meine Reportage aus Valencia in der taz
Valencia will meer
Von Robert B. Fishman
Sandstrand bis zum Horizont, ein abrissbedrohtes Fischerdorf, die angeblich größte Altstadt Spaniens, gesäumt von Alleen mit bis zu neun Etagen hohe Jugendstilbauten, eine Stadt der Wissenschaft und Künste, leerstehende Neubauviertel, eine Lagune, in der Reis und Aale gedeihen. In Valencia gibt es auch Haie, Hyänen und Pinguine, ein unvollendetes Mega-Stadion, einen halben Hafen ohne Schiffe, eine „Route der Korruption und Verschwendung“ und einen Park im Fluss
Valencia. Ein- bis zweistöckige Würfelhäuschen reihen sich an Gassen, die schnurgerade parallel zum Strand verlaufen. „Hasta Francia“, „bis nach Frankreich“ heißt der nördliche Teil des Cabanyal, das landeinwärts mit Valencia zusammengewachsen ist. Viele der Häuschen tragen auf ihren Fassaden bunte Kacheln. Simse und Giebel sind mit Stuck verziert. „Modernismo Popular“, volkstümlichen Jugendstil nennen sie hier den wilden Stilmix. Mit einfachem Baumaterial versuchten die Fischer im Cabanyal vor rund 100 Jahren den aufwändigen Baustil der reichen Stadtbürger nachzuahmen.
Mit Zitronen gehandelt
In Valencia war ein Bauboom ausgebrochen. Dank effektiverer Anbaumethoden lieferte das fruchtbare Umland drei Ernten im Jahr. Zitronen und Orangen aus Valencia verkauften sich über neue Bahn- und Schiffsverbindungen auch im Ausland bestens. Händler und Großgrundbesitzer demonstrierten ihren neuen Wohlstand mit aufwändig verzierten Fassaden im damals aktuellen Jugendstil. Rund um die Altstadt mit ihren engen Gassen säumen die prächtige Bauten aus jener Zeit die breiten Alleen und palmengesäumten Plätze.
Im bescheiden gebliebenen Cabanyal stellen immer mehr Anwohner Tische und Klappstühle auf den Placa de la Creu, den Kreuzplatz. Aus koffergroßen Taschen und Tüten holen sie Brot, Wein, Salate und andere Leckereien. Mit einem großen gemeinsamen Essen protestieren die Nachbarn gegen die Zerstörung ihres Viertels.
Peter, pensionierter Lehrer aus Hamburg, hat sich in Valencias einstigem Fischerkiez seine zweite Heimat eingerichtet. Seit 15 Jahren kommt er regelmäßig. Er engagiert sich gegen die Pläne der Stadt: Die seit 1991 regierende Bürgermeisterin will die vierspurige Avenida de Blasco Ibanez bis zum Meer verlängern. Das Zentrum des Cabanyal versperrt den Weg.
Bei Wein, Brot, Käse, Oliven und Empanadas erzählt Peter die Geschichte des Viertels in Spaniens am höchsten verschuldeter und angeblich korruptester Stadt. Karin, die lange an der deutschen Schule unterrichtet hat, kommt dazu. Der Platz füllt sich. Gemeinsam holen wir noch ein paar Stühle aus ihrer Wohnung in der Nähe. Die gelb leuchtenden Straßenlaternen tauchen die leeren Strassen in unwirkliches, fast gespenstisches Licht.
Karin wohnt in einem dreistöckigen Haus, das die Stadt schon zum Abriss frei gegeben hat. An den verwitterten Wänden, von denen der Putz bröckelt , markieren braune und beigefarbene Streifen die geplante Schneise. Eingänge in der Nachbarschaft sind zugemauert. Das Viertel verfällt, obwohl sehr viele Gebäude unter Denkmalschutz stehen. Nachdem ein Obergericht in Madrid die Baupläne gestoppt hat, genehmige die Stadt keine Renovierungen mehr.
Wohnungssuchende besetzen leerstehende Gebäude. Immer mehr der in Valencia gestrandeten Roma – Familien aus Rumänien und Bulgarien finden hier ein Notquartier. Anwohner klagen über Verfall, Schmutz und „die Zigeuner“. 400 Häuser mit rund 1600 Wohnungen habe die Stadt gekauft, um sie abzureißen. Inzwischen sei ihr das Geld ausgegangen.
