Von der melancholischen Notwendigkeit, loszulassen und dem Wert von Erinnerungen.
Der Sommer lässt sich in Hamburg seit Wochen nicht blicken. Es regnet fast jeden Tag und ich habe keinen Urlaub geplant. Also beschließe ich, endlich mal die Bude richtig auszumisten. Klamotten, Schuhe und Bücher fliegen kiloweise aus Schränken und Regalen, rein in Kisten für Oxfam und die Kleiderkammer, Elektroschrott wie ein alter Drucker und ein vergammelter Staubsauger gehen auf den Recyclinghof, allerlei Krempel kommt in blaue Säcke.
Dabei findet man natürlich auch alles Mögliche, was man längst vergessen hat und freut sich ganz oft - zum Beispiel über eine Geburtstagskarte meiner damals 13-jährigen Cousine, auf die sie ein Foto von sich selbst geklebt hat (mit Zahnspange, Buffalos und Britney Spears-Postern im Hintergrund) und in der steht: „Liebes Cousinchen, eigentlich wollte ich Dir dieses Jahr nichts schenken, weil Du mir auch nichts geschenkt hast". Diese Cousine ist inzwischen 28, ich schicke ihr ein Foto der Karte per WhatsApp und wir lachen beide sehr. Die Karte geht jedenfalls in den „Behalten"-Karton, damit bleibt sie jetzt erpressbar.
Schön war auch die große Tüte mit Briefen meiner besten Freundin aus Schulzeiten. Kleine und große Notizen, manchmal auf Schokoladenpapier geschrieben, manchmal auf die Rückseite von Programmflyern oder Bravo-Postern, manchmal auch episch lang auf feinem Briefpapier - aber immer mit viel Liebe, vielen Details. Ich erinnere mich gut daran, dass wir uns damals fast jeden Tag geschrieben haben, obwohl wir uns auch täglich in der Schule gesehen haben. Mir wird ganz warm ums Herz, als ich die Briefe in der Hand halte und denke: es gibt doch keine größere, ehrlichere Liebe als die zwischen zwei halbwüchsigen Mädchen. Inzwischen haben wir kaum Kontakt, schreiben uns keine Briefe mehr, sondern schauen durch das Schaufenster von Facebook dem Leben der jeweils anderen zu. Das ist okay und die Briefe behalte ich gern.
Dann sind da die Dinge, die einem das Herz fast brechen - die Geburtstagskarten meiner verstorbenen Oma, die am Schluss jedes Briefes immer schrieb: „Alle guten Wünsche begleiten Dich", die kleine Hexe mit den roten Haaren, die mir ein sehr geliebter Mensch mal in Prag gekauft hat (und noch viele andere kleine Geschenke von diesem geliebten Menschen), Fotos von einer verstorbenen Freundin und die Karte meines besten Freundes zum Tod meiner Oma. Erinnerungen an viel Liebe, in denen aber auch ganz viel „vorbei" mitschwingt. Ich kann nicht anders und weine ein bisschen in die Wollmäuse. Auch diese Dinge werden natürlich behalten.
Es gibt auch sehr viele Dinge, die ich nach eigentlich viel zu kurzem Zögern in den Müll schmeiße. Briefe, Geschenke und Karten von anderen alten Verehrern (was in mir nicht selten ein beschämtes „Uaaahhh" hervor ruft) und Freunden, zu denen ich seit vielen, vielen Jahren keinen Kontakt mehr habe. Ich frage mich, wie man den Wert von Erinnerungen eigentlich bemisst - warum die Briefe und Fotos der einen Freundin behalten, die der anderen aber relativ rigoros in die Tonne hauen. Erinnerungen, die mal etwas wert waren, und jetzt wohl einfach nicht mehr. Die Menschen, die an diesen Erinnerungsstücken hängen, spielen keine Rolle mehr in meinem Leben, warum sollte es also der ganze Krempel noch tun, denke ich und bin trotzdem ein bisschen melancholisch.
Schön auch - Karten und Briefe von Menschen, an die man sich beim besten Willen nicht erinnern kann. In einer Kiste finde ich beispielsweise mehrere Postkarten - bestimmt 6 oder 7 - von jemandem namens Ulli. Es sind nette Urlaubskarten aus Frankreich oder Griechenland, adressiert an meine allererste Studentenwohnung. Ich lese die Karten mehrmals und zermartere mir das Hirn - und habe nicht den leisesten Schimmer, wer Ulli ist. Ich kann mich einfach nicht erinnern, jemals jemanden mit diesem Namen gekannt zu haben (der Schrift nach vermute ich, dass es sich um eine Frau handelt), und offenbar waren wir uns doch zumindest eine kurze Zeit so nah, dass wir uns Postkarten geschrieben haben. Ich fühle mich schrecklich, muss aber auch ein bisschen lachen. Sorry Ulli, die Karten gehen jetzt in den Müll.
Ähnlich erging es mir mit ein paar Büchern - da stehen Gratulationswidmungen drin, ganz herzlich und persönlich, zum Examen oder zum Geburtstag, „jetzt hast Du es geschafft, auf zu neuen Ufern! Alles Liebe, Ben und Caro" - und ich dumme Nuss kann mich weder an Ben und Caro noch an das Buch erinnern, was sie offenbar mit viel Bedacht ausgesucht und beschriftet haben. Der Wert von Erinnerungen - immer wieder spukt mir das im Kopf rum.
So viel Zeug und Krempel kann einen ganz schön erdrücken, so viele Erinnerungen, die aus den Regalen quellen und die Ecken verstopfen. Am Ende habe ich ungefähr 10-12 Säcke und Kisten voll Schrott und Erinnerungen aussortiert und weggeschmissen. Andere Dinge sind aus dem direkten Blickfeld, von Regalen und Fensterbänken in einen einzigen Karton gesteckt worden - Lieblingserinnerungen, traurig-schöne Zeugen von viel Liebe.
Überhaupt - abgesehen davon, dass in meiner Wohnung jetzt viel mehr Platz ist, man endlich auch wieder jede Ecke sehen kann und ich mich auch innerlich ziemlich erleichtert fühle, bleibt am Ende vor allem ein Gefühl - dass ich sehr viel Glück hatte mit den Menschen in meinem Leben, dass es immer sehr viel Liebe gegeben hat, von Freundinnen, Familie und Lieblingsmenschen. Und auch wenn der eine oder die andere längst schon keine Rolle mehr spielt, bin ich trotzdem froh, zu wissen, dass sie mal da waren, und irgendwie Teil hatten. Jetzt ist ganz viel Platz für neue Erinnerungen, und wer weiß, vielleicht findet irgendwo irgendwer mal Postkarten von mir, und fragt sich dann: „Wer war das noch mal?"
Schöner Gedanke irgendwie ...