Verwandtschaft

Was für eine vorzügliche Einrichtung, dass die Gedanken nicht als sichtbare Schrift über unsere Stirne laufen. Leicht würde jedes Beisammensein, selbst ein harmloses, zum Mördertreffen. (Christa Wolf)

Ich ahnte vorher, was unter Umständen geschehen könnte. Und wie ich mich – damit dies nicht geschieht – zu überwinden habe. Wie ich mich am Riemen reißen muss. Drei Stunden Freundlichkeit sind in der anstehenden Konstellation etwa zwei Stunden Verlogenheit – eine Tortur für jede redliche Seele!

DAS UNVERMEIDLICHE TRITT EISERN EIN und begrüßt mich mit den Worten:

“Wie schön, dass auch Du kommen konntest!”

Woraufhin ich auch prompt eine Antwort finde.

<lüge>
“Aber das ist doch eine Selbstverständlichkeit!”
</lüge>

Dieser Strang der Sippe sah mich das letzte Mal anlässlich einer Goldenen Hochzeit, auf der es mir auf wundersamer Weise gelang, nicht mit denen ins Gespräch kommen zu müssen. Nun sind sie hier. Doch meine Abneigung ist keinesfalls darauf begründet, dass die Protagonistin der Kaffeerunde besonders dick, sondern weil sie doof ist.

Sie platziert sich auch gleich hinter den besten Kuchen, derweil ich bereits beim Setzen das Kommende Wort für Wort voraus ahne. Ich weiß definitiv, wie sich der anstehende Nachmittag gestalten wird: Irgendwer stellt zu Beginn eine harmlose Frage und meine Verwandte wird sich durch nichts und niemanden daran hintern lassen, von ihren Krankheiten zu berichten.

“Na, wie geht es denn so?”

Richtig geraten!

Es geht los:

“Ohr, mir jehts aba schlecht: Hier Wehweh – da Wehweh. Sogar der Rücken…”

111127 ÄrzteDreizehn [sic!] Spezialisten würden sich derzeit um sie bemühen. Am schlimmsten sei wohl eine doppelte Arthritis, weshalb sie Treppen nur noch rückwärts begehen könne, insbesondere wenn sie nach unten will. Ihrer Diabetes mellitus käme sie mit Medikamenten bei, aber bei den Rückenschmerzen, wisse derzeit kein Arzt, was zu machen sei.

“Über meine Krankheiten könnte ich ein Buch schreiben”, sagt sie schließlich.

Könnte sie nicht!

Stimmt! Ihre Gichtfinger würden ihr dies Vergnügen nicht ermöglichen! Wahrscheinlich weiß sie das sogar selbst.

Niemand hat die Absicht, ein Buch zu schreiben, der jederzeit die gesprochen Version liefern kann. So zergeht der schöne Nachmittag zäh topfend, bis sie endlich an die Stelle kommt, da das Publikum Betroffenheit heucheln sollte, an die berühmte Helmut-Zerlett-und-Band-Stelle, an den Commercial break …

Wahrscheinlich braucht sie Luft für weitere Krankheiten.

“…und wie geht es Dir so?”

Nun bin ich es, der sein Gesicht verzieht. Wahrscheinlich gelingt es mir sogar auszusehen, wie der gekreuzigte Jesus. Und von nun an ziehe die Worte einzeln und leidend in die Länge.

“Warteliste… Bin immer nur auf der Warteliste…”

Teufelaberauch: Es gibt einfach nicht genügend Organspender.


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