Kann man, oder muss man am Ende gar, als demokratischer gesinnter Mensch mit jedem sprechen, eine Diskussion führen? Ich behaupte: Nein! Man muss und man soll auch nicht. Im Sinne wehrhafter Demokratie! Das demokratische Lebensgefühl hat Würde - das Gespräch mit jemanden, den man diese demokratische Würde nicht verleihen kann, ist nicht nur arrogante Verachtung, sondern eben auch die Attestierung dafür, den Gesprächspartner für würdelos genug zu empfinden, um mit ihm überhaupt auch nur zu sprechen.
Tariq Ali zitiert im Vorwort seines Buches "Die Achse der Hoffnung" den britischen Philosophen Oakshott. Der soll gesagt haben, dass Politik "ein Gespräch und nicht eine streitbare Auseinandersetzung" sei. Die Aussage ist grundlegend falsch - und sie ist, vielleicht weil sie so falsch und verlogen ist, in nuce und in komprimierten Aggregatzustand, die neokonservative Auslegung des Demokratieverständnisses. Laut diesem Verständnisses ist es nämlich so, dass in einer Demokratie alle Meinungen denselben Wert erhalten sollten; deshalb sitzen in den Klamauksendungen, die aus unbegreiflichen Gründen politischer Talk heißen, auch Vertreter, die mit der Demokratie auf Kriegsfuß stehen. Deshalb unterhalten sich dort schiedlich friedlich offensichtlich demokratisch gewillte Menschen mit solchen, die die Demokratie für einen groben historischen Unfug halten. Dass man über alles und mit jedem reden könne, hat die politische Mitte als unverbrüchliche Wahrheit ereilt. In den Neunzigerjahren galt dieses Motto "über alles und mit jedem" noch für seichte Talkshows bei Meiser und Arabella; heute ist es politische Maxime und gilt als unantastbar.
Einschränkung stante pede: Dieses sonderbare Demokratieverständnis, das immer gleich mit Meinungsfreiheit winkt, wenn Beleidigung, Entehrung, Ehrabschneidung und Volksverhetzung gerechtfertigt werden sollen, duldet nicht jede Meinung: Sie duldet jede Meinung, die ökonomisch vertretbar ist.
Die Umkehr von Oakshotts Ausspruch käme der Wahrheit näher. Politik ist eine streitbare Auseinandersetzung und nicht ein Gespräch. Es sagt viel über den geringen Gehalt eines Philosophen aus, wenn er meint, Arbeitsschutzgesetze und Sozialversicherungen hätten sich im friedlichen Gespräch politisch entfaltet. Sie waren nicht mal streitbare Auseinandersetzung, sondern die Errungenschaft langer Kämpfe, widerlichen Blutvergießens. Politik war nie etwas anderes - und solange man der herrschenden Kaste Zugeständnisse abgewinnen muss, wird Politik auch nichts anderes sein können. Das heutige Mantra von der Miteinander-reden-Gesellschaft ist töricht - es ist undenkbar in einer Welt, in der Menschen und Gruppen verschiedene Interessen hegen; dass plötzlich alle Menschen dieselben Interessen entfalteten, davon ist kaum auszugehen.
Dennoch behaupte ich, dass man als Mensch mit demokratischer Gesinnung, nicht mit jedem Typen reden muss, den diese sonderbare Form von Demokratie - Postdemokratie nach Crouch - einen aufdrängt. Mag Sarrazin auch einige Befunde zum Euro angestellt haben, die nicht grundsätzlich falsch sind - dieser Eugeniker hat sich als Diskussionspartner disqualifiziert. Henkel kann noch so konziliant auftreten, als jemanden mit dem man diskutiert, ist ein Klassist wie er einer ist, schon lange ausgeschieden.
