Versuch und Irrtum? Die gnadenlosen Folgen der Nutzung der Atomkraft

Ein Artikel von Reinhard Gottorf.

Ich habe mir lange überlegt, ob ich Ihnen diese, zugegeben sehr vielen, Zeilen senden soll oder nicht. Letzter Anstoß, es doch zu tun, war nun der kürzlich erschienene Text "Sie haben versagt" im ad sinistram-Blog. Ja, vor fast genau 25 Jahren, im Angesicht der Katastrophe von Tschernobyl war und ist dieser Text eine Offenbarung für all die Leicht- und Gutgläubigen gewesen. Er war und ist eine schallende Ohrfeige für all die Vergesslichen und Beschöniger. Er war und ist eine einzige Anklage gegen all die Atombefürworter und deren politischen und „wissenschaftlichen“ Hofschranzen. Ja, es ist gut, dass Sie diesen Text wieder in Erinnerung gerufen haben. An ihm wird nämlich auch deutlich, was folgt, wenn die Menschen diesen Text nicht verinnerlichen.

Gerade einmal fünf Monate, nachdem dieser Text in der "Zeit" veröffentlicht worden war, hatte die Schleswig-Holsteinische CDU-Landesregierung unter Führung des damaligen Ministerpräsidenten Uwe Barschel die Betriebsgenehmigung für das Atomkraftwerk Brokdorf erteilt. Das geschah nach einem von Herrn Barschel angesichts der Katastrophe von Tschernobyl erklärten drei monatigen Moratoriums. Während dieser Zeit sollte das eigentlich unübertreffbar sicherste Atomkraftwerk der Welt noch einmal auf seine Sicherheit überprüft werden. Im Ergebnis wurde dann das unübertreffbar sicherste Atomkraftwerk noch sicherer. Also das allerschwärzeste Schwarz wurde noch schwärzer. Die "Experten" kamen zu dem Schluss – und das ist jetzt kein Witz oder von mir erfunden – und stellten das auch groß heraus, ein zusätzliche Sicherheitssystem, bestehend aus einem weiteren Überdruckventil mit Filter, solle in Bereitschaft gehalten und dann, im selbstredend unwahrscheinlichen Falle einer Kernschmelze, "innerhalb von 24 Stunden" nachträglich eingebaut werden. Nun, das Ende von Herrn Barschel ist bekannt. Das Atomkraftwerk Brokdorf strahlt noch heute und es steht auch aktuell nicht zur Disposition.

Was aber meines Erachtens auch nicht in Vergessenheit geraten darf, ist die Tatsache, dass die nachfolgende SPD-Landesregierung, mit ihrem für die Atomaufsicht zuständigen Minister Günther Jansen, umgehend das Atomkraftwerk Brokdorf stilllegte. Diese Maßnahme wurde dann von einem Herren, der sich heute als für die Beantwortung der Ethikfragen im Zusammenhang mit der Nutzung der Atomkraft Befähigten präsentiert, per Ministerweisung untersagt. Trotz vorhandenem Sicherheitsgutachten, das gebrochene Brennstäbehalterungen und verschwundenen Blechteilen in der Brennkammer feststellte, kam der damalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer zu der Auffassung, das AKW Brokdorf muss wieder an das Netz, da es, so das Ergebnis eines von ihm in Auftrag gegebenen erneuten Gutachtens, sicher ist. Wenige Wochen später, nach Töpfers Weisung, wurden dann Mängel festgestellt, die einem heute, angesichts der Ereignisse in Japan, immer noch die Haare zu Berge steigen lassen.

Aufgrund von Montagefehlern fehlten seit Inbetriebnahme des Atomreaktors im Jahre 1986 bei allen vier Notstromdieseln wichtige Teile, die unter ungünstigen Bedingungen zum Versagen der Notaggregate hätten führen können. Entdeckt wurde auch, dass bei sämtlichen Notstromdieseln an den Kupplungen Verschlusskappen fehlten, die unter anderem dafür zu sorgen hatten, dass beim Betrieb der Dieselmotoren das Öl nicht herausgeschleudert wird. Zwar könnten die Kupplungen normalerweise ein paar Stunden auch ohne Öl auskommen, doch die fehlenden Verschlusskappen gewährleisten außerdem noch die richtige Funktion der Pumpen, die bei einem Zusammenbruch des öffentlichen Stromnetzes und einer Abschaltung des AKWs für die Ableitung der Abwärme zuständig sind. Bei einem der Aggregate war es außerdem versäumt worden, einen Zentrierring für das Kupplungsgehäuse einzubauen. Dieser "systematische Fehler" war bei allen regelmäßigen und besonderen Überprüfungen nicht bemerkt worden. Aber der Ethikbeauftragte Töpfer hatte keine Skrupel, dass Atomkraftwerk in Betrieb zu belassen. Greenpeace hat Töpfer damals in einem offenen Brief zum Rücktritt aufgefordert. In diesem Brief hieß es u. a.: "Mit Ihrer Entscheidung, das Atomkraftwerk Brokdorf solle wieder ans Netz gehen, zeigen Sie erneut, dass Ihnen die Bedürfnisse der Atomindustrie, Kosten zu sparen, wichtiger sind als die Sicherheit der Bürger, die Belange der Natur und Umwelt". Aber dafür prädestiniert es ihn heute, zu den Ethikfragen der Atomkraftnutzung sachverständig und objektiv Stellung zu beziehen.

