Ich habe auch noch keine richtige Antwort.
Schwierige Frage.
Fragt man Kinder, so antworten die meist damit, dass man dazu die Schule absolviert haben muss, sein eigenes Geld verdient, wählen darf, verheiratet ist und eine eigene Familie hat.
Das sind sicher wichtige Stationen, entsprechen sie doch den gesellschaftlichen und staatlichen Erwartungen. Vielleicht muss man noch hinzufügen: Erwachsen ist man, wenn man Steuern zahlt.
Fragt man die eigenen Eltern, woran sie merken, dass ihr Sohn oder ihre Tochter erwachsen ist, schauen sie einen vielleicht leicht irritiert an. (Sie können das beim nächsten Besuch ja mal ausprobieren).
Die meisten erwachsenen Menschen erleben ja wenn sie mit den Eltern oder einem Elternteil Kontakt haben eine unerwünschte Verjüngungskur.
Kaum sitzt man eine Viertelstunde am Küchentisch oder im Wohnzimmer, beginnt eine seltsame Verwandlung. Die erfolgreiche Abteilungsleiterin oder der gutverdienende Lehrer verwandeln sich auf magische Weise in folgsame oder auch rebellische Jugendliche.
Das passiert meist von ganz allein. Oft hat es aber auch mit den ersten Kommentaren der Eltern zu tun, nachdem man das Haus betreten hat. Je nach dem Beziehungsstatus hört man dann Sätze wie:
- "Schön, dass Du Dich auch mal wieder blicken lässt."
- "Du musst mal wieder zum Friseur!"
- "Kann man denn davon leben?"
- "Uns geht's naja. Aber das interessiert ja keinen."
- "Isst Du auch genug? Du siehst schmal aus."
- "Du bist mal wieder viel zu dünn angezogen."
- "Von Deiner Schwester/Deinem Bruder hört man ja gar nichts."
- "Probier doch einfach mal!"
- "Von mir hast du das nicht"
Und kann bei sich beobachten, dass man darauf reagiert. Entweder mit oft geäußerten Erklärungen oder Rechtfertigungen. Oder mit trotzigem, spätpubertärem Widerstand, der die Kommunikation in Bahnen lenkt, die man schon vorher kennt.
Älter wird man von allein. Aber erwachsen werden ist nicht leicht.
Meine eigene Definition dieses erstrebenswerten Lebensziel hat viel mit dem Thema "Ablösung" zu tun. Speziell für nicht-erwachsene Männer - habe ich ja ein ganzes Buch geschrieben. Leider lesen es selten die beschriebenen Männer. Es sind vor allem die Partnerinnen dieser Muttersöhne, die dafür sorgen, dass das Buch seit 2011 vom Verlag immer wieder nachgedruckt wird.
Ablösung bedeutet nach der Erfahrung mit meinen Eltern und aus der therapeutischen Arbeit mit vielen Seminarteilnehmern und Klienten, dass man sein eigenes Leben gut abgegrenzt lebt und einen angemessenen Kontakt zu den Eltern pflegt.
Das ist alles andere als leicht.
Wie löst man sich von den Eltern, mit denen man auf eine einzigartige, existenzielle Weise verbunden ist? Leichter zu beschreiben ist, wie man sich nicht löst. Nämlich dadurch:
- Dass man von ihnen noch etwas erwartet.
- Dass man sie durch rüdes Benehmen bestraft.
- Dass man darauf wartet, dass sie etwas einsehen oder sich für etwas entschuldigen.
- Dass man darauf drängt, dass sie sich endlich ändern.
- Dass man sie verachtet oder hasst.
Umgekehrt kann mal also sagen, man löst sich von seinen Eltern, indem man sie akzeptiert, wie sie sind. Normale Erwachsene, die das Beste versucht haben - im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten.
Dieser Schritt ist leicht gesagt, aber je nachdem, was sie einem vermeintlich angetan haben, kann das ein schwerer Brocken sein. Aber die Ablösung ist wichtig und notwendig - nicht für die Eltern. Für einen selber ist es wichtig, sich von den Eltern zu lösen.
Sonst bleibt man sein Leben lang - vor allem innerlich - das Kind. Und muss immer brav sein. Oder durch viel Leistung beweisen, wie tüchtig man ist. Oder durch pubertäre Aktionen zeigen, dass man sich von niemandem etwas mehr sagen lassen wird.
PS: Zu dem Cartoon wurde ich übrigens durch meine Mutter angeregt. Die Szene hat sich gestern auf dem Parkplatz des Supermarkts genauso abgespielt. Vielleicht zur Erläuterung: meine Mutter ist 95 und ich bin 66.
Manchmal raunzen einen ja gestresste Mütter mit drei Kindern und einem vollen Einkaufswagen an, wenn man auf dem Mutter-Kind-Parkplatz sein Auto abstellt. Leider war das gestern nicht so. Ich hätte zu gern meine Mutter ihren Satz wiederholen lassen.
Welche Sätze hören Sie, wenn Sie Ihre Eltern besuchen?
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Bild: © www.cartoon4you.de
Hier schreibt: Roland Kopp-Wichmann
Bloggt hier wöchentlich seit Juli 2005. Leitet intensive Persönlichkeitsseminare: 6 TN, 3 Tage, 1 Coach. Schreibt Bücher, eBooks und eMail-Kurse. Zeichnet jetzt sogar Cartoons.
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