Ich behaupte das in vollendeter Arroganz und schiebe nach: Solche sind unter meiner Würde! Wer hätte sich ernsthaft mit Hitler über Postkartenmalkunst unterhalten wollen, auch wenn er nachweislich davon Ahnung hatte? Das war er sonst noch tat, um es mal salopp zu sagen, hat alles andere mit in den Abgrund gerissen. Oder man stelle sich nur mal ein Fachgespräch über Kunstdünger mit einem gewissen Herrn Himmler vor, das man ganz wertneutral führte! Da könnte er noch so richtig liegen mit seinem Fachwissen - die Begrenzung des Charakters auf Spezifika, um einen ansonsten maroden Typus ehrenzuretten: auch so eine dreiste Masche des Neokonservatismus in seinem neuen freiheitlichen Wahn, seinem neoliberalen Wahnsinn. Man denke an den guten Minister, der fachlich angeblich so astrein arbeite, der lediglich bei seiner Doktorarbeit Unregelmäßigkeiten aufzuweisen hatte. Was hat denn sein Stellung als Minister mit seiner Stellung innerhalb der Gesellschaft zu tun?
Nun wird man sagen, gerade dreht er Oakshott um, sagt Politik sei streitbare Auseinandersetzung, und nun predigt er das große Schweigen. Jemanden zu ignorieren, ihm die volle Verachtung zu offenbaren, das ist auch eine Art sich streitbar auseinanderzusetzen. Wehrhafte Demokratie heißt auch, sich mit allen legalen Mitteln der zu erwehren, die am Ruin der Demokratie feilen.
Der lauteste Unsinn unserer politisch organisierten öffentlichen Unpolitik ist es, dass man glaubt, Demokratie heiße auch, den Nicht-Demokraten und den Menschenrechtsverächter ein nettes Forum einzurichten, um sie dann, mit viel Idealismus und demokratischem Eifer, diskutierend umzustimmen, mit Argumenten zu ersticken. Hat schon mal jemand erlebt, dass ein Faschist für Argumente zugänglich war? Schon mal erlebt, dass plötzlich einer eingestand, völlig falsch gelegen zu haben? Das hat mit Demokratie nichts zu tun, es ist viel mehr die Inszenierung einer zahnlosen Demokratie, die den herrschenden Absichten dient und denen schadet, denen die Demokratie eigentlich und theoretisch das Versprechen eines besseren Lebens gab.
Dieses typische Mittelstandsgetue, dass man mit jedem und über alles reden könne. Man läßt reden, hört zu, hat innerlich eine ganz andere Meinung, sagt es aber nicht direkt, weil Demokratie da auch bedeutet, friedlich und respektvoll miteinander umzugehen. Demokratie ist verdammt nochmal keine Etikette! Sie verträgt das Ruppige, das Direkte, sie kann, sie muss und sie wird es ertragen, wenn man laut Scheiße! ruft. Aber der neokonservative Entwurf von Demokratie sieht dergleichen nicht vor. Er spiegelt vor, dass Demokratie harmonisch und versöhnlich abläuft - und das auch mit jenen, die überhaupt nicht demokratisch sind. Klar doch, denn die Neokonservativen sind eben selbst keine Demokraten, sie höhlen die Demokratie nur aus, um sich selbst Pfründe zu sichern. Wenn sie zwischen den Sätzen erklären, Demokratie sei auch gegenüber denen Knigge, die weniger demokratisch sind, dann sagen sie das nur, damit man sie selbst höflicher behandelt.
Mit solchen Gesellen auch nur halbwegs ernsthaft zu diskutieren hat nichts, aber auch gar nichts mit Demokratie oder Meinungsfreiheit zu tun, sondern ist postdemokratische Bequemlichkeit und Harmoniesucht und erinnert fatal an jene Tage, da man mit den Faschisten das Gespräch suchte, um letztlich eine Diktatur zu finden. Ernst Toller hat seinerzeit diese Haltung kritisiert; er hatte den Weitblick, die Entwicklung abzuschätzen, während die Demokratie mit den Nazis noch debattierte.
Wehrhafte Demokratie bedeutet doch nicht, dass alles Meinung sein kann. Meinungsfreiheit beinhaltet nicht Aufwiegelung, das Grundgesetz nennt Schranken. Faschismus ist keine politische Meinung, sondern ein Verbrechen - man nenne nicht immer gleich alles Faschismus: das ist eine linke Krankheit, ich gebe es zu. Sagen wir es entkräfteter, sagen wir: neokonservative Reflexe sind keine Meinung, sie sind Volksverhetzung und Verarmung, Ehrverletzung und wider die Menschenrechte. Mit dem Verbrechen unterhält man sich nicht, um Kompromisse zu finden - man sperrt es ein. Und wenn das nicht geht, sperrt man sie eben aus. Das hat mit Zersetzung der Meinungsfreiheit gar nichts zu tun. Wer so argumentiert, der demokratisiert die Demokratie zu Tode. Nicht, dass wir das noch nie erlebt hätten!
