In der Welt war vor ein paar Tagen ein viel diskutierter Artikel über das spartanische Luxusleben einer Hartz-IV-Empfängerin zu lesen. Die (fiktive) Susanne Müller hat früher mal ganz gut verdient und könnte das sicherlich auch weiterhin, wenn sie denn Lust dazu hätte. Susanne hat sich aber ganz bewusst dagegen entschieden: Sie kommt mit wenig aus und findet es besser, viel Zeit und ihre Ruhe zu haben, als sich jeden Tag in einem blöden Job abzurackern.
Susanne Müller ist ein sparsamer Mensch. Ein genügsamer Mensch ist sie nicht. Sie ist ein Mensch mit Ansprüchen. Ihre Ansprüche sind klein, von außen betrachtet, aber sie achtet darauf, dass sie sie mit eigenem Geld erfüllen kann. Sie leiht sich nichts, weder von Freunden noch von ihrer Familie. Auch von ihrem Freund nicht. Das Geld, das sie “mein Geld” nennt, kommt vom Staat, von den Steuerzahlern. Sie bekommt das, was in Deutschland als “Mindestanspruch für ein menschenwürdiges Leben” definiert ist. Ihr Anspruch ist im Sozialgesetzbuch festgeschrieben, Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV.
Früher hat sie mal funktioniert, heißt es weiterhin, wie die Mehrheit der Deutschen, sie hat ihren Job gemacht, Steuern bezahlt. Sie ist gesund und intelligent, nur hat sie eben keine Lust mehr, zu funktionieren wie alle anderen. Während eines Wüstenurlaubs habe sie gemerkt, dass sie nicht leben wollte, wie sie lebte. Und da habe sie entschieden, lieber frei zu sein. Frei sein ist etwas, das viele wollen. Die meisten kaufen sich ihre vermeintlichen Freiheiten mit Geld. Die anderen halten sich für frei, in dem sie eben kein Geld haben, sich dafür aber nicht mehr mit dem Arbeitsleben und seinen Zwängen auseinander setzen müssen. Die Freiheit der einen ist nicht unbedingt die Freiheit der anderen – ich halte Freiheit überhaupt für eigenartiges Konzept, das allerdings sehr nützlich ist, um den Leuten einzureden, dass unsere Gesellschaft eigentlich total in Ordnung ist, weil doch jeder machen kann, was er will. Aber wie weit es mit dem freien Willen her ist, wenn die Leute tatsächlich machen, was sie wollen, zeigt ja unter anderem dieser Artikel.
Susanne M. jedenfalls verwirklicht ihre Vorstellung von Freiheit, in dem sie sich jeden Monat ein paar hundert Euro vom Amt abholt und sich dann das Geld den Rest des Monats mit virtuoser Sparsamkeit einteilt. Dabei leistet sie sich sogar ab und zu ein Frühstück im Café und kauft im Bioladen ein. Außerdem trägt sie nur Markenklamotten, die allerdings schon ziemlich alt sind und von denen sie eine sehr überschaubare Anzahl besitzt. Aber Pullover oder Jeans von H&M würden kaum zehn und mehr Jahre durchhalten. Wer sparen will, darf eben keinen Billigkram kaufen. Außerdem hat Susanne ein drei Jahre altes MacBook und ein gebraucht gekauftes iPhone.
Das ist alles in allem ziemlich skandalös, wie die Kommentare unter dem Artikel nahelegen – aber von den Lesern der konservativen Welt kann man natürlich nur eine entsprechend beschränkte Weltsicht erwarten. Und genau damit spielt ja ein solcher Artikel: Die Leser finden, dass Susanne Müller das Sozialsystem missbrauche, das doch eigentlich für Menschen in Not gedacht sei, und in Not ist eine gut ausgebildete Frau mittleren Alters, die sich Markenkleidung und einige wenige Statussymbole des modernen Arbeitnehmers leisten kann, doch offensichtlich nicht. Jemand, der Almosen vom Staat bekommt, soll doch bitte schön den ganzen Tag verzweifelt über seine nutzlose Existenz sein, am besten niemals raus gehen, Billigfraß in sich rein fressen oder bei der Tafel anstehen, seine Klamotten bei Kik oder C&A kaufen und auf gar keinen Fall Apple-Produkte benutzen wollen.
Und so sehen das auch die braven Bürger und Weltleser, die angesichts einer solchen Unverschämtheit hyperventilieren – diese Frau tut nichts für diese Gesellschaft und lässt sich doch von ihr aushalten. Und das darf nicht sein. Wo kämen wir denn hin, wenn das jeder täte?
Ich kenne allerdings auch andere Menschen, die ebenfalls nicht für ihr tägliches Brot arbeiten gehen und trotzdem ganz vorzüglich von dieser Gesellschaft versorgt werden, sei es, dass sie sich in jungen Jahren entschieden haben, einen älteren Mann zu heiraten, dessen üppige Pension sie nun verzehren können, ohne selbst auch nur einen Euro ins Beitragssystem eingezahlt zu haben, oder weil ihnen eine Erbschaft in den Schoß gefallen ist, von deren Zinsen sie ein bescheidenes Leben führen können.