An manchen Fassaden fordern Transparente den Bau des neuen Boulevards. „Das ist eine Initiative des Partido Popular, der regierenden konservativen Volkspartei“, erklärt Emiliano. In seiner Bodega Casa Montana serviert er teuren Wein aus Eichenfässern und feine Tapas.
Für den Cabanyal hat Emiliano viele Ideen: Aus den kleinen ehemaligen Fischerhäusern ließen sich zum Beispiel Studentenapartments machen. Viele der rund 100.000 Studierenden suchen eine Bleibe. Rund 20.000 von ihnen pendelten jeden Tag in die Stadt. Auch für alte Leute seien die flachen, einstöckigen Häuschen geeignet, oder für Ferienwohnungen für die zahlreichen Touristen, die nach Valencia kommen.
Zu Zeiten des faschistischen Diktators Franco ging Emiliano 1973 zum Studieren nach Deutschland und in die Niederlande. Als er dort zum ersten Mal eine Demonstration sah, bei der die Polizisten friedlich am Straßenrand standen, wurde ihm klar: „Ich will in einem demokratischen Land leben“. Wenig später erfüllte sich sein Wunsch. Franco starb 1975.
Spanien öffnete sich. „In vielen Köpfen“, meint Emiliano, „ist der Bürgerkrieg immer noch nicht zu Ende“. Valencia war 1939 die letzte Bastion der spanischen Republik. Italienische Kriegsschiffe bombardierten die Stadt. Viele Geschosse schlugen in der Nähe des Hafens im republikanischen Cabanyal ein.
Emiliano, 58, sieht sich als einen der wenigen „linken Unternehmer“ in der Stadt. „Etica es rentable“, ethisches Wirtschaften lohne sich. Der Mann mit dem grauen Bart überlegt, bevor er seine Sätze ausspricht. Eine Zeit lang war er Vorsitzender der Valencianischen Kaufmannschaft. Dort erfuhr er, dass sich die meisten seiner Kollegen nicht für Politik interessierten. Die sei „schmutzig“. Deshalb wolle man damit nichts zu tun haben. So sei es der Bürgermeisterin leicht gefallen, den kleinen Händlern im Cabanyal Aufschwung Wohlstand zu versprechen, wenn die neue Avenida zum Meer gebaut würde.
Der lässt auf sich warten. Spanien steckt in einer tiefen Wirtschaftskrise: 56 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Viele Hochschulabsolventen ziehen wieder zu ihren Eltern und Großeltern, weil sie keinen Job finden. 700.000 Spanier sollen das Land auf der Suche nach Arbeit seit 2008 verlassen haben.
Mit einem Lächeln kreativ durch die Krise
Andere schaffen sich selbst eine Perspektive, eröffnen Bars oder wie die drei Italiener im angesagten Stadtteil Russafa ein Kulturcafé mit Bücherei. Wer mag, kann sich die Bücher ausleihen oder Konzerten und Lesungen lauschen. Wichtigste Branche ist wie fast überall in Spanien der Tourismus: Vintage Tours nennt sich das junge Unternehmen, das Ausflüge mit einem vierzig Jahre alten VW-Bus im Hippie-Stil anbietet. Viele der Start-Ups kooperieren . Nach der Vintage-Tour in die stille Lagune Albufera am Stadtrand und einem Bootsausflug gibt es bei The Workshop einen Paella-Kochkurs. Gemeinsam mit dem Kursleiter gehen die Gäste in der 100 Jahre alten Markthalle, einer der größten Europas, nebenan einkaufen. Hier erfahren sie, welche Zutaten eine gute Paella ausmachen: Ganz bestimmte Bohnen, die es nur hier gibt, die richtige Sorte valencianischen Reis, Hühnchen und Kaninchen. Zwei Stunden und viele Erklärungen später dampft eine selbst gekochte leckere Paella auf dem Tisch.
Im Cabanyal spielen an einem Klapptisch auf dem Bürgersteig vier Männer Karten. Sanches, der Kartenspieler mit dem Schnauzbart und Pranken wie ein Bär hat eine Zeit in der Schweiz gearbeitet. Mühsam kramt er ein paar Brocken Deutsch aus seinem Gedächtnis. Er erzählt, dass die Leute hier die valencianischen Fallas pflegen. Zahlreiche Vereine bereiten in Valencia das größte Fest der Region vor. Mitte März tragen die Leute von Künstlern gestaltete Riesenpuppen aus Stoff und Pappmaché in Prozessionen durch die Straßen, um sie anschließend symbolisch für das Ende des Winters und die Vertreibung der bösen Geister zu verbrennen. Nein, mit dem Karneval oder der Fastnacht habe das nichts zu tun. Fallas sind eine eigene Tradition in Valencia. In der Garage, vor der die Männer sitzen, hängen Fotos der letzten Fallas, Vereinsbanner und andere Erinnerungsstücke.
