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–––Auf unserem Balkon rauchen wir noch eine. Es ist kurz nach Mitternacht, der Lärm der noch verkehrenden Busse wirft sich dröhnend zwischen der Häuserschlucht hin und her. Unrat quillt aus den klaffenden Wunden der schwarzen Säcke. Für uns ist es Abfall – den Armen ein Glücksfall.
In Allisons Körpersprache lese ich Verlegenheit. Sie zieht die Ärmel oft bis über ihre Hände, und wenn sie wartet oder zuhört, liegt ein Oberschenkel immer über dem anderen und die Spitzen ihrer Schuhe zeigen zueinander. Es ist keine Koketterie, wenn ihr braunes Haar – einer Gardine gleich – ihre Wange, ihre braunen Augen verhüllt. Allison inspiriert mich, ich fühle mich wohl in ihrer Nähe. Wir sprechen über das Schreiben mit Worten und das Schreiben ohne Worte. Es bleibt mir ein Mysterium, wie Menschen es schaffen, mit der Feder Menschen haargenau abzubilden. Ich habe sie um eine Zeichnung von mir gebeten – aber eher aus Spaß heraus. Nun sitzt sitzt jeden Tag da, für einige Augenblicke, auf ihrem Bett, zeichnet und ärgert sich über verfehlte Linien, zu dicke Schraffuren, verwischtes Blei. Sie lässt sich gern ablenken. Manchmal fragt sich mich aus heiterem Himmel etwas, und dann liegt ihr Zeichenbuch aufgeklappt auf ihrem Schoß und die Feder in der Hand. So reden wir: Ich sitze vor meinem Computer, sie vor ihrer Kladde – und beide hören wir Blues und trinken Wein oder Abklatsch-Liköre. Und einmal, da stehen wir auf dem Balkon, dem Treiben auf der Straße folgend – zwei Männer laden Gasflaschen aus und tragen sie in ein Geschäft – da sagt sie, dass ich sie mit meinen Fragen und meinem Zuhören irritiere. Und das wiederum kümmert mich, woraufhin sie mir antwortet, dass sie es nicht gewohnt sei, dass man ihr zuhört, dass man sie überhaupt reden lässt. Und nun leuchtet mir ein, warum sie beim Lachen immer ihre Hand davor hält, warum ihre Stimme zum Ende eines jeden ihrer Sätze vage und fragend wird, mir wird klar warum Allison zeichnet. Sie spricht eine Sprache, die nur Wenige verstehen.
Und wieder erinnere mich an meine Kindheit. Jeden Montag bat Fr. Klingenberg uns einen Sitzkreis zu bilden. Wenn alle auf ihren vier Buchstaben saßen, begann Fr. Klingenberg zu erzählen, über ihr Wochenende und was sie so Schönes unternommen hat. Dann war sie fertig und reichte den kleinen marmorierten ›Sprech-Stein‹ weiter, an Till, der mit seinen Wochenend-Erlebnissen die Klasse immer zu begeistern wusste. Dann war auch er fertig und gab den ›Sprech-Stein‹ weiter. An Lisa, die im Kino war und dann beim Eis essen. Lisa gab den Stein an Eva, die zum ersten Mal auf dem Hof eines Onkels geritten ist. Und Eva gab den Stein an Tobias, der ganz viele Freunde zu seiner Geburtstagsfeier eingeladen hatte. Tobias gab den Stein an Marianne, die sagte nichts und gab den Stein sofort an Hakan, dem Jungen mit der komischen Nase und der nasalen Stimme, dessen Familie sich sehr um meine Integration bemühte, vielleicht weil sie auch ›Ausländer‹ waren. So ging der Stein reihum, und kam mir immer näher. Ich versuchte mir die Sätze meiner Klassenkameraden zu merken, denn mein Deutsch war weniger als rudimentär, noch sprach ich meine Muttersprache, die ich bald verlieren sollte. Und je näher der kleine weiße Stein mir kam, umso kleiner fühlte ich mich. Ich begann zu