Ruhige, sachliche Einordnung, Aufklärung, zum Kern der Dinge vordringen in gemessenen, auf harten Fakten gegründeten Gesprächen - das ist seit Jahren Markenzeichen der sonntagabendlichen Kaminrunde bei Anne Will. Wo der Rest der Medienmeute sich ins Fleisch verbeisst, geht es hier um die Knochen, dringen Experten unter kundiger Leitung der gestrengen Ex-Darstellerin aus "Herr der Ringe" immer wieder chirurgisch konsequent zur Ursache all dessen vor, was die Menschen bewegt.
Auch zu Japan tagte das Fernsehgericht, denn schließlich, weihte Will ihre Gemeinde gleich anfangs in eines der am besten gehütesten Geheimnisse der Geschichtsschreibung ein, habe man es hier mit der "größten Katastrophe seit Menschengedenken" zu tun.
Nein, Thema der Sendung ist nicht der einem Wunder gleichende Umstand, dass alles schlimm gekommen ist, aber nicht noch viel schlimmer. Der Tsunami in Südostasien etwa traf vor sechs Jahren auf Küsten voller Dörfer, auf Kleinstädte und Hotelanlagen. Und forderte mehr als 230.000 Opfer. Jetzt explodierten die Fluten an städtisch besiedelten Stränden, in Großstädten, in Industriegebieten - und die Opferzahl ist hoch, und doch gleichzeitig viel niedriger.
Aber Anne Will, wie alle Writer der Apokalypse der Aufklärung verpflichtet, aber auch von Quoten abhängig, mag das nicht wissen. Es wäre schlecht fürs Geschäft, die Dinge kleinzureden, einzuordnen, sich im Moment des Grauens zu erinnern, dass die Geschichte der menschlichen Zivilisation immer schon auch eine Geschichte von Katastrophen, von Tod und Zerstörung war. Aber hatte der Spiegel zu Haiti einen Liveticker? Berichtete n-tv jemals schon vier Tage hinter einander unter dem Leadsatz "Japan steht offenbar vor einer nuklearen Katastrophe"? Warf der Tsunami von 2004 die Frage auf, warum der damals als Kanzler amtierende Gerhard Schröder und sein Adlatus Joseph Fischer die deutschen Atomkraftwerke sofort und für immer abschalten?
Sie haben es nicht getan. Sie haben sie laufen lassen, mit Einverständnis von Claudia Roth, Sigmar Gabriel und Jürgen Trittin. Wäre rot-grün an der Macht geblieben, würden sie immer noch laufen. Ganz so, wie sie heute laufen.
Japan gibt eine gute Gelegenheit, das im Nachhinein zu verschleiern. Dazu muss das seltsame Menschengedenken, das die Sonntagspredigerin Will bemüht, jedoch die Tsunamikatastrophe von Südostasien samt ihrer 230000 Opfer ausblenden. Und nicht nur die. Sie muss Tschernobyl, das Original des Atomtodes, in der Rangliste hinter Fukushima stellen. Sie muss Weltkriege, Koreakrieg, Afghanistankrieg, Vietnamkrieg, Hutu-Tutsi-Massaker, Balkankrieg, Irakkrieg, das 1908er Erdbeben in Messina mit 83000 Toten, das Erdbeben im chinesischen Gansu samt seiner 200000, das von Tangshahn im Jahre 1976 mit 800.000 Toten, die verheerende Jangste-Überschwemmung 1931 in China, die 1,3 Millionen Menschen das Leben kostete, aber auch der Burma-Zyklon von 2008 mit 200000 Tote und sogar des fast noch wackelnde Erdbeben von Haiti mit ebenfalls 200000 Tote (2010) beiseite lassen. Sie muss das Erinnerungsvermögen eines Hirnlosen zum Maßstab der Apokalypse machen.
Es ist ein kurzes Gedächtnis, das übrig bleibt.