Peter Handkes Spagat: Von Schiller bis Celan
„Ein Spagat (vom italienischen: spaccata “Grätsche” bzw. spaccare “spalten”) ist eine Akrobatik-Übung, bei der jemand die Beine so weit spreizt, dass sie eine gerade Linie bilden. Die Übung kommt in diversen Kampfsportarten, im Fitness- und Tanzsport, im Turnen, im Yoga, sowie beim Ballett, Voltigieren, Limbo-Skating und Schautanz vor.“ Dies erfährt man im Onlinelexikon Wikipedia wenn man wissen möchte, was ein Spagat ist. Nicht eingeschlossen in die Definition ist Peter Handkes neues Theaterstück „Die schönen Tage von Aranjuez“ obwohl es sich dort als Ergänzung sehr gut machen würde.
Die schönen Tage von Aranjuez (Photo: Ruth Walz)
Ein Bühnenraum vor der tatsächlichen Bühne, die mit einem schweren, roten Samtvorhang verhangen ist. Am rechten, vorderen Bühnenrand ein hölzerner Gartenklapptisch und zwei dazugehörige Klappsessel. Gegenüber markieren bunt gestrichene Zaunbretter einen kleinen Vorgarten. Daneben eine kleine Holzkabine, mit einem Sichtschutzvorhang und am Boden eine schwere Eisenbahnschwelle. In den Raum etwas nach hinten versetzt, steht ein Theaterprospekt, gerade so hoch, dass man ihn bequem ohne Leiter bis an den oberen Rand mit einer leicht hügeligen Sommerlandschaft bemalen konnte. Es ist Sommer, und es ist Sommer in Aranjuez. Der Titel des Stückes leiht dem Einstiegsbild seine geographische Verortung – ganz entgegen den Anweisungen von Peter Handke, der seine Figuren lieber an einem vollkommen undefinierten Ort ihren Sommerdialog halten lassen möchte.
Luc Bondys Festwocheninszenierung im Akademietheater hält sich nicht an die Vorgaben des Autors und das ist gut so. Bondy markiert mit den Einstiegskostümen die Zeit von Schillers Don Carlos, jenes Stück, auf das Handke in seinem Titel Bezug nimmt. Im ersten Satz dieses Dramas erklärt Domingo dass die schönen Tage in Aranjuez nun vorbei seien. Und tatsächlich sind auch in Handkes Stück die schönen Tage Vergangenheit. Mit scharfem Kalkül hat der Autor den markanten Satz aus Schillers Stück seinem Text voran gestellt. Schließlich wird auch darin – neben allerlei politischem Gerangel – die unerfüllte Liebe eines Mannes zu einer Frau abgehandelt.
Und so finden sich Jens Harzer und Dörte Lyssewski zu Beginn in Kostümen, die nicht nur einen brachialen Fingerzeig zu Schillers Stück darstellen, sondern die beiden Menschen damit auch in ihren Rollen festschreiben, die sich im Laufe des Abends nicht verändern werden. Lyssewski trägt eine lange, schwarze Robe mit weißem Faltenkragen, ganz im Stil der spanischen Königinnen des 16. und 17. Jahrhunderts, während Harzer wie „Jack in the box“ aus der Tiefe des Bühnenbodens springt und sich clownesk in schwarzer Unterhose und halterlosen, schwarzen Strümpfen präsentiert. Die Souveränin und ihr Hofnarr, der sich zwar bei Handke immerhin zum Halbdespoten hochdient, nichts desto trotz seiner Partnerin jedoch unterlegen bleibt, verbleiben nicht lange in diesem Outfit, sondern wechseln bald in zeitgeistigere Kleider. „Sie“ hat dabei den Vorteil, ein Sommerkleid tragen zu dürfen, das nicht mehr gewechselt werden muss. Weich fließend, in hellem, warmem Gelb umschmeichelt der leichte Stoff zart ihre Gestalt. „Er“ hingegen wechselt des Öfteren Hemd und Hosen bis hin zum Schlussbild, in welchem er mit großer Geste Theaterblut auf sein weißes Hemd spritzt.
