Wachsam – Kapitel 2

2.

 

16.Dezember 2006, Chagoda, Russland

 

Ihr war schrecklich kalt. Rasch zog sie den Schal um ihren Hals fester, und ging die Straße schneller entlang. Dieser Tag war ein besonders kalter, es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre auf dem eiskalten Steinboden festgefroren, wenn sie kurz angehalten hätte. Doch das tat sie nicht. Sie wollte so schnell wie möglich ihr Hotel erreichen, um sich vor den angenehm warmen Kamin zu kuscheln und wieder aufzutauen. Diese Temperaturen waren wirklich grausam, es war so kalt, dass der Schnee sofort hart wie Stein war, da er zu Eis gefror. Nein, der Tag war wirklich nicht besonders schön gewesen. Warum wollten ihre Eltern auch unbedingt nach Europa, in das Heimatland ihrer Mutter? Sie hasste Europa,  noch mehr hasste sie Russland und sie hasste diese Stadt, in der sie jetzt schon seit drei endlosen Wochen festsaß. Was war denn „Chagoda“ bitte für ein Name? Aber gut, nur noch zwei Tage, bevor sie ihre persönliche Hölle auf Erden wieder verlassen konnte.

Der Gedanke an den Rückflug in ihre warme, sonnige Heimat ließ ihre Schritte schneller werden.

Als sie mit gesenktem Kopf, damit der Schnee nicht auch noch in ihre Augen gelangen konnte, um die letzte Ecke bog, stieß sie plötzlich mit jemandem zusammen. Sie konnte nichts von ihm erkennen, er trug schwarze Klamotten und genau wie sie einen Schal und eine Mütze, die zusammen den Großteil seines Gesichts bedeckten. Der Jemand und sie prallten mit voller Wucht zusammen, rutschten auf der kalten, gefrorenen Erde aus und fielen zu Boden, dabei begrub ihr Gegenüber, der ein wenig größer war als sie, sie unter sich. Sie schrie laut auf, durchfuhr ihr Bein doch sofort ein stechender Schmerz. Unter der Mütze des Anderen hörte sie ebenfalls einen unterdrückten Schmerzensschrei, auch wenn er (da er ja schließlich auf sie gefallen war) eindeutig weicher gelandet war als sie. Sofort mühte er sich vom Erdboden auf und streckte die Hand nach ihr aus, sobald er sich den größten Teil der grauen Matsche von seinem dicken, schwarzen Handschuh gewischt hatte. Noch immer triefte er von dem geschmolzenen Schnee, der die Bürgersteige so gefährlich machte, da er die ohnehin schon spiegelglatte Fläche auch noch nass und rutschig machte.

„Das tut mir wirklich leid. Ich hab’ dich einfach nicht gesehen und wollte so schnell wie möglich in mein Hotel… Schließlich ist es so kalt… Aber das wollte ich bestimmt nicht…Es tut mir ehrlich Leid. Hast du dir wehgetan? Komm, ich helf dir erst mal hoch. Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan!“ Der Junge redete wirklich ohne Punkt und Komma. Aber wenigstens schien er freundlich zu sein. Und vor allem hilfsbereit, schließlich hätte er sie auch einfach liegenlassen können, am Besten noch unter Beschimpfungen.

Sie setzte sich auf und ließ sich von ihm hochziehen. Sofort erinnerte sie ein schmerzvoller Stich in ihrem Bein an den Sturz. Sie versuchte ein paar Mal, vorsichtig aufzutreten, bis es ihr einigermaßen schmerzfrei gelang. Dann richtete sie sich vollständig auf und betrachtete ihr Gegenüber. Er war deutlich größer als sie, vielleicht 1,85 Meter, oder auch etwas mehr, und ziemlich schlank. Mehr konnte sie nicht erkennen, da er komplett in seinen jetzt grauen und tropfenden Sachen verschwand. Auf jeden Fall schien er jung zu sein, das hatte sie an seiner Stimme erkannt. Sie klang zwar recht tief, älter als die eines Kindes also, aber doch nicht tief genug, um die eines richtigen Mannes zu sein.