schwitzen, wippte mit den Füssen, die Hände unter mein Gesäß gehaftet und biss mir auf die Lippen. Und dann legte man mir den Stein in die Hand und es war, als würde ich glühende Kohle halten. Es fiel mir schwer über mein Wochenende zu sprechen, denn mein Wochenende war nicht so witzig, ereignisreich oder spektakulär. Es war wie immer. Und ich schämte mich, denn meine Eltern hatten kaum Geld, obwohl Papa, Tag und Nacht und Samstags, auf Baustellen schuftete, und Mama nach ihrer Sprachschule, nach den Mutteraufgaben – mein Bruder war noch Säugling – auch noch putzen ging. Jeder Pfennig wurde umgedreht, Mutter führte darüber Buch. Mir war es unangenehm über immer dasselbe zu berichten: Dass wir am Sonntag spazieren waren, bei meiner Tante Kuchen aßen, und ich eigentlich nur vor dem Fernseher hing oder auf verwahrlosten Spielplätzen herumlungerte. Ich glaubte, dass ich nicht mithalten kann, und Kinder möchten immer mit anderen Kindern gleichziehen. Fr. Klingenberg fragte mich immer aus, ich stammelte und traute mich nicht einmal in die Gesichter der anderen Kinder zu schauen. Ich begriff nicht, dass sie nur wollte, dass ich die Deutsche Sprache schnell lerne. Und oft glaubte ich, die Kinder mit meinen immergleichen zerhackten Sätze zu langweilen. Als Kind schätzt man manchmal die kleinen Dinge des Lebens nicht und in der Pubertät grämte ich mich, dass ich die liebevollen Aufmerksamkeiten – wie zum Beispiel Zeit – meiner Eltern nicht gebührend entgegennahm.
Im Laufe unserer gemeinsamen Zeit öffnet sich Allison, sie spricht immer mehr und mehr, und irgendwann … spreizt sie ihre Beine. Und ihre Fragen sind nicht mehr bloße Gegenfragen, und vielleicht begreift sie langsam auch, dass es Leute gibt, die Fragen nicht nur stellen, um sich selbst reden zu hören. Und einmal da fragte ich sie, ob sie sich gefunden hat, und sie sagt ›Ich habe nie gesucht‹.
Mit Allison besuche ich La Boca, ein Arbeiterviertel, südlich von San Telmo, dass italienische Einwanderer Ende des 19. Jahrhunderts gründeten. Berühmt ist La Boca für seine bunt gestrichenen Wellblechhäuser, dessen Material abgewrackten Schiffen entnommen wurde. Die Straßen sind vollgestellt mit Stühlen und Tischen, Souvenirs und Kunsthandwerk, Straßenmusiker spielen auf Bandoneons und festlich gekleidete Tänzer tanzen mit solventen Touristen Tango. Trotz der eitlen, fast schon überspannten Atmosphäre, die für die Touristenhorden künstlich am Leben gehalten wird, ein hübsches Viertel. Wir bestellen uns schmackhafte saftige Rindfleisch-Empanadas mit Gemüse und Kaffee, versuchen Gedichte auf Treppenstufen zu lesen, beobachten Tauben und Menschen. Allison sucht nach einer Halskette für eine Freundin, ich kaufe mir einen schwarzen Tangohut.
Federica hat mich zu einer Vernissage eingeladen. Ich nehme Allison mit. Auf der Taxifahrt nach Boedo leeren wir unsere Pulle Abklatsch-Baileys. Die Galerie, in einer alten Villa residierend, ist bereits gut besucht. Federica begrüßt uns herzlich und führt uns in ihren Ausstellungsraum. In der Mitte des Raumes steht ein Stuhl. Er ist mit einem floralem Muster in Schwarz und Weiß bemalt. Auf der Sitzfläche steht das Wort ›Krieg‹, dass sich an seiner eigenen Grundlinie spiegelt, geschrieben. An der Wand hängen zwei dunkle, mit viel Farbe aufgetragene Bilder, die ein Dreieck nach unten und ein