Aber nicht nur den Ort und die Zeit möchte Peter Handke nicht näher definieren. Auch die beiden Figuren erhalten von ihm nicht einmal Namen, geschweige denn Angaben zu Alter oder Aussehen. Mit „er „ und „sie“ markiert er ihre Texte, was diese zugleich als explizit für das Theater verfasst ausweisen. Im Mann-Frau-Sommerdialog oder besser gesagt in den über lange Strecken abwechselnden Monologen wird klar, dass die Beiden zuvor eine Abmachung getroffen haben, welche die Spielregeln des Dialoges festsetzten. Dies bedeutet wohl, dass ohne diese Festsetzung und den dabei abgesteckten Verhandlungsrahmen die Gefahr besteht, abzuschweifen oder auch etwaigen Fragen auszuweichen. Bis die Erkenntnis des Mannes „Man hat, was man liebt, schon von Anfang an verloren, und für allezeit, auch wenn man es nicht verloren hat“ am Ende des Stückes die Liebesunmöglichkeit, die während des Abends mehr als deutlich wird, noch einmal in diesem Satz destilliert, bietet Luc Bondy dem Publikum die Möglichkeit, in Handkes Geschlechterverständnisuniversum einzutauchen. Darin sprechen Männer und Frauen eine gänzlich andere Sprache, wenngleich in schöngeistigem, feinzüngigem und farbenprächtigem Handkecolorit. Lyssewski und Harzer hauchen dabei Handkes Sprachmelodien so viel gespieltes Leben ein, dass es dabei streckenweise schwierig wird, dem Text zu folgen, geschweige denn seine feinen Untertöne nachklingen zu lassen.
Und dennoch hat der Regisseur recht, wenn er die beiden Nicht-Liebenden abwechslungsreich in vielerlei Kostümen auftreten, Gartenmöbel zurechtrücken, Federball spielen und zu guter Letzt auch gegen den Text des anderen anspielen lässt. Dabei agiert er im Grunde genommen wie Rabbi Löw der sich entschließt, den Golem zu richtigem Leben zu erwecken. Erst durch die Fleisch gewordenen Worte, durch die Bewegungen, welche so mancher schriftlich-vagen Andeutung ihre Unbestimmtheit nehmen, hat das Publikum die Chance, Handkes Paarkonstrukt als zwei Menschen zu begreifen, die ihre Beziehungen sowohl aus dem Erlebten als auch aus dem Erdachten definieren. Es wird klar, dass der Mann der versprachlichten Introspektion seiner Partnerin, die er mit Drängen herausgefordert hat, keine Empathie entgegenbringen kann. Mehr noch, er verliert schon bald die Geduld, ihr überhaupt zuzuhören. Jens Harzer schafft das Kunststück, dass eine gewisse Eifersucht, ja sogar Feindseligkeit, die sich auf den allerersten Liebhaber bezieht und die im Text nicht ad hoc zu finden ist – blitzartig deutlich spürbar wird. Es hat fast den Anschein, als ob, ganz entgegen den Spielregeln, der Mann gar keine Antworten hören möchte, weil diese ihn dazu zwingen könnten, sein eigenes Ich in Beziehungen zu hinterfragen. So besteht die große Gefahr, dass alles, was Frau erzählt, im Grunde nicht zur Verständigung, sondern eher zum weiteren Aufriss eines Grabens dient, der, anfänglich nur leicht spürbar, zum Schluss schier unüberbrückbar erscheint. So kommentiert er ihren ersten, ganz poetisch beschriebenen Liebesakt, der in einer kleinen Hütte am Rande einer Salzgewinnungsstätte vollzogen worden war mit den barschen Worten: „Monumentalfilm in der Saline“. From here to eternity.