Sie leben ein Leben wie Susanne Müller, nur nicht ganz so spartanisch, aber genau wie Susanne Müller müssen sie nicht jeden morgen antreten und sich für andere Leute abrackern. Sie können über ihre Zeit verfügen und niemand käme auf die Idee, ihnen Vorwürfe zu machen, weil sie sich lieber mit Seidenmalerei als mit Laubfegen oder Müll aufsammeln im Park beschäftigen. Sie haben einfach das Glück, über Geld verfügen zu können, das sie zwar nicht selbst erarbeiten, aber eben auch nicht vom Amt holen müssen. Ich frage mich trotzdem, wo denn der verdammte Unterschied sei soll. Deshalb noch einmal: Wo kämen wir denn hin, das jeder täte?
Vermutlich zu einer angenehmeren Welt. Sicher, wenn alle, die nicht arbeiten wollen, nicht arbeiten müssten, dann sähe es anders aus in diesem Land – aber ich weiß nicht, ob das schlechter wäre. So dermaßen viel Arbeit braucht es nicht zum Überleben – das Problem dieser Gesellschaft ist ja eher, dass so viel nutzlose, überflüssige, ja schädliche Arbeit verrichtet wird – wieviel Panzer, Raketen, Atombomben und so weiter braucht man denn, um das Überleben der Menschhheit zu sichern? Genau, keine einzige. Im Grunde sollte man über jede und jeden froh sein, der einfach nicht mehr mitmachen will in diesem Wahnsinnssystem.
Im Zusammenhang mit der Diskussion über das Luxusleben von Susanne M. fielen mir gleich die faulen Norweger wieder ein, die angeblich viel zu gut verdienen. Immerhin, die arbeiten noch für ihr Geld, aber die arbeiten viel zu wenig, wie Wirtschaftsexperten finden. Damit geht es den Norwegern zwar gut, aber irgendwie dann auch nicht wieder so gut, dass es ewig so weiter gehen könnte. Sagen die Wirtschaftsexperten. Der Punkt, um den es geht, ist aber genau der gleiche, wie bei der Kritik am sehr viel spartanischeren Luxusleben der freiheitsverliebten Hartz-IV-Empfängerin: Es geht den Leuten halt viel zu gut. So gut, dass sie sich einfach dem Zwang entziehen, auf Teufel komm raus das Bruttosozialprodukt zu mehren, in dem sie gefälligst für ihren Lebensunterhalt tüchtig ranklotzen.
Es ist doch bemerkenswert, dass es immer sofort Kritik hagelt, wenn Menschen versuchen, aus ihrer Situation das Beste zu machen. Das Beste ist eben nicht, für einen blöden Chef ranzuklotzen, sondern sich ein schönes Leben zu machen. Und genau das wird den Leuten nicht gegönnt, selbst wenn sie das auf bescheidensten Niveau tun. Wobei es den Kritikern des norwegischen Wohllebens natürlich nicht darum geht, den Norwegern nahe zu bringen, sich an der bescheidenen Lebensführung der deutschen Hartz-IV-Empfängerin ein Beispiel zu nehmen. Und doch wird festgestellt, dass der Wohlstand der Norweger ähnlich unverdient ist wie das schöne Leben von Susanne M.: Die klotzen dafür ja nicht mehr so richtig ran, und wie soll dann eine Wirtschaft florieren?
Dagegen gibt es nur ein wirksames Rezept, was in Deutschland derzeit sehr erfolgreich angewandt wird: Man muss die Leute systematisch so arm machen, dass sie gar nicht mehr anders können, als ihre Arbeitskraft zu welchem Preis auch immer verkaufen zu müssen.
Und das fängt nicht bei der erbärmlichen Grundsicherung an, mit der ohnehin nur besonders asketische und intelligente Menschen noch halbwegs überleben können – auch viele Vollzeitarbeitskräfte kommen mit ihrem Lohn nicht mehr aus, weil die Lebenshaltungskosten rasant gestiegen sind, während die Löhne hierzulande immer weiter fallen.
Und das ist politisch gewollt, denn nur so kriegt man die Leute dazu, die auch noch die allerletzten Jobs für wenig Geld zu machen. Hier zeigt sich, dass Armut eine sehr nützliche Sache für den Kapitalismus ist: Je ärmer die Leute sind, desto erpressbarer werden sie. Um so ärgerlicher ist es andererseits auch wieder, wenn sich Leute damit nicht erpressen lassen wollen, sondern sich als Überlebenskünstler in dieser Armut mehr oder weniger gemütlich einrichten. Das wird dann als unanständig und Betrug am System denunziert.
Dabei sind es doch diejenigen, die andere für sich arbeiten lassen, die die Leute um ihr mehr oder schönes Leben betrügen. Und die ziehen, dank der Arbeit der ganzen anständigen Leute, noch viel mehr Geld aus dem System. Aber darüber regt sich keiner auf. Jedenfalls nicht, solange “die Manager” nicht “zu gierig” werden. Oder die ganze Kohle an der Steuer vorbei in Offshore-Leaks versickern lassen.