Dreieck nach oben darstellen. Beide Bilder sind mit warmen Farben leicht besprengt. An der linken Wand hängt eine zitronengelbe Akustikgitarre. Ihr gegenüber hängen Fotos, die in einem Club aufgenommen wurden. Zwischen ihnen sind zwei kleine Spiegel angebracht, jeweils mit ›Liebe ist befähigt‹ und ›Die Antwort bist du‹ beschrieben. Ich frage Federica warum denn keine Bildunterschriften an den Werken hängen. Es fiele mir schwer das Werk zu begreifen. Und Federica antwortet, ob denn es nötig sei, alles zu kennzeichnen. Der Betrachter solle sich Zeit nehmen, soll selbst suchen. Und ich erwidere, dass ich keine Kategorie brauche, lediglich einen Ideen-Anstoß. Vielleicht, weil ich mich von einer Welt der Worte umgeben fühle. ›Die Dinge sollen für sich sprechen‹ fährt sie fort, nennt mir aber schließlich doch den Titel, der ›Balance‹ lautet. Federica fühlt sich fast angegriffen, als ich ihr sage, dass ich eher ein Ungleichgewicht feststelle. Mir scheint die Gitarre im Gegensatz zu den Photographien, im Gegensatz zum ›Krieg‹ als viel zu leicht. Aber ich habe vergessen, dass sie leidenschaftlich gern Musik spielt und hört. Nur die Bilder assoziieren mir zu sehr Zerstreuung, Hedonismus. Musik gegen Krieg zu schreiben ist nobel. Sich ihr aber lediglich hinzugeben, sie nur zum Tanzen, zum Vergessen oder Vergnügen zu gebrauchen, so wie die Photographien es mir zeigen, erscheint mir in diesem Zusammenhang fast schon ignorant. Und im gleichen Augenblick frage ich mich, wer The Clash hört und wer The Clash ließt. Aber wir haben den Begriff ›Krieg‹ nicht geklärt, und vielleicht versteht Federica unter diesem Begriff den mentalen Krieg. Wie dem auch sei, politisch scheint mir ihr Werk. Obwohl sie in der Kneipe noch behauptete, nicht politisch zu sein. Und so bestätigt sich Allisons Vermutung, dass manche Leute, allein aus dem Grunde nicht über Politik sprechen zu wollen,sagen, sie seien nicht politisch … Federica arbeitet für die Regierung …
Wir stehen an der Bar und Allison fragt, ob ich in Künstlerkreisen verkehre. Ich verneine, vermutlich, weil die Menschen, die mich umgeben und Dinge kreieren, sich nicht als solche bezeichnen. ›Künstler‹ ist nur eine Kategorie, ein Klischee. Wer möchte sich schon einordnen lassen? Insbesondere im Zeitalter des Individualismus, der durch seine Omnipräsenz fast schon zu einem Uniformismus geworden ist? Und ich erzähle ihr von einem Freund, dessen Kunst darin besteht, der Natur einen Kalender zu widmen, von einer jungen Mutter, die wundervolle Dialoge mit ihrer Tochter aufzeichnet, und einem anderen Freund, der nach langer Zeit wieder mit dem Schlagzeugspielen angefangen hat. Wie schon einmal geschrieben, die Zeit und ihrer Nachkommen werden entscheiden, wer sie waren.
Im Innenhof wird ein Video projiziert. Tanzende geometrische Figuren. Die Leute kommen und gehen. Rauchen, saufen, diskutieren, lachen.
›Das ist Kunst von Leuten, die Geld haben und nun Kunst machen wollen, weil sie Künstler sein wollen. Das ist keine ehrliche Kunst, keine aus dem Bauch.‹
›Mir gefallen die meisten Bilder auch nicht, sie sehen aus wie Bilder von Anfängern. Aber, hartes Urteil!‹
Die Bilder im Flur sind Selbstportraits, zu meist Frauen. Traurige Frauen. In ihrer Umsetzung wirken schwerfällig. Und allen fehlt das entscheidende Etwas, das ein Bild lebendig macht.
