Dienstags, im Pub, in Buenos Aires

Wenn man von meinem Gästehaus Richtung Plaza de Mayo geht, gelangt man bald auf die Avenue Julio A. Roca, auf dessen linker Seite sich ein gewaltiges historisches Gebäude mit einem gewaltigen Uhrenturm erhebt. Weniger Schritte weiter ist man am Cabildo de Buenos Aires, dem ältesten Gebäude der Stadt. Auf der gegenüberliegen Seite befindet sich der rote Präsidentenpalast und nach vorne blickend wuchten zwölf korinthische Säulen einen Ziergiebel in den lauten Nachthimmel. Das Relief zeigt die Wiedervereinigung von Josef mit seinem Vater Jakob und seinen Brüdern. Beim ersten Besuch war mir noch nicht klar, dass es sich hierbei um eine Kathedrale handelt. Und wenn man dann links der San Martin in den Norden folgt, möchte beinahe zu Gott rufen. Denn in dieser dunklen Straße sieht man das, was man nicht sehen möchte: Menschen, die im Müll scharren, Menschen, die Säcke aufschlitzen, nach Pappe, Plastik und Essen suchend. Pferdekarren, vollgeladen mit Wertstoffen, ziehen an mir vorbei. Dann kreuze ich eine breite Avenue, die Blick auf den illuminierten Obelisken freigibt. Die Avenue quillt vor Leben, vor Muse und Zerstreuung: Leuchtreklame für Kinos und Theater, Restaurants und Kneipen mit lauten Kellnern. Quadratmetergroße Plakate makelloser Körper, jugendlicher Gesichter, die für Parfüm und Unterwäsche werben. Taxen, Omnibusse, Lastwagen, Motorräder, Autos und überall Menschen, Menschen, Menschen – Melodien und Gerüche. Und dann taucht man wieder in diese Parallelwelt ein und es wird still und der Müll liegt auf den Gehsteigen zerstreut, vor der Bank wacht Sicherheitspolizei und alte Frauen kauern in Decken gehüllt, Obdachlose schlafen, im Windschutz der Portale und Wellpappen, und wieder Schatten, die im Müll in Gummistiefeln waten, und die ihre Thermoskannen und Straßenschuhe an die Wand gestellt haben. Hunde folgen mir. Und kurz vor der Kneipe, wo ich verabredet bin, kommt mir ein dunkelhäutiger Mann entgegen, der mich bis heute nicht loslässt: Ein Mann, in schwarze Müllsäcke gehüllt, halbnackt, barfuß auf dem nassen Kopfsteinpflaster, mit verfilztem langen Haar, wirrem Blick, nach altem Kot riechend.

Ich bin mit Federica verabredet. Eigentlich wollte ich bei ihr unterkommen, meine letzten Tage in Buenos Aires, aber sie sagte sie hätte keine Zeit, und schlug deshalb ein Treffen in einem Irish-Pub vor. Ich bestelle ein Stout, sie Jägermeister-Cola. Die Kellnerin brachte gesalzenes Popcorn. Federica trägt eine dieser Brillen, die derzeit in Berlin in gewissen Kreisen populär sind, und unter anderem von Leuten getragen werden, die eigentlich keine Brille brauchen, aber diese Brillen irgendwie schick finden. So kommen wir bald auf das Thema Mode.

