Die langjährige Journalistin Charlotte Wiedemann legt mit ihrem Buch „Vom Versuch nicht weiß zu schreiben“ ein leidenschaftliches Plädoyer für einen neuen Journalismus vor, der sich aus der Enge des Eurozentrismus befreit und anderen Kulturen gegenüber Respekt zeigt. Sie gewährt den Lesern einen Blick hinter die Kulissen des Mediengeschäfts. Anschließend nimmt sie die Leser mit auf eine Reise durch verschiedene Länder und Kulturen, was dem hiesigen Leser doch einige Überraschungen bereiten dürfte.
Journalismus solle aufklärend sein, soll Orientierung und Hintergrundwissen bieten (S. 19), aber ökonomischer Druck auf der einen und kulturell geprägte Deutungsmuster auf der anderen Seite würden zu einer immer weiteren Entwertung journalistischer Arbeit führen. Schon könnten durchschnittliche Sportreportagen von Computerprogrammen zusammengemixt werden (S. 20). Aber auch die Berichterstattung unter dem Motto „Good news is no news“ führe zu gefährlichen Verzerrungen in der öffentlichen Wahrnehmung (S. 24). Das Entstehen neuer, überraschender Erkenntnis sei schon nicht mehr vorgesehen: Für eine ARTE-Dokumentation muss z.B. ein freier Filmemacher ein detailliertes Drehbuch vorlegen, wenn er den Auftrag bekommen will, und die Kunst bestehe dann darin, die Realität so zu filmen, dass sie das Drehbuch erfüllt. Bei Print-Magazinen würde das Thema manchmal auf so vielen Konferenzen vordiskutiert, dass die Recherche vor Ort nur noch die Farbe liefern soll (S. 25). Korrespondenten könnten sich nicht zu weit von den Vorurteilen und Stereotypen der Heimat entfernen, wenn sie keine Probleme bekommen wollen.
Der ökonomische Druck auf Nachrichtenagenturen und Redaktionen ist groß. Mit verkleinerten Belegschaften müsste ein immer größerer Output geschafft werden. Zudem steigt der Einfluss politischer und wirtschaftlicher Public Relation (PR). Um den Wahrheitsgehalt der Nachrichten zu überprüfen, ist oftmals keine Zeit (S. 66). Das führt zu der Monotonie, die uns jeden Tag aus dem Blätterwald entgegenschlägt. „Überall dieselbe Auswahl an Storys, dieselben Blickwinkel, oft noch dieselben Zitate, dieselben Fotos: So entsteht der Trend zu einer einzigen Erzählung vom Weltgeschehen.“ (S. 67) Es gab die Vision, das Internet würde den Blick der Leser erweitern, weil sie auch Zeitungen aus anderen Weltgegenden konsumieren würden. Diese Vision hat sich als falsch erwiesen: Untersuchungen hätten gezeigt, dass der überwiegende Teil der Leser nur auf einheimische Nachrichtenseiten geht – in Großbritannien z.B. 95 Prozent (S. 69).
Vielfalt und authentische Berichterstattung täten dem westlichen Leser dagegen wohl. Der Islam ist das neue Feindbild, dennoch werden die muslimischen Gesellschaften bei uns kaum verstanden. In unserem Bild einer muslimischen Gesellschaft kommen Frauen immer nur als unterdrückte Personen vor. Charlotte Wiedemann zeigt: Es ist ein Trugbild. In Oman z.B. muss Männern der Zugang zu den Universitäten mit einer Männerquote offengehalten werden. Weil Frauen die besseren Leistungen in den Schulen erbringen würden, hätten sie es einfacher, an die Hochschulen zu kommen. In zahlreichen muslimischen Ländern würden deshalb Frauen bereits die Mehrheit an den Universitäten stellen (S. 94 - 95).
Charlotte Wiedemanns Buch zeigt, wie wichtig Vielfalt in der Medienlandschaft ist und das sie zu den potenziell bedrohten Spezies gehört. Kostenlos ist sie nicht zu haben. Umso wichtiger ist es, dass die Leser den Wert alternativer Medien erkennen, die keine vorgefertigten Berichte und Meinungen verbreiten. Dieses Buch ist ein Aufruf, eben jene Medien zu erhalten und zu unterstützen.
Charlotte Wiedemann: Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt; Köln: PapyRossa-Verlag, 2012