Selbstvertrauen ist der Rohstoff solider Arbeitsmarktpolitik

oder Das Marktgleichgewicht durch Angebot und Nachfrage lautet im SGB II: Wer zu viel nachfragt, wird sanktioniert.
Und nochmals Erfahrungen vom sozialistischen Jetset.
Wie gesagt, einige Jahre lebte ich von Hartz IV. Mal beschnitten, weil geringes Salär aufstockend - mal in völliger Reinheit des Regelsatzes, weil wieder mal kein Einkommen vorhanden. Die stets wiederkehrende Arbeitssuche gestaltete sich in dieser Zeit steinig. Erstens weil Arbeitsplätze rar sind und, zweitens, weil Hartz IV deutliche Wirkungen zeigt. Wirkungen bei Personalchefs – auch die lesen Zeitungen, in denen wundersame Geschichten zu Hartz IV-Schmarotzern geschrieben stehen. Aber auch beim Leistungsberechtigten selbst wird die Reform mit dem unseligen Namen wirksam. Die pogromartigen Medienkampagnen gegen Erwerbslose nagen am Selbstwertgefühl - und auch das Sanktionsrepertoire, das den Behörden allerlei Drangsal erlaubt, führt man wie migränen Druck mit sich im Kopf herum, falls man doch mal zu einem Bewerbungsgespräch geladen wird; wie ein Häufchen Minderwertigkeitskomplex sitzt man jemanden gegenüber, der einen einstellen soll – in der Regel hemmt ein solcher Auftritt die Einstellungsbereitschaft immens. Und natürlich definiert das Umfeld des arbeitslosen Bewerbers ein solches Auftreten als klägliches Versagen und führt es endlich als Spiegelbild der individuellen Gesamtsituation an.

