Als die angejahrte Vulpius des Geheimrats Sträucher und Kräuter goss, hätte nur ein Schulterblick gereicht, um jenes Berglein zu erblicken, auf welchem knapp mehr als ein Jahrhundert später, Menschen haufenweise ausgerottet würden - um jene Erhebung zu erspähen, die in künftigen Tagen nicht hinauf, sondern hinab führen sollte: hinab in die Tiefen einer Hölle irdischer Machart. Vom Hause Goethes aus, so wird berichtet, konnte man den Ettersberg betrachten. Goethes Haus, das wie kein anderes deutsche Kultur, das berühmte Dichter- und Denkertum, versinnbildlicht: von dort war es möglich jene Erhebung anzusehen, die die andere Seite "deutscher Leistungen" veranschaulicht.
Man stelle sich nur vor, die Vulpius wäre damals von einem düsteren Propheten bei der Verrichtung ihrer Gartenarbeit gestört worden - von einem Künder, der gedankenschwanger mit dem Finger gen Ettersberg gedeutet hätte, dabei Colonel Kurtz' Ausruf vorwegnehmend: Das Grauen, das Grauen! Und auf Nachfragen der Vulpius hätte der gemütskrank wirkende Seher von dem erzählt, was mehr als hundert Jahre danach jene sehen würden, die das dort erbaute Tor zur Hölle durchschritten hatten. Ungeheuerlichkeiten für ein Ohrenpaar des 19. Jahrhunderts - unerhört und allerhand! Vielleicht hätte sie dem armen Irren ein Paar Groschen zugeworfen, ihm Trost zugesprochen und ihn mitleidig angelächelt - vielleicht hätte sie ihn auch verscheucht und darüberhinaus ausgelacht. Genau vermag man ihre Reaktion nicht mehr nachzuvollziehen, denn erstens ist all das zu lange her und, zweitens, so nie geschehen.
So oder so: es hätte hanebüchen geklungen, dass hier, in der Wiege hoher Kultur, an jenem Ort, wo Schiller wirkte und Goethe gerade noch am Wirken war, ein Reich der Marter und der Höllenqualen ausbrechen würde. Bei den Wilden dieser Welt - dort ja! Bei den Negern und Chinesen vielleicht, aber doch nicht in Weimar! Laß gut sein, Christiane, hätte der Dichter ihr geraten. Du wirst dir doch von so einem närrischen Kerl nicht unser lauschiges Abendstündchen vermiesen lassen. Verrückte gab es immer und wird es immer geben. Ausgeschlossen schien es, dass jene berühmte Kulturstadt eines Tages am Fuße einer zweckdienlich errichteten Todesstadt läge. Geschichte mag manchmal verwinkelt und überraschend sein - darüber wäre man sich einig gewesen: aber so überrumpelnd, so ungerecht und unmoralisch könne und dürfe sie nicht sein. Beruhigen Sie sich, Frau Vulpius, hätten die Weimarer Gelehrten sie besänftigt, es ist wissenschaftlich fast gänzlich erwiesen, dass solcherlei Dinge hier niemals geschehen werden - überhaupt kann so ein unglaubliches Treiben nirgends in der christlichen Welt passieren - nie und nimmer! Wäre der verschrobene Prophet nicht genauso mysteriös vom Erdboden verschwunden, wie er einst plötzlich am Gartentor des Geheimrats aufgetaucht war - man hätte ihn vermutlich inhaftiert und in ein Irrenhaus verfrachtet. Zur Sicherheit der Allgemeinheit, versteht sich.
In Deutschland kann soetwas nicht passieren!, hört man auch heute noch. Zivilisiert sei man, geläutert durch die eigene Vergangenheit. Überdies gäbe es ein Grundgesetz, dass die Unmenschlichkeit absolut ausklammere - und überhaupt: man lebe ja schließlich nicht auf dem Balkan, bei den Hottentotten oder im Sudan! Man lebe im kultivierten Teil der Welt. Weist man dann auf die gesellschaftlichen Entwicklungen hin, auf das Aufkochen alter Ressentiments gegen Ausländer, die man in nutzvolles und unbrauchbares Humankapital kategorisiert; auf die latente Pogromisierung gegen Erwerbslose, die man öffentlich brandmarkt und verspottet; auf die Stimmungsmache gegen Senioren, die lang leben und dabei auch noch Geld erhalten wollen - weist man auf solcherlei hin und deutet prophetisch in eine mögliche, hoffentlich aber nicht uns widerfahrende Zukunft, in der durchaus wieder darüber nachgedacht werden könnte, wie man der unliebsamen und überflüssig gewordenen Menschen Herr wird, so fühlt man sich wie jener fiktionale Seher aus Weimar.