„Geht’s dir auch wirklich gut?“ fragte der Junge besorgt. Seine Fürsorge rührte sie zwar, da sie nicht gestellt schien, doch gleichzeitig war sie – zumindest ihrer Meinung nach- auch selbstverständlich, schließlich hatte er sie über den Haufen gerannt. „Ja, mit mir ist alles okay.“ antwortete sie. „Und danke, dass du mir hochgeholfen hast.“ Trotz allem, was passiert war, vergaß sie doch nicht ihre guten Manieren die ihr, als sie noch jünger waren, beigebracht und durchaus von Zeit zu Zeit auch eingeprügelt worden waren. Man hatte immer höflich zu sein, egal in was für einer Situation. Sie sah ihr Gegenüber noch einmal genau an und stellte plötzlich fest, dass sie seine Augen noch gar nicht bemerkt hatte. Sie lugten zwischen der Mütze und dem Schal hervor, und strahlten in einem unglaublichen Braun, das sie magisch anzog und trotz seiner Wärme etwas von Unnahbarkeit hatte. Dazu kam dann noch dieser leichte Grünton, den man nur bei genauem Hinsehen erkennen konnte, und der seine Augen zu etwas ganz Besonderem machte. Sie fühlte sich, als würde sie in den wundervollen Augen versinken, mit denen der Junge sie nun erschrocken ansah. Hastig sah sie zur Seite, und hoffte, dass er das nicht falsch gedeutet hatte.

 

Plötzlich hob er seine Hand und näherte sie ihrem Gesicht. Ihr Atem stockte. Was würde nun passieren? Sanft berührte seine Hand ihr kaltes Gesicht, und strich leicht über ihre Stirn. „Du blutest!“ bemerkte er, und zog seine Hand genauso vorsichtig, wie er sie ihrem Gesicht genähert hatte, wieder zurück, aber nur, um aus seiner dicken Winterjacke ein Taschentuch herauszufischen. Damit begann er nun, das Blut ganz behutsam von ihrer Stirn zu wischen. Bei der ersten Berührung durchfuhr sie etwas, das sich anfühlte wie ein Blitz, aber sie konnte nicht beurteilen, ob das von der Wunde oder seiner Berührung kam. Seltsam, sie kannte ihn doch überhaupt nicht. Ihr wurde plötzlich bewusst, dass sie nicht einmal seinen Namen wusste. Doch ihn danach zu fragen, würde diesen Moment zerstören, und das wollte sie auf keinen Fall riskieren. Also ließ sie diese doch schmerzhafte Prozedur über sich ergehen, und überlegte sich dabei in Gedanken mögliche Namen für diesen Jungen, von dem sie nur seine Augen kannte. Aber das war albern, wusste sie doch nicht einmal, welcher Nationalität er entsprach, vielleicht hatte er ja einen Namen, der in seinem Land herkömmlich war, von dem sie aber noch nie gehört hatte. Aber nun gut, sie musste ihn wohl oder übel doch nach seinem Namen fragen, wenn sie ihn wissen wollte. Und das wollte sie. Aber damit wartete sie, bis er ihre Wunde soweit wie möglich gesäubert hatte. Diese Nähe zwischen ihnen schien ihr zu kostbar, um sie durch eine simple Frage wie diese zu riskieren.

„Sag mal, wie heißt du eigentlich?“ fragte sie ihn in einem unbefangenen Ton, und versuchte ihre Aufregung auf die Antwort so gut wie möglich zu verstecken. Es war ihr anscheinend recht gut gelungen, denn er wickelte sich seinen Schal vom Mund und zog seine Mütze ein wenig höher, damit sie ihn besser sehen konnte.