Ich kann mich nicht beklagen. Die Leute, die mir bei diversen Vorstellungsgesprächen gegenüber saßen, waren beinahe alle angenehm, jedenfalls war keiner dabei, der Gefallen daran gefunden hätte, mir mit dem Jobcenter seine Offerte schmackhafter zu erpressen. Es gab keinen Druck, keine Drohgebärden, es der Behörde zu melden, weil ich nicht Hurra! schrie bei den mir unterbreiteten Angeboten. Und die waren wirklich oft mehr als mies. Gemeldet haben sie den Gesprächsinhalt in nuce aber stets der Arbeitsvermittlung; denn die wusste immer was los war, wie es lief.
Das SGB II entkräftet die eigentlich von Marktjüngern postulierte Naturgesetzlichkeit, dass Subjekte auf dem Markt als selbstbestimmte Teilnehmer auftreten sollten, die Angebot und Nachfrage in Relationen setzten. Leistungsberechtigte nach SGB II sind hiervon ausgenommen. Zumutbar ist jede Arbeit, das Angebot, das gemacht wird, kennt keine Nachfrage – wer zu viel nachfragt, der wird für arbeitsunwillig erklärt und darf mit Sanktionen rechnen. Dreißig Prozent straffälliger Abschlag vom Regelsatz sind viel Geld von dem wenigen Geld, dass man nicht hat. Diese finanzielle Garotte, die man dem Hartz IV-Empfänger um den Hals windet, macht ihn nicht zum Teilnehmer des freien Arbeitsmarktes, sondern zu dessen Opfer. Der Zwang nicht Nein sagen zu können, macht nicht nur unfrei, sondern verängstigt auch, raubt Selbstbewusstsein und hemmt letztlich den Integrationsprozess des Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt.
Wie erwähnt, ich hatte selten das Gefühl, dass da ein Personalchef seinen Vorteil ausspielen wollte. Gleichwohl stand ich mir selbst im Weg. Vor dem Bewerbungsgespräch saß ich manchmal Stunden mit Durchfall auf dem Klo. Nervosität. Szenarien spielten sich in meinem dröhnenden Kopf ab. Was, wenn ich so ein Exemplar Arschloch vor die Nase gesetzt bekomme, das kaum etwas zahlen will, vielleicht nur ein Praktikum anbietet, das ich ablehnen möchte aus prinzipiellen Gründen, das ich dann aber nicht ablehnen darf ohne finanzielle Konsequenzen erleiden zu müssen? Dieser immense Druck, womöglich einige Tage später einen Bescheid des Jobcenters im Briefkasten zu finden, weil ich zuwiderhandelte, er rieb mich körperlich auf! Ich schlief schlecht, bekam Magenprobleme – meist schon Tage zuvor. Mit dem Gefühl krank zu sein, marschierte ich dann zum potenziellen Arbeitgeber. Das machte meinen Handlungsspielraum noch enger, denn wie sollte ich, nicht im Vollbesitz meiner körperlichen Kräfte, ein gutes Bild von mir abgeben? Ich las in jener Zeit häufig, dass Erwerbslose sich immer dann krank melden, wenn sie Termine beim Amt oder eben Vorstellungsgespräche erhielten. Mich wunderte das gar nicht – ich habe es hin und wieder auch getan, es ging nicht anders. Dieser Tage wird passend hierzu zur Treibjagd auf arbeitsunfähige Arbeitslose geblasen. Was "Krank und Hartz IV", wie Springer heute titelt, miteinander zu tun haben, kann nur verstehen, wer a) die Hartz-Reformen als das versteht was sie sind und b) selbst mal in diese missliche Lage geriet.
Dass die Furcht vor Konsequenzen üblich ist bei der Jobsuche, war für mich bedrückend, aber doch scheinbar eine Tatsache, die völlig normal sei. Bis ich aus dem Leistungsbezug fiel. Aus Gründen, die hier egal sind. Ich suchte jedoch weiterhin Arbeit. Und erst jetzt wurde mir der Unterschied augenfällig. Ohne Druck ging ich zu Gesprächen, konnte auf Augenhöhe plaudern, war freundlich aber bestimmt, nicht devot, ging auch in die Offensive. Kurz: Ich hatte Selbstvertrauen dadurch erhalten, nicht mehr der Willkür eines Fallmanagers und seiner Treue zu Sozialgesetzen ausgeliefert zu sein. Geriet ich an einen Arbeitgeber, der beim Gespräch schon suspekt war, dann sprach ich das auch an. Einer meinte, bei ihm würde man in der Arbeitszeit ordentlich ranklotzen und leiden müssen. Leiden hat er wortwörtlich gesagt. Leiden könne ich nicht, sagte ich ihm - und ihn schon gleich gar nicht. Dergleichen hätte ich früher nicht kontern können. Was wäre denn gewesen, wenn er das als Beleidigung aufgefasst hätte? Hätte meine Sachbearbeiterin im Jobcenter mir wohl geglaubt, dass er mir Leiden androhte? Dass er sprach, wie der Kapo einer Strafkolonne?
Dieses neue Selbstbewusstsein ließ mich anders auftreten. Und ich hatte das Gefühl, dass auch die potenziellen Arbeitgeber anders mit mir umgingen. Eine Mitbewerberin, die mit mir auf ihr Bewerbungsgespräch wartete, trat ganz anders auf. Sie bezog Hartz IV – beim Gespräch ließ der Typ die Türe auf und ich konnte zuhören, wie er mit ihr umsprang. Er war schroff, meiner Ansicht unterschwellig sexistisch und sein Charme bestand daraus, der Bewerberin zu vermitteln, sie sei so ziemlich das Letzte - aber doch sehr gutaussehend. Sie sollte Dank winseln, auch nur von einem Arbeitgeber wie ihm zur Kenntnis genommen worden zu sein. Er bot ihr auch keine Stelle, sondern nur ein Praktikum an. Sie wehrte sich nicht. Als ich an der Reihe war, bat ich bestimmt darum, man möge die Türe schließen. Das tat er widerspruchslos. Danach führte er einen Monolog über seine Lebensleistungen, über seinen Fleiß und seinen Betrieb. Er erzählte mir, wie er einen altbewährten Mitarbeiter feuerte, weil er ihm zu langsam arbeitete – ich unterbrach ihn und meinte, das seien Dinge, die mich gar nichts angingen. Wir trennten uns bald, ich war ehrlich zu ihm und sagte ihm, dass ich nicht bei ihm arbeiten wolle, weil ich ihn für einen Stümper in Sachen Menschenführung halte. Was für ein Gefühl, so ehrlich auf Arbeitssuche gehen zu dürfen!
Später wurde diese Ehrlichkeit und diese Lockerheit bei einem Bewerbungsgesspräch belohnt. Sie kam gut an und wird heute noch geschätzt.
Wer eine Arbeitsmarktpolitik machen möchte, die Menschen in würdige Arbeit bringt, der muss eine Politik betreiben, die den Menschen Freiheiten erlaubt. Die Möglichkeit Nein sagen zu können, stärkt das Auftreten und schärft den Charakter. Sagen zu können, dieser oder jener Job sei nichts für einen, spart unnötige Diskussionen, Sorgen und Kosten. Eine Politik, die Selbstvertrauen als Rohstoff am Arbeitsmarkt beidseitig zulässt, kann zwar keine Wunder vollbringen, dürfte aber weitaus effektiver sein als die, die wir heute haben und die Menschen unwürdig ihres Selbstbewusstseins beraubt. Überhaupt wäre es zweckdienlich, wenn potenzielle Arbeitgeber nicht erfahren würden, ob der Kandidat für einen Arbeitsplatz derzeit noch Transferleistungen erhält oder nicht – letzterer könnte viel freier auftreten, könnte ein Nein auf den Lippen tragen, ohne sich vor finanziellen Konsequenzen fürchten zu müssen, die ihm ein Personalchef vielleicht durch die Blume in Aussicht stellte. Ich sehe mich kurzum bestätigt, dass die Aufhebung der Sanktionspraxis unumgänglich ist, wenn man solide Arbeitsmarktpolitik machen möchte - nur wenn das Existenzminimum unantastbar ist, ist auch die Würde unantastbar. Die Teilhabe am Arbeitsmarkt ist nur mit dem Rohstoff Selbstvertrauen realisierbar. Nicht Sanktionen bringen Menschen in Arbeit – es ist das Bewusstsein der eigenen Würde. Und letzteres ist derzeit nicht Gegenstand des SGB II...

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