245. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 am 3. November 2014:
Der bekannte Verkehrswissenschaftler Prof. Dr. Heiner Monheim zur deutschen Bahnpolitik der letzten Jahrzehnte:
Zum einen habe es den Rückzug aus der Fläche gegeben – mit zahlreichen Stilllegungen ehemals dichter Schienennetze vor allem in ländlichen Regionen. 31.000 km Schiene seien vom Netz genommen, Haltepunkte geschlossen worden. Auch viele Mittel- und Großstädte seien vom Fernverkehr abgehängt worden, weil der InterRegio als attraktives Erfolgsprodukt schrittweise gestrichen worden sei. Die Leistungsfähigkeit des Bahnnetzes sei systematisch ruiniert worden, das System sei nun extrem labil und verspätungsanfällig gemacht worden. Die Bahn habe weder im Personen- noch im Güterverkehr adäquat am Verkehrswachstum teilhaben können – und auch die Verschuldung der Bahn habe mit all dem nicht aufgehalten werden können.
Zum anderen konzentriere die Bahn seit den 80er Jahren ihre Investitionen in wenige Großprojekte der Hochgeschwindigkeit, zum Beispiel die Neubaustrecken Hannover – Würzburg (1991), Mannheim – Stuttgart (1991), Berlin – Hannover (1998), Köln – Rhein/Main (2002), Nürnberg – Ingolstadt (2006) und derzeit im Bau die Großprojekte Nürnberg – Ebensfeld – Erfurt, Erfurt – Halle und Wendlingen – Ulm als mit S21 verbundenes Neubauprojekt.
Prioritäten werden falsch gesetzt
Monheim betonte vor gut 1000 Demonstranten, das deutsche Bahnsystem benötige andere Prioritäten: Zunächst seien alle wichtigen Knoten dringend auszubauen, denn alle größeren Bahnknoten hätten vergleichbare Kapazitätsprobleme. Zudem müssten S-Bahn-Systeme aus- und neu gebaut werden. Das Karlsruher oder das Chemnitzer Modell hätten nachgewiesen, dass auch kleinere Großstädte durch solche S-Bahnen gigantische Zuwächse im Schienenverkehr erreichen können. In der Fläche brauche es attraktive Regionalbahnen. Aus seiner Sicht seien im deutschen Bahnnetz ca. 6000 neue Haltepunkte nötig, um die S-Bahn- und Regionalbahnsysteme attraktiver und leistungsfähiger zu machen. Nur so komme es zu kundengerechten und attraktiven Bahnangeboten.
Doch um dieses verkehrs- und klimapolitisch dringende Thema kümmerten sich Bahn, Bund und Länder viel zu wenig, weil sie mit den paar unsinnigen Großprojekten – allen voran Stuttgart 21 – beschäftigt seien. Es würden sichtlich die falschen Prioritäten gesetzt. Monheim entwarf ein Szenario, in dem die durchschnittliche Bahnfahrleistung der Bürger von 800 km im Jahr auf 2000 km steigt, bei dem im Deutschlandtakt jede halbe Stunde ein Zug fährt, bei dem die Bahn wieder mehr Mitarbeiter einstelle und ein durchgängiges, einfaches Tarifsystem schaffe. Vorstand und Aufsichtsrat der Bahn müssten “neu formatiert” werden: Anstelle von Auto- und Luftfahrmanagern müssten endlich wieder Bahnfachleute in die Spitzenämter berufen werden. Das Projekt Stuttgart 21 müsse sofort beendet werden – so gebe es eine Chance dafür.
Wenn S21 jetzt nicht gestoppt werde, sei mit gigantischen Kostensteigerungslawinen zu rechnen. Das lehrten alle vergleichbaren Großprojekte.
Was eine streitfeste Gewerkschaft erreichen kann, demonstriere derzeit die GDL mit den Lokführer-Streiks. Wo, so fragte Monheim, seien aber die Gewerkschaften bezüglich Stuttgart 21 geblieben? Gegen solch unsinnige Großprojekte müssten die Gewerkschaften sich stark machen. Er rief dazu auf, das Thema im Freundes- und Bekanntenkreis immer wieder zu thematisieren. Die Bürger müssten ihre Mitspracherechte intensiv nutzen, um das Projekt noch zu verhindern. Es sei noch nicht zu spät.
Prof. Monheim im 3sat-Interview: “Ohne die Baumafia würde es Stuttgart 21 in Deutschland nicht geben. Stuttgart 21 ist erfunden worden von der Bauwirtschaft. Das ist ein Produkt für Tunnelbauer. Wir haben eine Republik, die auch als Selbstbedienungsladen funktioniert. Mit viel Druck sorgt man dafür, dass immer weiter neu gebaut wird.”