Und dann fehlen uns die Worte

Im Jahr 2047 werde ich 69 Jahre alt sein. Und dort sehe ich mich auf einem Symposium sprechen, das heißt, ich radebreche, denn viele frei verfügbare Worte werden uns nach Einführung von ACTA nicht geblieben sein. Es tut mir leid, wenn Sie mich gleich, bei einem kurzen Ausblick in die Zukunft, nicht verstehen werden. Ich werde mich selbst kaum verstehen, erkläre mich aber bereit, Ihnen das von meinem alterszerschlissenen Ego Gesagte, so gut es mir möglich ist, zu übersetzen. Es geht dort wohl, und das tröstet mich etwas, um Sprache. Selbst in Zeiten, da Sprache von Unternehmen gekauft und monopolisiert werden wird, kann man also auch noch über Sprache räsonieren. Über das, was davon übrig sein wird.

Wundern Sie sich überdies nicht, Verben sind kostenpflichtig, daher wird der alte De Lapuente keine gebrauchen - ich erkläre Ihnen hernach weshalb. Adjektive sind hingegen verboten, weil sie im Besitz der Werbeindustrie sind. Wer sie verwendet, macht sich strafbar. Tröstlich ist nur, dass die Jungen dieser gar nicht so fernen Zukunft, keine Adjektive mehr kennen und gar nicht erst in die Bredouille geraten, irgendwas mit Eigenschaften auszuschmücken. Nomen sind weitestgehend erlaubt - manche müssen allerdings abgewandelt werden, weil sie sonst gegen die Monopolrechte diverser Unternehmen verstoßen. Beispiel gefällig? Sie können nicht Pinnwand sagen, weil Facebook sich diesen Begriff gesichert hat. Wir kennen die Pinnwand heute ja auch noch als Korkplatte oder als Magnettafel - 2047 ist die Pinnwand die Oberfläche Facebooks. Nur die Oberfläche Facebooks - sonst nichts! Bei der Pinnwand ist es einfach, Sie können stattdessen einfach Korkplatte sagen, Magnettafel hingegen nicht, weil eine berühmte Bürobedarfsfirma ihr Produkt "Magnettafel Florabilis" hat namentlich schützen lassen.

Nun gut, jetzt lauschen wir kurz meinem Ego in Falten, danach noch einige Takte. Denken Sie sich Verben und Adjektive zwischen die Nomen und Bindewörter. Satzzeichen dürfen Sie geistig auch setzen - Punkte sind hingegen vorhanden:

"Damen und Herren
willkommen Symposium Alltagssprache 2047. Ich Ausblick auf Zeit vor 2015 und ACTA. Alltagssprech nicht wie 2047 vor ACTA. Erklärung. Vor ACTA Worte nicht wie Worte von 2047. 2015 Gesetz Worte Verbot. Nach Gesetz Unternehmen Wortemonopol. Sperrung für Allgemeinheit. Sprache Effizienz. Schnelligkeit. Vor 2015 Sprache Ungenauigkeit und Zeitverschwendung..."

Haben Sie verstanden, dass der alte De Lapuente die neue Sprache zu loben scheint? Ich weiß nicht genau warum, vielleicht ist er von den Sprachschützern der Zukunft eingekauft oder von den Konzernen - oder von beiden. Vielleicht endet man aber zwangsläufig so, wenn man täglich von so einem Kauderwelsch berieselt wird. Ich meine, das ist ja wie umgerührte Darmendprodukte unter der Schädeldecke. Allerdings haben ich Ihnen noch zu erklären, dass ich in dieser Zukunft extrem veraltet spreche. Sehen Sie sie Floskel "... vor 2015 und ACTA" - so würde das 2047 kein moderner Mensch mehr machen. Richtig wäre: "... >2015/ACTA". Mein zukünftiges Ego weigert sich offenbar, sich so zu artikulieren. Es hält auch von "Damen/Herren" nichts oder von "... >2015 Sprache=Ungenauigk/Zeitverschend..." Von der neuesten Mode, die letzten Wortsilben zu schlucken, weil das effektiver ist und man nebenher damit den Plänen einiger Uhrenhersteller zuvorkommen will, die Zeitverschwendung begrifflich sichern wollen, hält es wenig.

