte für den Sieger Kondraschkow massiv die Werbetrommel gerührt, Kampagnen gestartet und sogar über Sozialnetzwerke für ihn geworben. „Wir wollten einfach den Wechsel“, sagte sie. Und es hat geklappt. Daran änderte auch der (meiner Meinung nach nicht ganz freiwillige) Wechsel Kondraschkows in die Reihen der Partei „Geeintes Russland“ nichts. Nach wie vor ist man zufrieden mit dem neuen Bürgermeister.

Ich bin es übrigens auch. In den letzten Monaten hat sich in der Stadt einiges getan. An allen Ecken und Enden wird repariert, saniert, restauriert und gebaut. So langsam, so mein Eindruck, verwandelt sich Irkutsk wirklich in eine lebenswerte Stadt.

Diese Entwicklung lässt all das Provisorische – das im Übrigen den Charakter Irkutsks mitbestimmt – in den Hintergrund treten. Ehrlich gesagt, mag ich die Provisorien in Irkutsk. Sie verleihen der Stadt etwas Besonderes, so meine ich. Da gibt es zum Beispiel das eine große Areal im Stadtzentrum, wo früher eine Fabrik ihre dunklen Rauchschwaden über Irkutsk wehen ließ. Die Fabrik, sie steht noch, ist aber schon seit Jahren von einem Bauzaun umgeben und es tut sich - nichts. Da gibt es die nicht asphaltierten Nebenstraßen in den abgelegeneren Stadtvierteln, die den Fahrzeugen bei Regen den speziellen „Schaut-her-ich-war-in-der-Taiga-unterwegs-Look“ verleihen und bei Wind Staubwolken über die Stadt jagen lassen. Da gibt es das eine Gebäude, in dessen Supermarkt ich hin und wieder einkaufe – und ich kann mich noch genau daran erinnern, dass die Fassade noch im September 2009 nicht fertiggestellt war. Und auch heute noch schnuppert die bloße Isolierung frische Luft.

Frische Luft in einem sanierten Park zu schnuppern, darauf müssen die Bewohner des südlichen Stadtzentrums wohl noch eine Weile warten. Die manchmal herrschende Planlosigkeit in Irkutsk, die bringt mich immer wieder zum Staunen. Da wurde vor vier Jahren der Beschluss gefasst, den eher an eine Urlandschaft erinnernden „zentral’nyj park kul’tura i otdycha“ („Zentraler Park der Kultur und Erholung“) von Grund auf zu sanieren. In diesen vier Jahren wurden sage und schreibe zweieinhalb Millionen Euro in die Umgestaltung investiert – und vor ein paar Monaten der Beschluss gefasst, die Arbeiten einzustellen. Der offizielle Grund: Ein einheitlicher Plan fehlte. Es wurde demnach einfach darauflos gegraben und gebaggert; und gleichzeitig wanderte eine schöne Summe sicherlich in die Taschen von Bauunternehmern und Beamten. Das Thema „Korruption“ gibt übrigens Stoff für einen ganzen Eintrag.

Aber zurück zur Planlosigkeit. Beispiele dafür gibt es noch eine ganze Reihe: Straßen, die innerhalb eines Monats zwei Mal neu geteert werden, illegal aufgebaute kleine Garagen, die jedes Jahr zu Hunderten von der Stadtverwaltung enfernt werden und Projekte, die mit großem Trara angepriesen werden um alsdann wieder von der Bildfläche zu verschwinden (Tunnel durch das Zentrum, Gondelbahn über die Angara).

Nun zu den letzten zwei Merkmalen, die Irkutsk zu etwas Besonderem machen: grellbunt und traurig grau. Grellbunt trifft den nationalen Geschmack, so scheint es: Autos in giftgrün oder schweinchenrosa, Haarfarbe, Schminke und Kleidung einiger offensichtlich äußerst selbstbewussten Irkutjanerinnen und jegliche Art von Festtagsschmuck in Form von Fähnchen und blinkenden Lichtern – das russische Herz lacht, das europäische Auge schmerzt. Dem gegenüber macht auch traurig grau das Gesicht Irkutsks aus. Die farblosen Plattenbauten aus der Sowjetzeit und jene Menschen, mit ausdruckslosen und aufgedunsenen Gesichtern auf der Bordsteinkante sitzend, verleihen der Stadt etwas Schweres. Das bunte Stadtzentrum kriegt davon nichts mit.

Ja, Irkutsk ist eine besondere Stadt. Trotz all der Unzulänglichkeiten ist sie vor allem eines: ehrlich, direkt und unkompliziert. Und auch wenn ich etwas kritisch war – es fällt schwer, diese Stadt nicht zu lieben.  Neun dafür Tage bleiben mir noch.



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