Heute muss ich mal wieder etwas loswerden und zwar im vollen Bewusstsein, dass ich vielleicht nicht verstanden werde. Darüber schreiben muss ich dennoch, auch wenn mir bewusst ist, dass meine Gedanken zum Thema noch nicht ausgereift sind. Auch wenn mir klar ist, dass man die Dinge auch anders sehen kann. Auch wenn ich ein wenig Angst habe vor dem, was meine Leser von meinen Gedanken halten.
Es geht um das Thema der Bevormundung der Eltern. Wer Kinder hat, weiss, was damit gemeint ist: Kind muss bis 12 im Kindersitz sitzen, Kind darf vielleicht schon bald nicht mehr ohne Helm Fahrrad fahren, Kind sollte auf alle Fälle ein Jahr lang gestillt werden, Kind darf vor dem ersten Geburtstag keine Schokolade essen, Kind darf vielleicht schon bald nicht mehr alleine mit dem Trottinett zum Bäcker fahren, um Brot zu holen. Habe ich heute in der „NZZ am Sonntag“ gelesen, aber Gedanken mache ich mir zum Thema schon seit längerer Zeit. Immerhin lebe ich in einem Kanton, in dem man im Pflegekinderkonzept vorschreibt, dass nicht mehr als fünf Kinder unter fünfzehn von einer Person alleine betreut werden dürfen. Und wie ihr wisst, kommt so etwas bei uns zu Hause immer mal wieder vor. Klar, wir sind keine professionelle Einrichtung und dürfen demzufolge so viele Kinder haben, wie wir wollen, aber ein wenig mulmig wird mir schon, wenn ich mir bewusst mache, dass ich kein Tageskind mehr aufnehmen dürfte, bloss weil bei uns schon fünf eigene Kinder am Tisch sitzen.
Man mag sich aufregen über all die Vorschriften, die uns Eltern gemacht werden und glaubt mir, das mache ich. Und zwar in aller Gründlichkeit. Mit jeder Vorschrift ein wenig mehr. Und doch muss ich so langsam aber sicher zur schmerzhaften Erkenntnis kommen, dass wir Eltern nicht ganz unschuldig sind an der Entwicklung. So, wie wir uns in den vergangenen Jahrzehnten langsam aber sicher aus der Verantwortung gestohlen haben, ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass irgendwann der Staat auf die Idee kommt, man müsse aufpassen, dass die Kinder nicht ganz vor die Hunde gehen. Unsere Kinder haben keinen Anstand mehr? Na, dann soll der Lehrer ihnen eben Manieren beibringen. Unsere Kinder wissen nicht, was sie mit ihrer Freizeit anfangen sollen? Dann müssen eben die Kirchen oder die Gemeinde oder die Vereine wieder für attraktivere Angebote sorgen. Die Kinder kriegen kein anständiges Mittagessen? Ist doch nicht verwunderlich, wenn kein Mittagstisch da ist. Unsere Kinder wissen nicht, wie man eine Strasse überquert? Tja, da hat der Verkehrspolizist bei der Verkehrserziehung eben nicht deutlich genug gesagt, wie man das macht. Die Kinder sind mit fünfzehn bereits Kettenraucher? Ist ja kein Wunder, wenn die Frau am Kiosk ihnen das Zeug einfach verkauft.
Ja, ich weiss, meine Beispiele sind überzeichnet. Und doch bin ich in den zehn Jahren, in denen ich nun schon Mutter bin, genau dieser Haltung immer öfter begegnet: Warum kümmern sich denn die Lehrer, die Grosseltern, die Ärzte, die Polizisten, die Krippenleiterinnen, die Nachbarn, die Eltern der Freunde unserer Kinder, die Pastoren, die Musiklehrer, die Therapeuten etc. nicht besser um unsere Kinder? Die sind doch dazu verpflichtet, sich meinem Kind anzunehmen, ja, die werden sogar bezahlt dafür. Je öfter ich dieser Haltung begegne, umso mehr muss ich mich zusammenreissen, die Mütter und Väter, die da über die mangelnde Leistung anderer jammern, nicht am Kragen zu packen, heftig durchzuschütteln und zu brüllen, sie sollten gefälligst endlich einmal selber Verantwortung übernehmen für die kleinen Menschen, die sie auf die Welt gestellt haben.