Der Weg zurück in die Stadt führt über den zweispurigen Radweg unter Palmen die Avenida Blaso Ibanez bis zu den Königlichen Gärten, dann hinunter in den Fluss, der keiner mehr ist. Zwölf Kilometer lang ist das grüne Band, das die Valencianer einer Naturkatastrophe und ihrer Beharrlichkeit verdanken. Jahrhunderte lang überflutete der Turia-Fluss Valencia immer wieder. 1957 stand das Wasser in der Altstadt bis zu fünf Meter hoch. Die Regierung in Madrid beschloss daraufhin, den Fluss umzuleiten.
Ins alte Flussbett wollten die Stadtväter eine Autobahn bauen. Eine der ersten Bürgerinitiativen Spaniens setzte stattdessen einen Park durch. Heute wirbt die Stadt mit dem längsten Park des Landes. An der Strecke liegen Fußballplätze, Trimm-Dich-Anlagen, künstliche Seen, Wiesen und die Stadt der Wissenschaft und Künste: ein Ensemble aus futuristischen Glas- und Betonbauten nach Plänen des aus Valencia stammenden und in Zürich lebenden Architekten Santiago Calatrava. Nachts erscheinen die blau – weiß beleuchteten Gebäude wie urzeitliche Reptilien und andere Fabelwesen.
Größer, höher, pleite
Mehr als eine Milliarde Euro hat die Stadt der Wissenschaft und Künste mit ihrem naturwissenschaftlichen Museum, den Aquarien mit Haitunnel, Pinguinen, tropischen und arktischen Gewässern, der Oper und dem Veranstaltungszentrum angeblich gekostet. Während des Baubooms bis 2008 war den valencianischen Politikern nichts groß und teuer genug. Die Region ließ für mehr als 300 Millionen Euro einen Flughafen bauen, auf dem nie ein Flugzeug landen wird.
„Die sind größenwahnsinnig“, urteilt Miguelangel über die konservative Regionalregierung.: Ein neues Stadion für 280 Millionen, dessen Weiterbau niemand mehr bezahlt, halbfertige Wohn- und Büroviertel oder die Investruinen der Hafenerweiterung, deren Erschließungsstraßen in einer staubigen Wüstenlandschaft enden. Allein gegen Politiker der Autonomen Region Valencia liefen 300 Ermittlungsverfahren wegen Korruption, erzählt Ferrís. Aus der Not hat der Lehrer mit ein paar Freunden ein Programm gemacht: Spaniens erste „Route der Korruption und Verschwendung“ – als Rundfahrt oder Wanderung für Einheimische und Touristen.
Auch Boris, ein intellektuell wirkender Typ mit schwarzen Haaren und Bart, hat sich intensiv mit der Stadtplanung in Valencia beschäftigt. Nach dem Abi auf der deutschen Schule hat er Architektur studiert. Als er 2003 von der Uni kam waren Baufachleute gefragt. Inzwischen suchten sieben von zehn Architekten vergeblich Arbeit. Boris lebt von Renovierungsaufträgen und einem Job bei einem Energieunternehmen.
Den Größenwahn vieler Politiker erklärt er aus der Geschichte: „Spanien war immer eine arme Agrargesellschaft, weit weg von Europa.“ Die Menschen hätten den Glanz der Städte bewundert und sich an den leuchtenden Metropolen orientiert. Valencia sei immer eine Bauernstadt gewesen. „Als mit dem Wirtschaftsaufschwung so viel Geld ins Land kam, fehlte nach 40 Jahren Diktatur die demokratische Kontrolle.“„Wir haben so viele gut ausgebildete kreative Menschen hier, aber viele erkennen ihr eigenes Potenzial nicht.“ Boris hat sich den „Guiding Architects“, dem europaweiten Netzwerk für Architektur-Stadtführungen angeschlossen. In Valencia gehen ihm die Geschichten nicht aus.
Disclaimer: Die Recherchereise wurde teilweise unterstützt von tourspain