"Unsere Mütter, unsere Väter" wurde als einer der TV-Höhepunkte des Jahres 2013 angekündigt. Der Dreiteiler erzählt die Erlebnisse von fünf fiktiven Personen während der Kriegsjahre von 1941 bis 1945. Am 24.03.13 war der Journalist Günther Jauch Gastgeber einer Talkshow, in der über diesen TV-Film debattiert wurde, einen Tag später erschien auf Spiegel Online ein Artikel, der sich sowohl mit dem Dreiteiler als auch mit der Talkshow befasste (siehe "Wischiwaschi durch den Weltkrieg"). Diese drei Einzelereignisse sagen viel aus über unser Verhältnis zur Vergangenheit, es lassen sich sogar Rückschlüsse über den Stand unserer Zivilisation ziehen - und der ist immer noch sehr niedrig.
Der Kern des Problems wurde von Spiegel-Autor Sebastian Hammelehle unfreiwillig in zwei Sätzen zusammengefasst. Er behauptete, es sei "SPD-Chef Sigmar Gabriel überlassen geblieben, klar zu benennen, was die Ursachen des Krieges waren. Dass zuerst der deutsche Einmarsch in Polen, der Überfall auf die Sowjetunion, die Massaker, die Errichtung der Vernichtungslager kamen und dann erst die Offensive der Roten Armee." Diese Aussage ist eindeutig falsch, sie liegt nah an der Grenze zur Geschichtsfälschung. Man kann den beteiligten Personen nur zugute halten, dass sie nicht wussten, was sie sagten und deshalb - nach ihren eigenen primitiven Maßstäben - nicht "schuldfähig" sind.
Hier noch einmal die korrekte Reihenfolge:
1. Der Zweite Weltkrieg begann mit dem deutschen Überfall auf Polen und die Freie Stadt Danzig (Die Stadt an der Ostsee gehört erst seit 1945 zu Polen).
2. Danach folgten die Kriegserklärungen von Frankreich und Britannien an Deutschland.
3. Zwei Wochen später besetzte die Sowjetunion die Osthälfte von Polen. Weitere Kriegserklärungen blieben aus - trotz der Britisch-Französischen Garantieerklärung für Polen.
4. Danach begann der "Westfeldzug", der deutsche Angriff auf die Benelux-Staaten und Frankreich.
5. Erst danach eskalierte der Kriegsverlauf, es kam zu den (lange geplanten) deutschen Kriegsverbrechen, aber auch zu den Verbrechen anderer Nationen, etwa dem sowjetischen Massaker von Katyn und dem alliierten Bombenkrieg.
Diese kurze Aufzählung macht klar, worin der Kardinalfehler liegt: Wir reduzieren komplexe historische Ereignisse auf einfache Schwarzweißmuster. Auffällig ist auch, dass sich nahezu die gesamte "Aufarbeitung der Geschichte" auf die Spätphase des Konflikts beschränkt. Der TV-Dreiteiler beginnt mit dem Jahr 1941, in der Talkshow wurde fast nur über den Weltkrieg geredet, der Spiegel-Artikel handelt ausschließlich von den Kriegsereignissen. Die umfangreiche Vorgeschichte und die vielschichtigen Strukturen des Konflikts werden von den seriösen Medien beinahe vollständig verschwiegen. All das zu schildern, was bisher nicht gesagt wurde, würde den Rahmen dieses Posts bei weitem sprengen. Deshalb sei hier stellvertretend nur die Rüstung zwischen den Kriegen genannt. In kaum einem Geschichtsbuch wird vergessen darauf hinzuweisen, dass Deutschland ab dem Jahr 1933 den Versailler Vertrag gebrochen und massiv aufgerüstet hat. Das ist zweifellos richtig, und es ist von großer Bedeutung, dass wir uns heute daran erinnern. Es ist aber bloß die Hälfte der Wahrheit. Die andere Hälfte besteht in der Aufrüstung der Alliierten - sie begann schon viel früher. Nach einer kurzen Phase der Demilitarisierung hatten unsere Nachbarländer ihre Armeen ausgebaut und modernisiert, somit haben sie den Versailler Vertrag zuerst gebrochen - diese Information findet man in keinem Geschichtsbuch, keinem TV-Film, keiner Talkshow und keinem Spiegel-Artikel. Deshalb ist man als kritischer Zeitgenosse leider gezwungen, auf die weniger seriösen Medien zurückzugreifen.