Natürlich bin ich viel zu anständig, zum Brüllen und zum Schütteln. Aber ich zerbreche mir den Kopf darüber, wie es soweit kommen konnte. Eine Ursache sehe ich in der Veränderung der Frauenrolle. Und nun muss ich ganz kurz klarstellen, dass ich auf gar keinen Fall der Meinung bin, dass Erziehung reine Frauensache ist. Ich bin auch nicht der Meinung, dass Frau zurück an den Herd gehört. Und ich glaube auch nicht, dass früher alles besser war; im Gegenteil, ich hätte vor vierzig Jahren nicht Frau sein wollen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass damals, als Frau nicht mehr ausschliesslich Mutter und Hausfrau sein musste, etwas ganz gewaltig schief gelaufen ist. Während in den Jahrhunderten davor die Mädchen auf ihre Rolle als Mutter vorbereitet wurden, schon als Kinder lernen mussten, Verantwortung für Geschwister zu übernehmen und zuerst fähig sein mussten, sich ihre Existenz zu sichern, bevor sie eine Familie gründen durften, glaubt man heute, dass einem die Fähigkeit, Eltern zu sein, einfach in den Schoss fällt. So, wie man sich mit vierzehn das erste eigene Haustier kauft, legt man sich dann, wenn man sich reif genug fühlt, ein Baby zu. Gestern der erste Hamster, heute das erste Baby. Und genauso, wie man es nie geschafft hat, den Käfig des Hamsters sauber zu halten, schafft man es jetzt nicht, dem Kind die Sicherheit zu bieten, die es braucht, um gesund aufwachsen zu können. Den Käfig des Hamsters hat die Mama sauber gemacht, die Erziehung des Kindes delegiert man an Schulen, Kirchen, Grosseltern, etc. Und dann reibt man sich verwundert die Augen, wenn eines Tages die Forderung laut wird, dass Eltern einen Lehrgang absolvieren müssen, bevor sie Kinder haben dürfen.
Nun, ich bin unendlich dankbar dafür, dass man die Mädchen meiner Generation nicht mehr einzig und alleine darauf getrimmt hat, dereinst Mütter zu werden. Aber heisst das, dass man gleich ganz ausblenden musste, dass ein Grossteil der Menschen sich früher oder später fortpflanzen wird und deshalb zumindest eine grobe Ahnung davon haben sollte, was es bedeutet, für einen Menschen Verantwortung tragen? Warum nicht die Vorbereitung auf die Elternrolle auf beide Geschlechter ausweiten, so dass dereinst, wenn die Kinder da sind, Mutter und Vater eine Ahnung davon haben, dass sich dieses Kind nicht einfach von selber erzieht? Es ist ja schön und gut, wenn beide nach der Geburt eines Kindes noch ihre Freiheiten und Karrieremöglichkeiten haben. Mir scheint aber, dass dabei vergessen gegangen ist, dass sich diese Freiheiten und Möglichkeiten der Aufgabe, dem Kind Eltern zu sein, unterordnen müssen. Kinder bedeuten immer Verantwortung, Kinderhaben fordert immer ein Stück Verzicht, egal, wie viele Rechte Frauen und Männer haben.
Ich fürchte, wenn wir Mütter und Väter nicht endlich wieder lernen, Verantwortung für unsere Kinder zu übernehmen, dann wird man sich dereinst erst fortpflanzen dürfen, wenn man nach einem langen Studium den Master als Mutter oder Vater gemacht hat. Und das wäre doch schade, nicht wahr?