Fortschrittlich oder kulturell herausgeputzte Ist-Zustände kranken gar jämmerlich an Überheblichkeit. Es mangelt ihnen an seherischer Gabe und an der Bereitschaft, Mahnungen mit dem nötigen Respekt zu begegnen. Für jene damals war es unglaubhaft, dass in direkter Nachbarschaft zu Goethes Haus und seinem geistigen Erbe, das schlimmste Inferno ausbrechen würde, das der Mensch je dem Menschen bereitet hatte. Und doch ist es geschehen! Die hohe Kultur, die in Hörweite zu jenem Dichter und Denker stand, der wie kein anderer die deutsche Sprache und Literatur prägte, sie konnte die ausbrechende Hölle am Ettersberg nicht verhindern. Jorge Semprún, der selbst räumlich der gießenden Vulpius sehr nahe kam, wenngleich er sie auch zeitlich um gut 140 Jahre verpasste, würde viel später in seinem Buch "Was für ein schöner Sonntag" schreiben, dass er als Insasse Buchenwalds nie wirklich begreifen konnte, wie hier am Ort des Goethe dieses Grauen ausbrechen konnte. Dort wo Goethe als Blüte deutschen Erbes wanderte, marschierten nun das schäbigste Unkraut. Und er schreibt über jenen berühmten Baum: "Denn obwohl die SS-Männer ihn bei der Errichtung von Buchenwald verschont hatten, hatte eine amerikanische Phosphorbombe ihn bei dem Luftangriff 1944 in Brand gesteckt. In die Rinde dieses Baumes sollen Goethe und Eckermann ihre Initialen eingeritzt haben."
Hohe Kultur und Massenmord stehen manchmal eng beieinander - wenn nicht zeitlich, so doch räumlich. Goethe war keine Garantie für die Kontinuität kulturellen Flairs. Auch in Weimar setzen sich die Brüllfratzen durch - und schauten kollektiv weg, als am Ettersberg die Völker Europas geknechtet und geschlachtet wurden. Denen, die heute den düsteren Prophetien spotten, kann man nicht vorwerfen, dass sie sich als zivilisierte Menschen wähnen, die sie mehr oder minder ja auch sind - man muß sie aber tadeln, weil sie glauben, ihr bisschen Zivilisiertsein würde genügen, um neue Vernichtungs-, Eugenik- und Euthanasieprogramme zu vereiteln. Es wird sich nie wiederholen, weil wir heute aufgeklärter sind!, darf getrost als halbgebildete und selbstherrliche Phrase aufgefasst werden. Es wird sich wiederholen - auf die eine oder andere Weise. Es wird sich wiederholen, weil wir gar so sicher meinen aufgeklärt zu sein!
Man stelle sich nur vor, die Vulpius wäre damals von einem düsteren Propheten bei der Verrichtung ihrer Gartenarbeit gestört worden - von einem Künder, der gedankenschwanger mit dem Finger gen Ettersberg gedeutet hätte, dabei Colonel Kurtz' Ausruf vorwegnehmend: Das Grauen, das Grauen! Und auf Nachfragen der Vulpius hätte der gemütskrank wirkende Seher von dem erzählt, was mehr als hundert Jahre danach jene sehen würden, die das dort erbaute Tor zur Hölle durchschritten hatten. Ungeheuerlichkeiten für ein Ohrenpaar des 19. Jahrhunderts - unerhört und allerhand! Vielleicht hätte sie dem armen Irren ein Paar Groschen zugeworfen, ihm Trost zugesprochen und ihn mitleidig angelächelt - vielleicht hätte sie ihn auch verscheucht und darüberhinaus ausgelacht. Genau vermag man ihre Reaktion nicht mehr nachzuvollziehen, denn erstens ist all das zu lange her und, zweitens, so nie geschehen.
So oder so: es hätte hanebüchen geklungen, dass hier, in der Wiege hoher Kultur, an jenem Ort, wo Schiller wirkte und Goethe gerade noch am Wirken war, ein Reich der Marter und der Höllenqualen ausbrechen würde. Bei den Wilden dieser Welt - dort ja! Bei den Negern und Chinesen vielleicht, aber doch nicht in Weimar! Laß gut sein, Christiane, hätte der Dichter ihr geraten. Du wirst dir doch von so einem närrischen Kerl nicht unser lauschiges Abendstündchen vermiesen lassen. Verrückte gab es immer und wird es immer geben. Ausgeschlossen schien es, dass jene berühmte Kulturstadt eines Tages am Fuße einer zweckdienlich errichteten Todesstadt läge. Geschichte mag manchmal verwinkelt und überraschend sein - darüber wäre man sich einig gewesen: aber so überrumpelnd, so ungerecht und unmoralisch könne und dürfe sie nicht sein. Beruhigen Sie sich, Frau Vulpius, hätten die Weimarer Gelehrten sie besänftigt, es ist wissenschaftlich fast gänzlich erwiesen, dass solcherlei Dinge hier niemals geschehen werden - überhaupt kann so ein unglaubliches Treiben nirgends in der christlichen Welt passieren - nie und nimmer! Wäre der verschrobene Prophet nicht genauso mysteriös vom Erdboden verschwunden, wie er einst plötzlich am Gartentor des Geheimrats aufgetaucht war - man hätte ihn vermutlich inhaftiert und in ein Irrenhaus verfrachtet. Zur Sicherheit der Allgemeinheit, versteht sich.