„Ich bin Jacob. Bei dem ganzen Chaos hier habe ich mich noch gar nicht vorgestellt. Das tut mir Leid. Und du bist…?“ Jacob…Ein schöner Name. Er passte irgendwie zu seinem Äußeren, dachte sie als sie sah, dass zumindest sein Kopf nicht länger unter Schal und Mütze versteckt war. Er hatte braune Haare, die bis auf seinen Rücken zurückfielen, und von denen einige in sein Gesicht rutschten. Obwohl sie eher lang waren, sahen sie nicht ungepflegt aus, wie es ja bei vielen Jungen leider der Fall war. Im Gegenteil. Sie waren ein wunderbarer Kontrast zu seinen außergewöhnlichen Augen, die sie ja schon etwas früher hatte sehen dürfen, und er sah wunderschön aus.  Sie war schon immer von längeren Haaren fasziniert gewesen, auch wenn sie nicht wirklich wusste, warum. Wann immer sie einen Jungen sah, dessen Haare sein Gesicht umspielten, oder sogar bis zu seinen Schultern reichten, fing ihr Herz automatisch an, stärker zu schlagen. Das sollte aber nicht heißen, dass sie sich leicht verliebte. Im Gegenteil. Bis jetzt hatte nur ein Junge ihr Herz wirklich erobert, auch wenn das – zumindest von seiner Seite aus- unbewusst geschehen war. Um genau zu sein, hatte er es gebrochen. Er wollte absolut nichts von ihr wissen, war bereits seit Jahren vergeben gewesen. Doch noch heute musste sie immer wieder in an ihn denken, an die Abfuhr, die er ihr erteilt hatte. Er hatte sie dargestellt, als wäre sie nur ein dummes kleines Mädchen gewesen, dass es gewagt hatte, ihm ein wenig zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Das hatte ihr verdammt weh getan – mehrere Tage war sie nur sehr bedingt ansprechbar gewesen, hatte weinend zu Hause gelegen, sich nicht in die Schule getraut, aus Angst, ihm gegenüberstehen zu müssen. Das hatte ihr wiederum Ärger mit ihren Eltern eingebracht, vor allem mit ihrem Vater, da sie ihren häuslichen Pflichten nicht anständig nachgekommen war. Mehr als einmal hatte er dabei zu seinem Gürtel gegriffen, woran sie einige leichte Narben noch heute erinnerten. Bis zuletzt hatte dieser Junge immer wieder Möglichkeiten gesucht, sie bloßzustellen, sie absichtlich zu verletzen. Immer und immer wieder hatte er es geschafft. Seitdem hatte sie sich nie wieder so intensiv verliebt, weil sie Angst davor hatte, wieder so verletzt zu werden, wie es schon einmal geschehen war. Nur noch ein einziges Mal hatte sie einen Jungen richtig süß gefunden, doch ihre Gefühle ihm gegenüber hatten sich rasch gewandelt, als sie sein wahres Ich erkannte. Alles, was er ihr über sich erzählt hatte, war von Lügen geprägt gewesen – dass er viel lesen würde, gut kochen könne und seine spärliche Freizeit, die er nicht mit Lesen verbringe, nicht für brutale Computerspiele verwenden würde. All das hatte sie ihm abgenommen, bis sie erfuhr, dass nichts davon wahr war, dass er sie die ganze Zeit über nur belogen hatte. Auch hatte sie feststellen müssen, dass er gesellschaftlich in immer tiefere Kreise geraten war und auch vor intensivem Alkoholgenuss und sogar der Einnahme von illegalen Medikamenten nicht halt gemacht hatte. So wollte sie auf keinen Fall werden, nur um ihm zu gefallen, und so hatte sie sich gerade noch rechtzeitig emotional von ihm lösen können. Von diesem Zeitpunkt an hatte sie nie wieder diese „Schmetterlinge im Bauch“ gespürt, wenn sie einen Jungen sah. Doch in diesem Moment schienen sie wie verrückt in ihrem Bauch hin- und her zu fliegen, als hätten sie auf diesen Moment nur gewartet. Sie schien auf dem besten Weg, sich wieder zu verlieben. Fast hätte es ihr bei seinem Anblick die Sprache verschlagen, doch als sie seine erwartungsvollen Augen auf den ihren sah, öffnete sie den Mund, um eine Antwort zu geben. „Ich heiße…“

In diesem Moment klingelte ihr Handy. Sie verfluchte sich innerlich dafür, es mitgenommen zu haben, schenkte dem bezaubernden Jungen einen entschuldigenden Blick und ging ans Telefon. „Hallo? Wer? Vater? Was ist denn los?“ Sofort bereute sie, in diesem respektlosen Ton mit ihrem Vater gesprochen zu haben. Er brüllte so laut in das Telefon, dass auch der Junge namens Jacob ihre Unterhaltung problemlos verstand, mit einigen Metern Abstand. „Sprich nicht so mit deinem Vater, hast du verstanden? Du kommst sofort nach Hause, sofort! Deine Mutter und ich sorgen uns! Du solltest nur Brot holen, sonst nichts, und du treibst dich seit Stunden auf den Straßen herum! Komm sofort heim!“ Zerknirscht antwortete sie „Ja, Vater, es tut mir Leid. Ich komme schon.“ Sie legte auf und drehte sich mit Tränen in den Augen zu Jacob um. „Es tut mir Leid, ich muss gehen. Ich wäre gern geblieben. Ich denke nicht, dass wir uns wieder sehen. Meine Eltern sind sehr streng. Es war schön, dich kennen zu lernen.“

Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und begann, loszulaufen.

 



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