Versagermama verliert morgens um halb acht, nachdem ihre Tochter sie zum dritten Mal grundlos angekeift hat, zum ersten Mal den Nerv. Wäre sie nicht Versagermama, würde sie säuseln „Mein herzallerliebstes Töchterlein, es würde mir sehr viel bedeuten, wenn du aufhören würdest, in diesem Ton mit mir zu reden. Weisst du, der Mama macht das ganz tief im Herzen weh, wenn du so mit ihr sprichst.“ Aber sie ist Versagermama und darum brüllt sie: „Mein liebes Kind, ich hab’ deinen giftigen Tonfall so langsam aber sicher satt. Immerhin bin ich der Mensch, der dich zuallererst geliebt hat und der dich immer lieben wird, also willst du wohl damit aufhören, mich als deinen Abfallkübel zu behandeln? Mir reicht es, immer mitansehen zu müssen, wie du mit allen anderen Menschen nett bist, während ich deinen ganzen Frust an den Kopf geworfen bekomme.“
Versagermama hat dienstags auch nur noch zwei oder drei gefleckte Bananen und ein paar verbeulte Nektarinen vorrätig, welche die Kinder für die Pause mitnehmen können. Sie hat es mal wieder nicht geschafft, rechtzeitig einen Zwischendurcheinkauf zu erledigen. Versagermama ist natürlich auch die Einzige, die morgens noch in Richtung Kindergarten unterwegs ist, während all die anderen Mütter und Au Pairs bereits wieder auf dem Heimweg sind. Und wenn sie endlich im Kindergarten ankommt, wird Versagermama gefragt, weshalb denn gestern niemand gekommen sei, um den kleinen Jungen abzuholen. Natürlich gibt es einen Grund dafür – die grossen Geschwister haben ihren kleinen Bruder vergessen -, aber Versagermama weiss sehr genau, dass nicht die Kinder die Schuld trifft, sondern sie ganz alleine, weil sie ihre grossen Kinder noch nicht soweit gebracht hat, ihren kleinen Bruder nie und nimmer zu vergessen. Im Laufe des Tages gibt es noch unzählige Gelegenheiten, bei welchen Versagermama ihr Unvermögen beweisen kann und es wundert keinen, dass sie diejenige ist, die am Kindergarten-Elternabend so spät erscheint, dass sie nur noch ausserhalb des Kreises einen Platz findet. Natürlich weiss sie auch, dass sie damit gemeint ist, wenn die Lehrerin voller Abscheu von Eltern redet, die doch tatsächlich manchmal die Bibliotheksbücher ihrer Kinder nicht mehr finden können und auch wenn Versagermama weiss, dass die Bibliotheksbücher nur deswegen verschwinden, weil sie in der Masse der eigenen Kinderbücher untergehen, so steigt ihr dennoch die Schamesröte ins Gesicht. Wer will denn schon wissen, weshalb etwas nicht so läuft, wie man dies von einer braven, angepassten Schweizer Familie erwarten würde?
Manchmal ist Versagermama ziemlich frustriert und tieftraurig über ihr ständiges Versagen. Sie wünschte sich, dass auch in ihrem Leben die Dinge so schön wohlgeordnet und überschaubar wären, sie überhäuft sich mit Selbstvorwürfen, denn eigentlich wüsste sie ja, dass sie einfach nur alles mit etwas mehr Ruhe angehen müsste, damit nicht immer und immer wieder das Chaos ausbricht. Manchmal fragt sie sich auch, weshalb der liebe Gott ihren Kindern eine solche Versagermama zugemutet hat, aber zum Glück meldet sich dann meist eine innere Stimme zu Wort, die sie wieder beruhigt. „Du magst in vielen Bereichen nicht so perfekt sein, wie du es dir wünschen magst und wie man es von dir erwarten mag“, sagt diese innere Stimme „aber zeige mir einen einzigen Menschen – mal abgesehen von „Deinem“ – , der diese Kinder ebenso liebt wie du. Solange du sie liebst und auch fähig bist, es ihnen immer aufs Neue zu zeigen, so lange hast du nicht total versagt.“