In Deutschland kann soetwas nicht passieren!, hört man auch heute noch. Zivilisiert sei man, geläutert durch die eigene Vergangenheit. Überdies gäbe es ein Grundgesetz, dass die Unmenschlichkeit absolut ausklammere - und überhaupt: man lebe ja schließlich nicht auf dem Balkan, bei den Hottentotten oder im Sudan! Man lebe im kultivierten Teil der Welt. Weist man dann auf die gesellschaftlichen Entwicklungen hin, auf das Aufkochen alter Ressentiments gegen Ausländer, die man in nutzvolles und unbrauchbares Humankapital kategorisiert; auf die latente Pogromisierung gegen Erwerbslose, die man öffentlich brandmarkt und verspottet; auf die Stimmungsmache gegen Senioren, die lang leben und dabei auch noch Geld erhalten wollen - weist man auf solcherlei hin und deutet prophetisch in eine mögliche, hoffentlich aber nicht uns widerfahrende Zukunft, in der durchaus wieder darüber nachgedacht werden könnte, wie man der unliebsamen und überflüssig gewordenen Menschen Herr wird, so fühlt man sich wie jener fiktionale Seher aus Weimar.
Fortschrittlich oder kulturell herausgeputzte Ist-Zustände kranken gar jämmerlich an Überheblichkeit. Es mangelt ihnen an seherischer Gabe und an der Bereitschaft, Mahnungen mit dem nötigen Respekt zu begegnen. Für jene damals war es unglaubhaft, dass in direkter Nachbarschaft zu Goethes Haus und seinem geistigen Erbe, das schlimmste Inferno ausbrechen würde, das der Mensch je dem Menschen bereitet hatte. Und doch ist es geschehen! Die hohe Kultur, die in Hörweite zu jenem Dichter und Denker stand, der wie kein anderer die deutsche Sprache und Literatur prägte, sie konnte die ausbrechende Hölle am Ettersberg nicht verhindern. Jorge Semprún, der selbst räumlich der gießenden Vulpius sehr nahe kam, wenngleich er sie auch zeitlich um gut 140 Jahre verpasste, würde viel später in seinem Buch "Was für ein schöner Sonntag" schreiben, dass er als Insasse Buchenwalds nie wirklich begreifen konnte, wie hier am Ort des Goethe dieses Grauen ausbrechen konnte. Dort wo Goethe als Blüte deutschen Erbes wanderte, marschierten nun das schäbigste Unkraut. Und er schreibt über jenen berühmten Baum: "Denn obwohl die SS-Männer ihn bei der Errichtung von Buchenwald verschont hatten, hatte eine amerikanische Phosphorbombe ihn bei dem Luftangriff 1944 in Brand gesteckt. In die Rinde dieses Baumes sollen Goethe und Eckermann ihre Initialen eingeritzt haben."
Hohe Kultur und Massenmord stehen manchmal eng beieinander - wenn nicht zeitlich, so doch räumlich. Goethe war keine Garantie für die Kontinuität kulturellen Flairs. Auch in Weimar setzen sich die Brüllfratzen durch - und schauten kollektiv weg, als am Ettersberg die Völker Europas geknechtet und geschlachtet wurden. Denen, die heute den düsteren Prophetien spotten, kann man nicht vorwerfen, dass sie sich als zivilisierte Menschen wähnen, die sie mehr oder minder ja auch sind - man muß sie aber tadeln, weil sie glauben, ihr bisschen Zivilisiertsein würde genügen, um neue Vernichtungs-, Eugenik- und Euthanasieprogramme zu vereiteln. Es wird sich nie wiederholen, weil wir heute aufgeklärter sind!, darf getrost als halbgebildete und selbstherrliche Phrase aufgefasst werden. Es wird sich wiederholen - auf die eine oder andere Weise. Es wird sich wiederholen, weil wir gar so sicher meinen aufgeklärt zu sein!