Adjektive waren nach 2015 schnell ausverkauft. Die Werbewirtschaft und die PR-Abteilungen großer Konzerne griffen munter zu und sicherten sich alle Rechte auf positive Adjektive. Im Zuge der Liberalisierung der Werbepraxis, als man plötzlich auch negative Werbung gegen Kontrahenten machen durfte, um das eigene Produkt zu unterstreichen, nahm man auch negative Adjektive in den Bestand auf. Porentief rein - das konnten Sie nicht ungestraft sagen. Das war übrigens nicht die Absicht von ACTA - niemand kann behaupten, man wollte per Gesetz die Sprache rationalisieren. Aber Worte und Wortkombinationen sicherten sich Unternehmen ungeniert als geistiges Eigentum und kein Gericht legte dem Steine in den Weg - treu am Gesetzestext hangelnd, konnte das auch gar nicht passieren. Man hätte allerdings sehen können, dass es so kommen kann. Und es gab ja genug Widerstand, Petitionen dagegen und dergleichen mehr. Verben jedenfalls gingen nachher aus. Die Planungs- und Zeiterfassungsindustrie kaufte sich unter anderem organisieren und planen; die industrielle Massentierhaltung füttern, züchten, schlachten und aufziehen; die genetische Agrarwirtschaft legte sich gießen, säen und regnen zu - so ging das munter weiter.

Alle behaupteten sie, das seien Verben aus ihrem Metier und damit seien sie ökonomisch begründet ihr geistiges Eigentum. Wer sie benutzen wolle, der müsse blechen - in verschiedenen Varianten: Pay per Use oder diverse Flatrate-Modi. Das war von Anbeginn an natürlich ein Sport nur für Vermögende. Da man irgendwann gezwungen war, verschiedene Verben-, Adjektiv- oder Nomen-Verträge mit einzelnen Unternehmen oder Branchen abzuschließen, gründeten die Konzerne national agierende Behörden, von denen man eine General-Konzession erhalten konnte - die war aber, versteht sich von selbst, nicht unbedingt günstig und für die meisten Menschen nicht bezahlbar.

Sie müssen sich das so vorstellen: das freie Reden war nach 2015 ja nicht verboten. Sie konnten zuhause reden wie Sie wollten. Auch unter Freunden sprach man, wie man es vormals tat. Zunächst jedenfalls. Öffentlich mussten Sie aufpassen. Und öffentlich waren schon e-Mails, die von den Providern durchleuchtet werden mussten. Öffentliche Auftritte, ins Netz gestellte Filme, Telefonate - wer da geschütztes Wortgut verbreitete, musste mit Bußgeldern oder Haft rechnen. Eine Sprache, die nur heimlich gesprochen wird, die stirbt aus. Und so passte sich auch die private Sprache langsam aber sicher an. Die öffentliche Sprache, die nur aus ungeschützten Worten, einigen losen Bindewörtern und Neuschöpfungen bestand, hielt also Einzug ins Private. Zu den wenigen Worten, die blieben, gesellten sich nun in der schriftlichen Kommunikation kleine Bildchen - die Renaissance der Hieroglyphe. Dieses Icon-Praxis wurde bald unterbunden, denn anfangs konnte man noch einen selbst gezeichneten Apfel nutzen, um Apfel zu sagen - später war bereits jeder Apfel, der theoretisch malbar war, Besitz von Apple. Abbildungen von Gegenständen waren hiermit auch zum geistigen Eigentum der Wirtschaft geworden. Fotos von sich selbst, die bei Facebook eingestellt wurden, gehörten automatisch und unwiderruflich dem Konzern. Nichts, was nicht jemanden gehörte. Die Welt als Besitzrechte und Besitzansprüche.