› … und wenn ich durch Berlin laufe, oder Bilder von London habe Paris sehe, dann habe ich immer Menschen im Kopf, die im gewissen Sinne individuell wirken, sich bemühen…‹
› … du vergleichst Mode-Metropolen mit Buenos Aires.‹
Ja und? Die Kunst in dieser Stadt ist doch allgegenwärtig … überall Musik und Graffiti …‹
Es bleibt Südamerika!‹
Trotz seiner Einflüsse im Essen? In der Literatur, der Musik? … Wenn ich hier in einem Club bin, dann sehen alle gleich aus, obwohl sich jeder bemüht, individuell zu sein, entschuldige, ich will niemanden angreifen, aber die Frauen, also die in den Clubs, die, die sehen aus wie Nutten, bemalte Puppen, die Männer wie aus dem Katalog ausgeschnitten.‹
Das sind Trends, das wechselt hier schnell. So wie sie heute rumlaufen, werden sie im nächsten Sommer wieder anderes sich kleiden.‹
Also wie zuhause … nur erkenne ich dort einen Rapper oder Punk, einen Schnösel, Bücherwurm oder Existenzialisten – hier habe ich noch nicht einen gesehen, der durch sein Äußeres auf so etwas wie Subkultur hinwies … Was trägst Du am liebsten?‹
Hm … das ist verschieden, mal eher wie ein Rocker, mal elegant, zu der Hochzeit eines Freundes hatte ich mal ein coolen Anzug, mit langen Ärmeln, einer Weste, Hosenträgern, und sogar einen dunklen Hut. Einige fanden das unangemessen, aber … pffff … ich fand es klasse …‹
Hört sich stilvoll an.‹
Ich bin durch meine Arbeit schon eingeengt, ich muss immer Kostüm tragen.‹
Aber du arbeitest doch in einer Kreativ-Branche? Du bist doch Designerin?‹
Ja, stimmt, aber ich arbeite für die Regierung, und, ich bin Vorgesetzte. Ich bin eine der Jüngsten und Frau.‹
Und was machst du genau?‹
Ich koordiniere all die Abläufe, zwischen Kunden und meinen Grafikern. Hab also mit Design direkt inzwischen wenig zu tun.‹
Und … gefällt dir deine Arbeit?‹
Heute nicht, aber sonst schon … doch gefällt mir, ist derzeit nur sehr sehr viel zu tun, bis zum Zehnten, wenn die Wahlen anstehen.‹
Nicht schlecht … hm … wie in Deutschland, wie überall … Ich mag das nicht, diese Mentalität. Weißt du, statt mit Wesentlichem zu überzeugen, versuchen die Leute es immer mit Anzug und Krawatte. Ist es schwer sich durchzusetzen, ich meine als Frau?‹
Hm … anfangs, aber man hat sich an mich gewöhnt. Was machst Du eigentlich?‹
Sozialarbeiter und … ich … schreibe.‹
Ja stimmt, hast Du geschrieben. Aber sage mal, wie ist das in Deutschland, mit Tattoos?‹
Mit Tattoos?‹
Deine Hand zum Beispiel … hier hättest du schon Probleme eine Arbeit zu finden.‹
haha … ja, also in Berlin sind Tattoos beliebt, überhaupt sind Tattoos seit einigen Jahren ungemein populär, in Deutschland zumindest. Die Meisten verstecken sie. Kommt drauf an, wohin du willst.‹
Und, wohin willst du?‹
Ach, vielleicht bin ich naiv, oder Romantiker, aber ich denke, die Leute sollen mich nach dem, was ich mache beurteilen, und nicht danach, ob und inwiefern ich in ihr Schönheitsideal passe … keine Ahnung, definitiv nicht dahin, wo man sich verkleiden muss und und … seine Ideale an – wie sagt man? … Ah! Kleiderbügel, ja also, an den Kleiderbügel der Kindheit hängt … ich glaube, wenn mich einer danach beurteilt, möchte ich mit diesem Jemand auch nichts zu tun haben … und außerdem, ich bin Sozialarbeiter, das macht mich bei manchen Jugendlichen beliebter, authentischer, Kinder finden das witzig, die sind mir sowieso am Liebsten, die sind nicht so … so … die sind neugierig, und die ganz Kleinen, die sind einfach nur goldig, denen kannst du was über deine Vögel erzählen, und wie sich dich wegtragen, wenn es dir nicht gut geht, und die schauen dich dann mit großen Augen an … und wissen, dass du Blödsinn erzählst, aber sie lachen … und das ist schön.‹

Wir wechseln die Bar. Es ist Dienstag und wir die einzigen Gäste. Die Kräfte sind müde. Eine Tür weiter, nächste Kneipe. Ich bestelle einen Gin-Tonic, Federica einen Batida-Maracuja.