Vor 30 Jahren, am 28. Februar 1981 habe ich – entschuldigen Sie die drastische Ausdrucksweise - mir den Arsch abgefroren, die Füße wund gelaufen und die Fresse vollgekriegt. Dieser Tag in der Wilster Marsch hat mein Verhältnis zu diesem Staat, den Herrschaftscliquen und Claqueuren, deren Büttel und den braven Bürgern ein für alle Mal geklärt. Damals ist mir ein Aufsatz in die Finger geraten. Dieser Aufsatz prägte von da an meine Haltung zu der sog. "friedlichen Nutzung" der Atomkraft. Ein Dr. Alvin Weinberg, Direktor des Oak Ridge National Laboratoy in den USA, der Schmiede der US-Atomwaffen, schrieb in einem Beitrag für ein US-amerikanisches Wissenschaftsmagazin "Science" u. a. folgendes: "Wenn der Mensch sich erst einmal für die Kernenergie entschieden hat, so hat er sich zu einer grundsätzlichen Unterhaltung des nuklearen Apparates, wie Kernkraftwerke, Wiederaufbereitungsanlagen etc. auf alle Ewigkeit verpflichtet. Wir Atomleute haben mit der Gesellschaft einen 'Faustpakt' geschlossen." Und dieser Alvin Weinberg ist nicht irgendwer. Weinberg ist einer der Vordenker und Entwickler der Mittel und Methoden der nicht-militärischen Nukleartechnologien.

Auf alle Ewigkeit!!! Der Faustische Pakt. Es gibt keinen Weg zurück. Wir könnten auf einen Schlag alle AKW abschalten, es ändert nichts an der unumstößlichen Wahrheit: Die atomare Bedrohung der Menschheit bleibt bestehen. Philippsburg oder Isar 1 sind ja nicht auf einmal Erlebnisparks für jedermann, nur weil sie keinen Strom mehr produzieren. Die Brennelement, der atomare Abfall, die Reaktoren selbst, usw., sie sind und bleiben eine immerwährende Gefahrenquelle. Ob Strom erzeugt wird oder nicht. Das zeigt ja eindrücklich das Beispiel Japan. Einige der havarierten Meiler waren abgeschaltet, im Reaktor 4 befinden sich "nur" abgebrannte Brennstäbe in Kühlbecken. Trotzdem gehen von ihnen aktuell die gleichen Gefahren aus, wie von den erst durch Erdbeben und Tsunami durch Not-Abschaltung gestoppten Reaktoren.

Eine weiter Nutzung der Atomenergie vergrößert mit jedem Tag das Problem. Daher ist es, um nicht falsch verstanden zu werden, richtig, bei uns sofort alle AKW stillzulegen. Was aber dadurch nicht gelöst wird, sind die Fragen der Sicherheit, der Entsorgung, der weiteren Wartung, des Ab- bzw. Rückbaus und vor allem der Endlagerung der radioaktiven Materialien. Niemand kann die Probleme wegzaubern oder auf nimmer wiedersehen verschwinden lassen. Diese Materialien, egal ob in fester, flüssiger oder gasförmiger Gestalt müssen geschützt und sicher verwahrt werde, sie müssen vor unerlaubten Zugriffen gesichert werden. Es muss Institutionen und Organisationen geben, die, über Generationen, so etwas realisieren können.

Es ist schlicht und einfach Scharlatanerie, wenn heute immer noch behauptet wird, wir könnten mit der Nutzung der Atomenergie so weiter machen wie bisher, weil wir ja irgendwann die Technik beherrschen werden. Wir hinterlassen den nachfolgenden Generationen schon einen gigantischen Berg an ungelösten Problemen. Wer "weiter so" sagt und handelt, handelt verantwortungslos und nach dem Motto: "Nach mir die Sintflut". Aber auch diejenigen, die meinen, mit der Parole "Atomkraft – Nein, Danke!" wären alle Problem gelöst, betreiben Scharlatanerie. Wir müssen im gleichen Atemzug, in dem wir "abschalten" sagen, auch sagen, was mit dem Müll, dem Schrott, den Hinterlassenschaften, geschehen soll. Und eine solche, über Generationen gültige Entscheidung kann nicht per ordre de mufti getroffen und mit Wasserwerfer und Schlagstock durchgesetzt werden. Das Sankt Florians Prinzip führt aber auch in eine Sackgasse.