Suche nach der Wahrheit
Zur Erinnerung: In Artikel 8 des Versailler Vertrags ist festgeschrieben, "dass es die Aufrechterhaltung des Friedens nötig macht, die nationalen Rüstungen auf das Mindestmaß herabzusetzen, das mit der nationalen Sicherheit (...) vereinbar ist." Später heißt es, Deutschland solle seine Armee auf 100.000 Mann im Heer und 15.000 Mann in der Marine reduzieren, "um die Einleitung einer allgemeinen Rüstungsbeschränkung aller Nationen zu ermöglichen". Deutschland hat sich an den Vertrag gehalten - die anderen Nationen nicht. Laut dem rechtskonservativen Publizisten Gerd Schultze-Rhonhof verfügte das französische Heer im Jahr 1923 über eine Stärke von 724.000 Mann, Polens Heer besaß im selben Jahr 275.000 Mann. Dazu kommt der Umstand, dass Deutschland sich auf eine Berufsarmee beschränken musste, während die anderen Staaten die Wehrpflicht beibehielten. Unsere Nachbarn bildeten ständig neue Infanteristen, Kanoniere, Panzerfahrer, Piloten usw. aus und führten sie ihrer Reserve zu. Mit jedem weiteren Jahr veränderte sich also das Verhältnis zu Ungunsten der Deutschen. Und das kurz nach dem bisher schlimmsten Krieg in der Geschichte der Menschheit. In dieser Situation hatten Extremisten aller Art Hochkonjunktur. Ein Demagoge aus Österreich stach besonders hervor, er versprach: "Ich mache euch wieder stark! Ich gebe euch das, was euch die anderen verweigern!"
Damit soll keineswegs behauptet werden, dass Franzosen und Polen "schuld" sind am Aufstieg Hitlers. "Schuld" existiert nicht, ebenso wenig wie das "Böse" oder die "Feinde". All das sind lediglich Ausdrucksformen von Angst und Wut. Wenn man die Angst und die Wut, die viele Deutsche in den zwanziger und dreißiger Jahren empfanden, verstehen will, muss man die Geschichte vollständig betrachten - ohne Scheuklappen und Denkverbote. Die Kriegsgewinner ließen ihren Gefühlen nach 1918 freien Lauf, ohne über ihr Tun nachzudenken. Die Waffen versprachen ihnen Sicherheit - aber sie bedrohten die anderen.
Der ewige Kreislauf
Was haben wir heute daraus gelernt? Leider nicht viel. In dem TV-Dreiteiler sah man zahllose Gräueltaten, die von Deutschen und von Menschen anderer Nationen begangen wurden. In Günther Jauchs Talkshow erzählten zwei alte Männer Gräuelgeschichten aus dem Krieg, als Zuschauer sah man förmlich das Blut spritzen. In dem Spiegel-Artikel versuchte der Autor zu klären, wer denn die "Schuld" an all dem Grauen hatte. In keinem dieser drei Medien wurde nach den tieferen Ursachen geforscht. Als Folge daraus entsteht bei den Nachgeborenen neue Angst. Man denkt sich: Wenn es damals möglich war, ist es heute wieder möglich. Man hält Ausschau nach neuen Feinden. Neonazis, Kommunisten, Terroristen, Islamisten, irgendjemand bietet sich immer an. Man versucht sich zu bewaffnen, um das "Böse" in Schach zu halten. Deutschland ist heute der drittgrößte Waffenexporteur der Welt. Und natürlich muss man Bücher schreiben und Filme drehen, um über das "Böse" aufzuklären, und man muss in Talkshows gehen, um darüber zu sprechen - wir haben eine regelrechte Industrie der Angst erschaffen. Diese Industrie setzt jedes Jahr weltweit viele Milliarden Euro um, wahrscheinlich mehr als jede andere Branche. Leider ist kein Ende ihres unheilvollen Treibens abzusehen, denn die Industrie der Angst reproduziert sich selbst, an jede neue Generation gibt sie das weiter, was sie von der vorherigen übernommen hat.
Was kann man dagegen tun? Wir müssen den Kreislauf aus Angst und Wut durchbrechen. Das wird nicht von heute auf morgen geschehen, die Industrie der Angst ist sehr mächtig, ihre Lobbyisten sitzen überall. Viele kleine Schritte werden nötig sein. Wir müssen versuchen, das ganze Bild der Geschichte zu zeigen. Wir müssen uns bemühen, Verständnis für so genannte "böse" Menschen zu entwickeln. Wir müssen die Beweggründe ihres Handelns erkennen und auflösen. Langfristig wird dadurch eine Industrie des Mutes und der Liebe entstehen. Sie wird uns helfen, unsere Zivilisation auf die nächste Ebene emporzuheben.
Lesen Sie in diesem Zusammenhang bitte auch meinen Post Syrien und die UNO - Erinnerungen an den Völkerbund.
Hier noch ein Buchtipp: Elk von Lyck - Die Auswerterin - oder das Ende von Auschwitz
Eine kritische Aufarbeitung des Themas Vernichtungslager.