Kurz nach 2015 war es so, dass alles was je geschrieben oder anders festgehalten wurde, nicht zitiert werden konnte, wenn es mit dem ACTA-Siegel versehen war. In einem Artikel von 2017 schrieb ich die kurze Passage "... in etwa wie..." - kurz darauf Bußgeld im Briefkasten: denn ich hatte eine Passage wiederholt, die geschützt war - einige Regierungstexte beinhalteten exakt diese Wortfolge. Die Regierung hatte sie sich schützen lassen. In jener Zeit musste man gekonnt textlich umwandeln - Wortfolgen finden, die es so noch nicht gab. Das wurde verkompliziert, da Nomen damals ja auch noch markengeschützt waren. Diese Praxis hob man jedoch nach einigen Jahren wieder auf, weil faktisch keine Rede mehr möglich war. Die Liberalen und Konservativen taten sich schwer, die Nomen wieder in Freiheit zu manövrieren. Die schöne Stille, die ACTA erzeugte, man wollte sie nicht verschenken. Als man aber sah, dass einige frei zugängliche Nomen nicht im Tumult enden, sondern eigentlich als zahnlose Tiger die sinnlose Kommunikation füllten, ließ man gewähren. Sehen Sie nur, um ein Beispiel zu geben, den Kopftext ad sinistrams an: "Die herrschenden Gedanken..." Gedanken konnte man wieder sagen, der Begriff war ja nicht mehr geschützt (den hatte sich vormals das ifo-Institut gesichert, weil Gedanken angeblich dessen Produkt war) - aber wie zum Teufel (Teufel ist übrigens weiterhin geschützt: Eigenmarke der katholischen Kirche, die 2047 nur noch online operiert) soll man herrschende ausdrücken? Gedanken ohne vorher angebrachtes Adjektiv: jeder kann sich also selbst ausmalen, was gemeint sein könnte - und da dieses spekulative Spiel auf Dauer öde ist, malt sich irgendwann gar keiner mehr was aus. Dass ich den Kopftext, ein Ausspruch Karl Marx', 2047 gar nicht mehr anwenden kann, weil die Rechte hierzu einem Konsortium namens Sozialistische und kommunistische Textverwaltung GmbH übertragen wurden, erwähne ich nur am Rande.

Interessant war, dass sich damals Sprachen und Soziolekte entwickelten, die die verordnete Sprachlosigkeit umgehen sollten. Allerdings ließen die Schöpfer dieser Sprache ihre Kreationen bald schon als geistiges Eigentum eintragen, nachdem sie merkten, dass das Publikum sie annahmen. Damit wurden sie auch zur Marke und erhielten einen gesetzlichen Anspruch auf Schutz. Liberale Sprachschöpfer verboten ja ihre Sprache nicht generell, sondern stellten sie denen (günstig) in Rechnung, die auf diese Weise kommunizierten. ACTA hat die Sprache, die man noch vor 2015 als Kulturgut kategorisierte, in einen Warenwert verwandelt. Aufklärerische Kampagnen sprechen sich seit etwa 2035 dafür aus, dass die Regierungen einen übersichtlichen Grundwortschatz erlassen sollten, in dem verschiedene Worte für unverkäuflich stehen. Hundert, vielleicht zweihundert Worte, die die zwischenmenschliche Kommunikation erleichtern würden. Mehr würde man ohnehin nicht benötigen, um seinen alltäglichen Funktionen adäquat nachzukommen.

Ob der alte De Lapuente, den ich sah, noch weiß, welche Worte er einst benutzte? Hat er sie vergessen? Verdrängt er sie? Träumt er, denkt er noch wortreich? Fragen Sie mich das einfach, wenn wir uns 2047 treffen - ich werde Ihnen aber wahrscheinlich nicht verständlich Antwort geben können. Mit fehlen dann die Worte...


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