Vor ein paar Tagen traf ich bei einem Waldspaziergang wieder auf Melvin. Er begleitete mich auf meinem Lieblingspfad, einem schmalen Weg, der zur höchsten Stelle führt, dort wo der Orkan Lothar im Jahr 1999 eine ganze Waldkuppe abrasiert hat. Auf halber Strecke kam uns ein Velofahrer entgegen. Einer jener Sorte, die sich Biker nennen, angezogen wie ein Papagei, den Adrenalin getränkten Blick auf den Waldpfad fixiert. Er klingelte schon von weitem wie verrückt. Wir verdrückten uns in die Brombeerstauden am Rand um nicht umgefahren zu werden.
„Wir hätten dem rücksichtslosen Kerl einen Stock in die Speichen stoßen sollen“, bemerkte ich zu Melvin und befreite mich aus dem Dornengestrüpp. Doch mein Begleiter lächelte bloß.
„Mit solchen Begegnungen muss man heute rechnen. Je näher an der Stadt umso häufiger. Die Menschen brauchen ein Ventil.“
„Er hätte uns umfahren können. Er hätte doch abbremsen können.“
„Er hat ja geklingelt. Wieso regst du dich auf. Das schadet der Gesundheit.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Manchmal verstehe ich dich nicht, mein Freund. Wie schaffst du es nur, so gelassen zu sein?“
„Das ist ganz einfach. Wenn mich etwas stört – zum Beispiel das Verhalten meiner Mitmenschen – frage ich mich jeweils nach dem Grund.“
Ich sah ihn irritiert an.
„Na und? Der Grund vorhin war doch sonnenklar. Das war dieser Spinner.“
„Nein, ich habe herausgefunden, dass der Grund meistens bei mir selbst liegt.“
„Das ist doch verrückt. Wenn er dir über die Füße fährt, liegt doch der Grund nicht bei dir!“
Inzwischen waren wir auf dem höchsten Punkt angelangt und setzten uns auf die Steine der Feuerstelle neben dem Jungwald.
„Nehmen wir ein anderes Beispiel“, begann Melvin. „Du hast mir vor einiger Zeit von deinem Verein erzählt, in dem du Mitglied bist. Und du hast mir über langfädige Vorstandssitzungen berichtet, die nie zurzeit fertig werden.“
„Ja, es nervt, zu hören, wie Nichtigkeiten breitgewalzt werden und wie unstrukturiert die Sitzungen erfolgen. Man könnte in fünf Minuten erledigen, was eine Stunde dauert.“
„Dann hast du ein Problem.“
„Sag ich ja.“
„Und zwar mit dir selbst.“
„Wieso das?“
„Du misst mit deinem Maßstab, du denkst, diese Sitzungen müssten so ablaufen, wie du dir das vorstellst. Aber du bist nicht das Maß aller Dinge. Andere sind weniger strukturiert, weniger zielorientiert und haben andere Vorstellungen. Wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann hast du ein Problem mit dir selbst.“
Das hatte tatsächlich was. Fehlte es mir vielleicht an einer Portion Gelassenheit?
„Ok, das mag ja sein. Aber ich habe noch ein anderes Beispiel. Da liegt das Problem sicher nicht bei mir. Meine Frau schraubt den Deckel des Orangesafts nicht richtig zu und jedes Mal, wenn ich die Flasche schüttle spritzt es raus.“
Melvin lachte laut heraus. Ich bildete mir ein, sogar das Echo unten im Wald zu hören.
„Das ist jetzt wirklich dein Problem. Es liegt an dir, vor dem Schütteln zu schauen, ob der Verschluss richtig sitzt. Das kostet dich nur ein Lächeln und erspart unnötigen Streit. Das Problem ist deine Ungeduld und dein Hang zu Perfektionismus…“
Ich war baff. Melvin entpuppte sich als Meister Yoda.
„…wir Menschen neigen dazu, unsere Probleme auf andere zu projizieren. Anstatt uns selber kritisch zu betrachten und uns zu fragen, wie wir eine Situation verbessern können…“
Melvin hat mich sehr nachdenklich gemacht und ich habe mir vorgenommen, mich immer zuerst zu fragen: „Wieso stört mich diese Situation? Was kann ich dazu beitragen um sie zu verbessern?“
Mit geträumten Grüßen. Euer Traumperlentaucher.
Bild: Es geht auch ohne Brücke. © Barbara & Gregor Jungo