Ich frage mich ernsthaft, wie ein Mensch mit demokratischer Gesittung, wie Lafontaine einer ist, in einer Talkshow neben einem wie Sarrazin sitzen will, um mit ihm über den Euro zu diskutieren. Hat er sich nicht aus der demokratischen Wertegemeinschaft just in dem Augenblick verabschiedet, als er polemisch, wissenschaftlich falsch und hinterhältig anfing, Menschen nach Rasse und Genen zu kategorisieren? Welche Denkweise steckt dahinter, einem solchen eugenisch getrimmten Trommler die Möglichkeit einzuräumen, ihn als Diskussionspartner zu adeln? Warum sagt er nicht ganz offen vor laufender Kamera, dass er mit diesem Menschen nicht spricht? Vielleicht, weil er sich damit disqualifizierte und den Kerl auch noch wie einen Märtyrer aussehen läßt, dem die undemokratischen Triebe des Linken arg zusetzten? Denn in dieser Gesellschaft wissen wir doch, dass wir mit allen und jedem über alles und jedes sprechen können. Wer das ablehnt, der lehnt die Demokratie ab! Wenn das allerdings Demokratie sein will, dann sollte man kein Demokrat sein wollen!
Gespräch ist eine Art Zauberwort der harmoniesüchtigen Gesellschaft postdemokratischen Zuschnitts. Im Gespräch läßt sich alles regeln und ordnen. Das Gespräch führt man sachlich und leise, als Chef dennoch zielführend und dominant. Aber man spricht, spricht, spricht. Das mag oft, vielleicht sogar meist, sinnvoll sein. Aber Politik und politische Kultur ist kein trautes Gespräch, es ist Streitkultur oder eben Schweigen gegen die, die sich nicht an die allgemeinen Regelungen und höhere Gesetze und Menschheitserkenntnisse halten. Der Streit ist ja auch eine Form des Gespräches. Nur eben weniger diszipliniert, weniger verständnistuerisch, sondern zielführender, direkter. Das geht uns heute ab, wie sprechen als Gesellschaft nur noch, wir streiten nicht mehr. Streit ist etwas, das bei RTL im Nachmittagsprogramm stattfindet oder zwischen Nachbarn, aber politisch ist er keine Option mehr. Das ist nicht nur langweilig, es ist auch fatal für die demokratische Grundgesinnung der Gesellschaft. Denn man impft den Menschen ein, dass es sich nicht mehr lohnt für etwas zu streiten - man sagt ihnen, dass man Forderungen herbeireden könne, was freilich nicht stimmt, aber so viel praktischer für diejenigen ist, die diese Forderungen gar nicht hören oder gar umsetzen wollen.
Und man legalisiert nebenbei die Vorreiter neuer alter Tendenzen, die mit Vulgärgenetik und rassischem Weltbild hausieren gehen. Denn wenn man mit dem Quacksalber ein fachliches Medizingespräch führt, könnte der neutrale Beobachter doch glatt glauben, hier sitzen zwei Ärzte beisammen, um weltverloren fachzuschwätzen.
Jetzt rufen sie gleich laut, Och, der ist aber totalitär! Wehrhafte Demokratie kann nur total sein, sie muss kühlen Kopf bewahren, aber totale Grenzen kennen, die nicht überschritten werden. Wer das totalitär nennen will, um gleichermaßen die wirklichen Totalitarismen zu entkräften und zu relativieren, der soll das so bezeichnen. Es ist mir einerlei. Den Anfängen zu wehren bedeutet jedoch, den Demokratiezersetzern erst gar keine Anfänge und Ansätze zu erlauben. Das ist nicht totalitär - das ist konsequent! Und es ist demokratisch und für eine Demokratie legitim! Wer überdemokratisch mit Nichtdemokraten debattiert, der hat das demokratische Ideal schon lange überwunden.