›Allison, als ich vorhin Bier bestellte, hat dich Federica nach deiner Meinung gefragt.‹
›Und?‹
›Du hast gesagt, dass du die Werke großartig findest.‹
›Ich weiß.‹
›Du hast geheuchelt. Mir hast du etwas anderes gesagt. Warum?‹
›Weil sie meine Meinung nicht hören will.‹
›Und deswegen hat sie dich gefragt?‹
›Sie will hören, dass es toll, großartig ist. Sie will hören, dass es uns gefällt. Nichts anderes.‹
›Findest du nicht, dass Kritik, Konstruktive, wichtig für einen Künstler ist?‹
›Ja, ist es. Für Künstler. Aber sie ist kein Künstler.‹
›Na, das muss ich mir notieren. Was ist sie dann?‹
›Schau doch in ihre Augen. Sie ist unsicher. Sie steht nicht dahinter, hinter ihrer Idee. Sie selbst sagte mir noch, dass sie nicht überzeugt ist, von dem was sie da ausstellt. Deswegen hat sie auch so angefeindet reagiert, als du dich geäußert hast.‹
›Ich habe nur gesagt was ich empfinde. Ich habe nicht gesagt ›das ist Scheiße‹ oder ›das ist Gold‹!‹
›Siehst Du. Darum ging es nicht. Es geht nicht um deine Meinung. Wie so oft bei solchen Anlässen.‹
›Ich finde es trotzdem wichtig. Damit muss sie umgehen können, damit wird sie umgehen können. Und, solange deine Kunst ehrlich ist, kann es dir eigentlich scheiß-egal sein, was andere Leute davon halten. Kunst ist nicht dazu da, reich zu werden. Kunst ist Ausdruck: Scheißen, Ficken, Atmen … ‹
Und ich erinnere mich an eine Klassenkameradin, die ich nach dem Gymnasium einmal wiedertraf. Zu der Zeit lass ich viel Bukowski. Sie mokierte, dass ich Bukowski mit Tolstoi verglich: Bukowski wäre kein Schriftsteller, seine Lyrik sei schlecht, seine Kurzgeschichten nur besoffen und pervers. Und wie ich in aller Herr Welt Namen dazu käme, ihn mit einem wie Tolstoi zu vergleichen. Und heute denke ich: Bukowskis Qualität ist fragwürdig, aber nur wenn man seinen biographischen Hintergrund außen vor lässt. Bukowski war ehrlich, und er hat es befürchtet, dass man ihn nach seinem Tod vergöttert, ihn zu etwas erhebt, wonach er nie gestrebt hat. Und das stellt ihn über all die Urteile studierter wohlbehüteter Literaturwissenschaftler, die nie von Nutten abgezogen und Zuhältern verprügelt wurden, in Essiggurken-Fabriken gearbeitet und auf der Straße geschlafen haben. Man kann das Werk eines Menschen nur verstehen, wenn man den Menschen versteht. Und nur wenn man das versteht, ist Kritik angebracht und sinnvoll.
›Weißt du, was mich zweifeln lässt? Einerseits scheinen all diese Bilder um ein Konzept bemüht, aber anderseits verzichten sie auf Titel, was ein Konzept erkennen lassen würde. Das ist nicht besonders künstlerisch.‹
›Hm, was ich ihr anerkenne ist, dass sie es versucht. Sie kommt aus konservativem Hause. Sie hat mir so Eigenes erzählt, dass ihr Vater immer Anzüge trägt, mit Geld noch mehr Geld verdient, dass sie wert auf Tradition legen … sie versucht da auszubrechen, sich abzugrenzen gegenüber einem Credo, dass sie nicht anerkennt.‹
›… was normal ist …‹
›Und außerdem … sie ist sehr jung, 25 … ich finde es gut, dass sie immerhin etwas schafft.‹
Widersprüche. Einerseits verlangen wir nach Titeln für die Werke, um sie zu verstehen, auf der anderen Seite aber kritisieren wir, wenn Künstler von anderen gedrängt werden ihre Werk zu erklären. Denn Allison könnte sich nie vorstellen, eine Kunsthochschule zu besuchen, denn dort müsste sie ihre Bilder interpretieren, sich vor eine Klasse stellen und sich einem Kommunikationsmittel bedienen, das ihr fremd und somit Ursache für ihre Kunst ist. Und ich denke an mein kleines Büchlein. Denn als ich anfing, Gedichte zu schreiben, schrieb ich nicht des Schreiben willens, sondern weil ich ein Bedürfnis verspürte. Ich gab ihnen nie einen Namen, nie eine Überschrift. Ich schrieb, was mir in den Sinn kam. Sie waren Tropfen aus einem Strom von Wahrnehmungen und Gefühlen. Und die Leute im Verlag wollten ein Konzept, Gliederungen, Überschriften. Aber ich dachte, wenigstens meine Gedichte sollen frei sein. Ich kann nicht mehr sagen, als dass ich über das Leben schreibe. Und das Leben wird immer ein Wort größer sein, als unser Wortschatz.
Wir verabschieden uns von Federica und Allison fragt mich, draußen vor der Tür, ob ich irgendwas böses gesagt hätte, denn Federica wirkte verstimmt, gekränkt. Aber da war nichts, nur Federicas letzte an mich gerichtete Worte ›du denkst zu viel‹ … aber irgendwer muss doch denken …