Vom politischen Nutzen der Schuldenbremse

Von Stefan Sasse
Bis zum Beginn des französischen Wahlkampfs gab es kein Thema, das in Europa und in Deutschland ein breiteres Fundament besaß als der Fiskalpakt, vulgo: die Schuldenbremse. Nachdem wir sie in Deutschland ins Grundgesetz geschrieben haben, gab die Griechenlandkrise den Anlass, sie zu einer europaweiten Politik zu machen. Die Schaffung von Merkozy in den letzten Monaten sorgte für ein vollständiges Umschwenken Frankreichs, und Großbritanniens Tories waren ohnehin schon immer dafür. Regierende in Spanien und Italien ebenso zur Annahme zu bewegen war nicht gerade das größte Hindernis, das Merkel für ihr wahnwitziges Lieblingsprojekt nehmen musste. Der Aufschwung Francois Hollandes in den Umfragen und seine überraschend deutliche Ablehnung des Fiskalpakts sowie eine klar progressive Positionierung haben frischen Wind in die Debatte gebracht. Bisher war die Opposition gegen die konservative Vorherrschaft in ganz Europa nur schwerlich umzustoßen gewesen. In Italien und Spanien waren die progressiven Parteien ein Bild der Trauer, von inneren Streitigkeiten zermürbt und im Falle Spaniens nach der Regierungszeit und der Krise beim Wähler unten durch. In Deutschland stirbt die SPD seit 2005 einen langen, qualvollen Tod, während sie immer näher an die tödliche Umarmung durch das konservative Lager herandriftet. Dabei ist der große Erfolg des Fiskalpakts kein Geheimnis einer europaweiten Verschwörung. Er hat wesentlich banalere und zugleich tief greifendere Gründe.
Es hat vor allem damit zu tun, dass das Narrativ der Konservativen unglaublich stark ist und es die Progressiven bisher nicht geschafft haben, dem ein eigenes, vernünftigeres entgegenzusetzen. Der Erfolg der Schuldenbremsenideologie, deren volkswirtschaftliche Untauglichkeit an dieser Stelle kaum noch einmal thematisiert werden muss, beruht vor allem auf zwei Säulen. Die erste ist die leichte Nachvollziehbarkeit. "Sparen" ist ein Topos, das jedem Bürger bekannt ist. Zu erklären, dass der Staat sparen müsse, wenn er zu viele Schulden hat, und gegen "Verschwendung von Steuergeldern" anzugehen packt jeden sofort bei seiner Alltagserfahrung. Im Gegenzug dazu sind Erklärungen, die Lohnstückkosten und andere makroökonomische Theorien benötigen naturgemäß im Nachteil. Die schwäbische Hausfrau, die wohl dümmste Metapher aus Merkels gesamter Regierungszeit, ist zugleich ihre erfolgreichste, schlicht aus dem Grund, dass sie sofort einleuchtet. Gegen "Sparen" und "Haushalten" Opposition betreiben zu wollen ist ungefähr so clever, wie eine Politikinitiative mit dem Namen "No Child left behind" abzulehnen. Es ist kaum möglich, ohne sich selbst sofort ein extrem unvorteilhaftes Etikett von Steuerverschwendung anzuheften (oder, im anderen Fall, als Kinderhasser).
Der andere Grund liegt tiefer in der Psyche verborgen und ist zugleich noch wesentlich wirkmächtiger. Schulden machen ist unmoralisch. Wie es der Anthropologe David Graeber in seinem bahnbrechenden Buch "Debt - The First 5000 Years" herausgestellt hat, ist das Konzept der Schulden schon seit Jahrtausenden mit dem Stigma moralischer Verfehlung behaftet. Das hat sich bis heute nicht wirklich geändert. Die Moralfrage ist keine, die direkt als solche thematisiert wird, aber sie steht beständig zwischen den Zeilen, wirkt im tieferen Unterbewusstsein mit - auf beiden Seiten der politischen Auseinandersetzung. Aus diesen beiden Sachverhalten erklärt sich auch der selbstmörderische Kurs der SPD - man hat einerseits erkannt, dass eine direkte Ablehnung sämtlicher Sparmaßnahmen eine scheunentorgroße Flanke hinterlässt, die eine Brandmarkung der Partei als unverantwortlich kinderleicht macht. Die LINKE beweist den Erfolg dieser Tatsache quasi tagtäglich. Andererseits ist sie aber selbst in der moralischen Gewissheit verfangen, dass Schulden als Gegenstück zum Sparkurs unmoralisch sind. Als Endergebnis entsteht die paradoxe Situation, dass die SPD die CDU von rechts angreift und ihr eine ungenügend scharfe Umsetzung des Sparkurses vorwirft.
Was die Progressiven - von denen sich die SPD reichlich konsquent verabschiedet - jedoch beständig übersehen ist der Nutzen, den die Schuldenbremsen für sie haben können. Denn was hier öffentlichkeitswirksam gesetzlich eingefordert wird ist nicht das wilde Kürzen und Streichen im Haushalt - es ist die Reduzierung der Neuverschuldung. "Kürzen" und "Streichen" sind übrigens Synonyme, die sich alle Progressiven als vollständigen Ersatz für "Sparen" im Umgang mit Plänen ihrer konservativen Gegner aneignen sollten, aber das nur am Rande. Prinzipiell spricht lediglich der herrschende Mainstream dagegen, die Schuldenbremse als Aufforderung zu einer wesentlich progressiveren Besteuerung als aktuell üblich zu nutzen. Der Fiskalpakt verbietet keine Konjunkturpolitik durch vermehrte Ausgaben der Öffentlichen Hand. Wenn alle so begeistert vom Goldenen Kalb der geringen Neuverschuldung sind, gut. Dann schlägt eben die Stunde der Solidarzuschläge.
Es wäre an der Zeit, die Schuldenbremse als Waffe selbst zu ergreifen und gegen ihre Erschaffer zu wenden, so wie es die mit dem Begriff der Reform geschafft haben. Sprecht mir nach: "Wir können es uns nicht leisten, an der Zukunft unserer Kinder herumzustreichen. Die Schuldenbremse macht es unumgänglich, zur Finanzierung der Bildung eine einmalige solidarische Abgabe von allen Universtitätsabsolventen mit einem Jahreseinkommen von über 100.000 Euro einzufordern..." Oder so ähnlich. "Leider macht es die konjunkturelle Lage notwendig, zum Erhalt unserer Infrastruktur eine ersatzlose Streichung der Subventionen auf [beliebigen Unsinn einfügen] zu fordern..." Die Finanztransaktionssteuer, eine vernünftige Besteuerung von Gewinnen aus Kapitalerträgen, angemessene Erbschaftssteuern und und und - all das kann auch mit der Schuldenbremse begründet werden und gehört zum Kern der progressiven Forderungen. Es würde die mächtigste Waffe der Konservativen aus ihren Händen winden und sie gegen ihre Erfinder richten.

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