Unternehmen brauchen keine Charakterschulung

Der Boykottaufruf als Bestätigung des Mantras, wonach der Markt moralisch sei.
Der Hype um Amazons Betriebspraxis ist abgeebbt. So berechtigt die Kritik gewesen ist, so enthüllend war sie gleichzeitig. Denn die Kritiker haben illustriert, dass sie die Handlungen der Akteure des Finanzkapitalismus immer noch als Charakter- nicht als Systementscheidungen betrachten.
Man muss die Betriebspraxis, die bei Amazon offenbar wurde, durchaus als unethisch einordnen. Sie ist es aber nicht ausschließlich und vielleicht am wenigsten von jenem Unternehmen selbst, sondern als Produkt der Möglichkeiten anzusehen, die politisch geschaffen wurden. Ein starkes Niedriglohnsegment, das mit Menschen aufgestockt werden kann, die die Freizügigkeit des vereinten Kontinents genießen dürfen und letztlich aus Not heraus schier zu Leibeigenen herabgewürdigt werden können, kann man nur zum Teil Amazon anlasten. Als Unternehmen, das ist einer deregulierten Marktwirtschaft wirken möchte, wäre es aus betriebswirtschaftlicher Sicht wahrscheinlich unethisch, nicht dergestalt unethisch zu sein.

Im Nachgang läßt sich sagen, dass Boykottaufruf und Shitstorm, Empörung und Zorn zwar nachvollziehbar sind, gleichzeitig aber auf eine Vereinzelung dieses Phänomens abzielen. Man hat Amazons Geschäftsgebaren zu einer Charakterangelegenheit modifiziert, obgleich sie eine Systemangelegenheit ist. Diese Vergröberung des Umstandes spielt einem Theorem wirkungsvoll zu, dass zugleich von den Kritikern solcher unwürdigen Arbeitsgelegenheiten immer wieder als Phantasterei abgetan wird: Der Theorie moralischer Märkte.
Ein moralingetränkter Aufruf zur Wut suggeriert, dass man mit moralischer Argumentation die Akteure der Wirtschaft überzeugen könnte. Der Markt ist insofern moralisch konditioniert, weil seine Akteure für moralische Appelle offen zu sein scheinen. Negiert wird hierbei, dass es diese Ausbeutungsmöglichkeiten legal gibt - der Beschuldigte soll sich nur freiwillig nicht ihrer bedienen. Insofern werden die wirklichen Verantwortlichen, die die Freifahrtscheine solchen Erwirtschaftens von Profit ausstellen, komplett ausgeblendet.
Man darf nicht so tun, als sei Amazon das falsche Opfer. Der Opferstatus steht Amazon nicht zu. Man zielt jedoch auf den falschen Täter. Denn die allgemeine Wut auf Amazon sagt auch, dass man das Primat der Politik gar nicht mehr für praktibel hält, dass man es mittels strategischer Konsumentscheidung oder -verweigerung vereitelt. Der Gesetzgeber, der sich Gesetze von Kanzleien entwerfen läßt, die wiederum eng mit den jeweilig betroffenen Wirtschaftsbranchen kooperieren, wird als Angriffsfläche völlig ignoriert.
Hat Amazon den Niedriglohnsektor mit all seinen angebotsorientierten Ausrichtungen gesetzlich legalisiert oder einfach nur ausgenutzt? Hat es die arbeitnehmerische Freizügigkeit ohne Mindestlohnverpflichtungen entworfen oder missbraucht? Sicher, Missbrauch! Aber wer hat vor Missbrauch zu schützen? Reicht da Moral? Ist das das Mittel des modernen Rechtsstaates? Wie wäre es mit Gesetzesentwürfen, die Beschränkungen vorschreiben? Wie wäre es mit Kontrollmechanismen, die gesetzlich verankert werden?
Das System ist unmenschlich. Aber es ist von Menschen gemacht und daher durchaus veränderbar, kontrollierbar, regulierbar. Dieses System in mikroskopische Tranchen zu zerlegen, um sie moralisch beackern zu können, macht Veränderung aber tatsächlich nicht wirklich. Mit Charakterschulung von Unternehmen kommt man nicht weit. Moral ist nicht die Sache derer, die mit Gier im System haften - Moral ist die Angelegenheit des Regulierers, ist die Sache der Politik. Schon Marx machte deutlich, dass der Kapitalist nicht böse ist, sondern nur "Werkzeug unparteiischer ökonomischer Kräfte". Sie kann die Gier der Marktteilnehmer zügeln und sie benötigt den erbitterten Druck, der bei Aktionen gegen Amazon, Wiesenhof oder Shell zerstäubt.

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