 ›Nein. Design und Politik sind nicht eins.‹
Sondern?‹
Ich kann doch ein Produkt gestalten, fern von meinen politischen Überzeugungen, falls ich mich überhaupt für Politik interessiere … ‹
Bist du politisch?‹
Nein, bin ich nicht.‹
Und das ist meiner Meinung nach auch ein Politikum. Nein, ich verstehe das nicht, und nach meiner Auffassung gibt es niemanden der unpolitisch ist. Selbst Säuglinge.‹
Ich glaube wir reden aneinander vorbei …‹
Und ich glaube, die Meisten reduzieren das Politische auf die große, sichtbare Politik …‹
Am Nachbartisch führte ein Mann die Gabel der Frau in den Mund. Sie schließt die Augen, lächelt, und dann lächelt auch der Mann. Dann nimmt sie ihm die Gabel aus der Hand, und dreht grüne Spaghetti ums Besteck. Er schließt die Augen, öffnet seinen Mund …
Weißt Du, aus diesem Grund habe ich meinen Job an den Nagel gehangen.‹
Aus welchem?‹
Eben weil ich Arbeit und Politik und Leben nicht trennen konnte. Und nicht will. Das ist für mich alles eins. Man, ich war frustriert, wütend, ich habe mich …‹
› … verkauft, ein Hippie also: Du wolltest nichts mit dem System zu tun haben, nichts mit Kommerz und Kapitalismus und so. Nicht?‹
Ach komm … ich weiß nicht, was das mit Hippies zu tun haben soll. Ich kann mich dran erinnern, als ich mich endgültig davon trennte. Geistig meine ich. Ich glaube … es war der 19. oder 20. März. 2003.‹
Was war da?‹
Der Tag an dem die USA Bagdad bombardierten. Ich weiß noch, wie ich da saß, mit meinem beiden Chefs, wie sie ihre teuren Zigaretten rauchten, auf ihre teuren Anzüge aschten, und sich fast eine Stunde über den Ausschnitt eines Photos stritten. Und ich saß da, schob das Bild nach links, dann nach rechts, dann verkleinerte ich es, dann vergrößerte ich es, und beide saßen da mit umgeschlagenen Beine, rauchten ihre teuren Zigaretten, qualmten mich zu, aschten auf den Boden, ihre teuren Anzüge, die trotzdem schlecht saßen, weil die beiden dick waren, und ich dachte, dass ist doch gut so, und warum diskutieren wir hier über so eine sinnlose Scheiße, und ja ich war einfach nur genervt und wollte nach Hause endlich ein Bier trinken, auf ein Konzert gehen, und als ich endlich zu Hause war, völlig angepisst, schaltete ich den Fernseher an und … schämte mich … ja, ich war erschrocken, dass ich so über mich klagte, über das, womit ich mein Geld verdiente, über diese sinnlose Diskussion über ein sinnloses Produkt einer sinnlosen Firma, darüber, dass ich mich wieder nur besaufen und nur eine zum Ficken suchen würde, denn da im Fernsehen, da sah man diese Aufnahmen, die Bomben, die Rauchschwaden, hörte das Krachen, den Alarm, und ja ich schämte mich für das, was ich tat, für den Spruch meines Chefs, der meinte, dass die ›Titten‹ diese Frau größer gemacht werden sollten, während in Bagdad Menschen gerade starben …‹
Und?‹
Ha … ich blieb noch fast zwei Jahre, dann ging es nicht mehr. Ich wollte mit diesen Leuten, ihren Ansichten, ihren Ideen …
Schau mal!‹ unterbrach Federica mich. Die Musik ging aus.
Wo? Was ist los?‹
Die schlagen sich!‹
In der Kneipe entfachte eine Schlägerei. Ein Knäuel ineinander gekeilter Männer drängte zur Tür. Die Bedienung rannte – mich streifend – hin.
Seltsame Kneipe. Hast Du die Frauen bemerkt?‹
Nein, was meinst Du?‹
Vorhin auf der Toilette, da kam eine ältere Frau rein, völlig betrunken, irgendwas lallend, aber ich verstand sie nicht. Ich glaub die suchen hier Männer.‹
Das würde so einiges erklären.‹
Die Musik wurde wieder eingeschaltet. Die Bedienung kam zurück.
Nun, ich war schon immer eher sozial, wollten Leuten helfen, sie unterstützen …‹
Federica fragte stumm.
Keine Ahnung, es ist so ein Gefühl, vielleicht weil meinen Eltern Unrecht widerfahren ist und … ach egal. Du hast aber ein kräftigen Zug. Dein Glas ist fast leer.‹
Hast ja auch viel gesprochen.‹
Ok, dann sollte ich vielleicht noch mehr reden hahaha …‹
Du willst mich doch nur betrunken machen.‹
Exakt.‹
Wollen wir noch was trinken?‹
Das fragst du mich?‹

 Wir bestellten die nächste Runde. Sie einen Daiquiri, ich einen Caipirinha.

 ›Komisch, oder, dass man Fremden so viel anvertraut?‹ stimmte Federica an.
Findest du?‹
Unser Gespräch vorhin, in der anderen Bar, über unsere Beziehungen. Ich meine, du kennst mich nicht, ich kenne dich nicht.‹
Ja, stimmt, Distanzen machen einiges einfacher.‹
Ja, man trifft sich, vertraut dem anderen etwas an und geht wieder. Man bleibt frei, unbelastet. Man kann gehen. Nichts kann dir zum Vorwurf gemacht werden, weil es nicht persönlich ist, weil man die Leute, die man verletzt oder verärgert hat ohnehin nicht kennt. Weil es dir egal sein kann, weil du ohnehin gehst.‹


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