Kurz und knapp wischt er mit dieser schon beinahe verletzenden Aussage vom eben gedeckten Erzähltisch was sie zuvor mit Herzblut und viel Wortbedacht darauf ausgebreitet hat. In die Enge getrieben scheut er sich auch nicht, diese Missachtung noch in übersteigertem Maße auszudrücken. Gerade in jenem Erzählmoment, in welchem die Frau – wie einst Simone de Beauvoir – die Männer als „Das andere Geschlecht“ zu definieren beginn, in jenem Moment sieht sich der Mann dazu veranlasst, eine Clownerie nach der anderen zu begehen um so durch völlige Geringschätzung des Gesagten einer tatsächlichen Auseinandersetzung mit dem Inhalt zu entkommen. Was vom Publikum aufgrund der wunderbaren Komödie, die Jens Harzer an dieser Stelle vollführt, schenkelklopfend leicht als Höhepunkt des Abends gewertet werden könnte, ist zugleich der Tiefpunkt der Unterhaltung der beiden Menschen. Sie sprechen nicht nur eine andere Sprache, sie sind unfähig und nicht willens, den anderen zu verstehen.
Im Gegensatz zu „ihr“, die, je länger der Abend andauert umso intensiver in ihre Gefühlsvergangenheit eintaucht, hält „er“ einen naturkundlichen Vortrag nach dem anderen. Dass Handke sich in diesen Monologen selbst verewigte, steht außer Zweifel. Seine unglaubliche Begabung, das Leise in der Natur aufs Podest zu heben und im besten Fall wunderbare Metaphern daraus zu spinnen – wie in der Beschreibung der sandigen Spatzenbäder – benützt er hier, um zu zeigen, dass das Erleben der Beiden auf völlig unterschiedlichen Wahrnehmungsebenen vonstatten geht. Die wunderbare Sprache, die dabei aber verwendet wird mildert die Tragik und hebt das Geschehen bis hin zu einem sinnlich fühlbaren Prickeln, welches sich in dieser Inszenierung immer und immer wieder einstellt. Allzu genau darf „frau“ jedoch nicht hinhören, denn jene Szene, in welcher „sie“ beinahe schon larmoyant von Zeiten spricht, in welchen die Frauen sich noch ansehen ließen und sich schmückten, kann nicht synonym dafür stehen, dass sich die heutigen Frauen gerne in prä-emanzipatorische Zeiten zurückwünschten. Vielmehr könnte dieser Monolog als ureigenes Problem des Autors mit der Frauenbewegung gedeutet werden, die so unzulässig verkürzt in einem völlig falschen Scheinwerferlicht reflektiert wird.
Dass der Schluss verstörend und versöhnlich zugleich wirkt ist wiederum dem Regisseur zu verdanken. Von einem Schuss – von wem auch immer ausgelöst – herzblutüberströmt getroffen, kämpft „er“ ohne Unterlass weiter, um „sie“ doch nicht zu verlieren. Und tatsächlich hebt sich der Vorhang, der in dem Stück mehrfach atmen durfte und mit dem jenes kleine Mädchen spielte, welches der Ausgangspunkt aller fraulichen Erinnerungen war, und gibt den Blick auf ein sternenübersätes Firmament frei. Gemeinsam sitzen Frau und Mann schließlich am Gartentisch und erinnern sich an ein Gedicht in dem „einer zum anderen hinüderdunkeln will“ was aber unmöglich war, denn es herrschte „Lichtzwang“.
Mit diesem Spagat, begonnen bei Schiller, endet Handke bei Paul Celan, dessen letzter Gedichtband „Lichtzwang“ auch jenes Gedicht enthält, in dem das Hinüberdunkeln nicht glücken will. Und um den Kreis komplett zu schließen, fügt Handke noch hinzu: „Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende. Wir sind vergebens hier gewesen.“
Der Abend – eine beglückende Liaison, in der Text und Inszenierung aber auch hinreißende Schauspielkunst die große Trauer, auf der dieses Stück basiert, zu glitzerndem Sternentheaterstaub verbläst.
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