Professor Robert Jungk schrieb 1977 in seinem Buch "Der Atomstaat": "Atomindustrie, das bedeutet permanenten Notstand unter Berufung auf permanente Bedrohung. Sie 'erlaubt' scharfe Gesetze zum 'Schutz der Bürger'. Sie verlangt sogar die Bespitzelung von Atomgegnern und Naturschützern als 'Präventivmaßnahme'. Sie kann die Mobilisierung Zehntausender Polizisten gegen friedliche Demonstranten ebenso 'rechtfertigen' wie deren im Umgang mit Verbrechern erlernte Leibesvisitationen". Ja, es ist alles Wirklichkeit und noch viel schlimmer. Es muss auch klar sein, wenn sich die politischen Verhältnisse nicht grundlegend ändern, wird es auch immer so bleiben. Ausstieg hin – Ausstieg her. In einem wunderbaren Film eines Schweizer Filmemacherehepaars aus den Sechzigerjahren, mit dem Titel "Isidor Huber" gibt es einen schönen Satz: "Wir hinterlassen unseren Kindern einen möglichst großen Besitz, damit sie geschützt sind vor der Gesellschaftsordnung, die wir ihnen ebenfalls hinterlassen". Die Macher dieses Film hatten damals die Atomproblematik noch nicht in ihrem Visier. Wir vermachen unseren Kindern nämlich auch etwas, wovor sie kein Reichtum dieser Welt schützt. Den atomaren Müll.

Es gibt meines Erachtens drei Wege diesen "Faustischen Pakt" aufzulösen. Entweder wir begehen kollektiven Selbstmord, dann hat die Natur das Problem, aber die Menschheit nicht mehr; oder wir denken uns das Problem einfach weg und akzeptieren es als allgemeines Daseinsproblem, wie den Verkehrstod oder Hunger und Durst. Nach dem Motto: "Sorge dich nicht, lebe", und schreiben darüber ein Buch. Der dritte Weg erfordert das Überwinden unserer bisherigen Lebens- und Verhaltensweisen. Es setzt voraus, dass die Dinge so gesehen werden, wie sie sind. Eine "friedliche Nutzung" gibt es nicht. Die atomare Energiegewinnung und deren Folgen hat ein ähnliches Vernichtungspotenzial wie ein atomarer Weltkrieg. Es setzt außerdem voraus, dass die bisherigen gesellschaftlichen Mechanismen nicht nur Infrage gestellt werden, sondern auch durch dem Wohle der ganzen Menschheit verpflichtete ersetzt werden. Das Motto "der Mensch mache sich die Erde untertan" war immer falsch und hat ausgedient. Es ist Vergangenheit. Zukunft hat nur ein Leben in Einklang mit der Natur, nicht mehr gegen sie. Wir sollten damit endlich anfangen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass alle heute in der Gesellschaft handelnden Personen, Gruppen und Institutionen sich dessen auch vom Grundsatz her bewusst sind. Sie vermeiden es nur unter allen Umständen diese "Wahrheiten" den Menschen in unserem Lande zu eröffnen. Im Gegenteil. Sie nutzen diese Situation, um ihre Macht und ihren Wohlstand abzusichern, ihren persönlichen Profit zu mehren. Sie konstruieren Bedrohungspotenziale, schüren Existenzängste, um gleichzeitig scheinbare, einfache Lösungen parat zu haben, um diese Gefahren, Bedrohungen, Ängste zu beseitigen. Der erforderliche Repressionssapparat, die gesetzlichen und rechtlichen Instrumentarien werden von der Bevölkerung dankend akzeptiert. Die tatsächliche, existenzielle Bedrohung wird vertuscht, geleugnet oder als nicht existent abgetan. Solange die Menschen z. B. glauben, eines der existenziellen Problem der Zukunft wäre das immer Älterwerden der Gesellschaft und nicht das Problem der Nutzung der Atomenergie, solange ist der Menschheit nicht mehr zu helfen. Ich für meinen Teil halte es übrigens, seit den Erfahrungen auf der Wilster Marsch 1981, wie in einem Text von Carl Amery:

"Was rufst du um Hilfe, Törichter? Ich helfe dir nicht. Du hast dir selbst geholfen.

Erwählt, geprüft, verbündet mit der Allmacht, wie du sie verstehst, hast du aus deiner winzigen Weltecke die Erde erobert. Du hast die Zeichen deines Sieges und die Zeichen der Vernichtung in die Flanken der Berge, in den Schoss der Erde, auf die Linien des Wassers geschrieben.

Und nun, da du mit deiner Siegerfahne auf den Leichen stehst, da du dich einsam fühlst und von der Zukunft verlassen, willst du von Mir die alten Verheißungen einfordern. Du fragst: Ist nicht alles auf meine Freiheit, mein Glück, meine Befriedigung allein angelegt?

Und Ich sage dir: Glück für einen allein gibt es nicht."
Carl Amery, "Das Ende der Vorsehung. Die gnadenlose Folgen des Christentums"


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