Über den Rest kann man streiten

Über den Rest kann man streiten Via Facebook erreichten mich unglaubliche Übereinstimmungszahlen. Einer schrieb, der Wahl-o-mat hätte ihm 93 Prozent Übereinstimmung mit Die Linke bescheinigt. Gratuliere! Eine Frau schrieb stolz: 88 Prozent linkenkompatibel. Auch nicht übel! Und noch jemand schlussfolgerte, er habe bei einigen Themen neutral angeklickt und daher "nur" 84 Prozent erzielt. Schade eigentlich!

Ich schiebe an dieser Stelle mal den generellen Zweifel an Programmen wie dem Wahl-o-mat zur Seite. Wer eine Krücke zum Bergsteigen braucht, sollte im Tal bleiben. Was ich mich frage ist eher: Was ist denn das für eine Art von parteipolitisch organisierter Linkenkultur? Gibt es bei diesen vermeintlichen Zustimmungs- und Übereinstimmungspotenzial überhaupt noch Raum für Streit, für andere Positionen und Gedankengänge?
Und die Partei, die Partei, die hat eben nicht immer recht. Was man nur begrüßen kann. Wo bliebe da der Raum für demokratische Streitkultur?
Natürlich habe ich mir dann doch einen Spaß daraus gemacht, mal ein bisschen am Wahl-o-mat zu fummeln. Ich wollte wissen, was da so abgefragt wird. Komisch erschien mir übrigens, dass man dort behauptet, Die Linke sei für eine Kameraüberwachung des öffentlichen Raumes. Bislang habe ich immer das Gegenteil gelesen. Vielleicht klärt mich ja jemand auf. Mit Ach und Krach kam ich dann auf ein Übereinstimmungsvolumen von nicht ganz 65 Prozent. Was mir eigentlich völlig reicht. Wären es mehr, müsste ich mich fragen, ob ich noch denke oder schon Lemming bin.
Viele Ansichten von Die Linke teile ich grundsätzlich nicht. Da ist die parteiinterne Distanz und Berührungsangst zur Religion - ein böser Fehler in meinen Augen. Und dann ist da noch dieses unterbewusste eurozentristische Bewerten der Welt, was wiederum aus der Religionsabneigung rührt. Das merkt man, wenn einem mal ein Linker erklären will, warum die Burka ein patriachaler Vorhang ist.
Die arg progressive Haltung zu Familie und Kinder, die in jeder Hausfrau einen gescheiterten Lebensentwurf sieht, schmeckt mir auch nicht. Meiner Meinung nach wäre es Aufgabe von Die Linke, auch mal darauf hinzuweisen, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf selbst im optimalsten Falle eine kaum zu lösende Problematik ist, sofern Eltern auch Elternschaft erfüllen wollen. Nach zehn oder elf Stunden Arbeit inklusive An- und Abfahrt, dürfte bewusst erlebte Elternschaft wochentags kaum mehr zu bewerkstelligen sein. Insofern ist der geflickschusterte Versuch der Koalition, ein Betreuungsgeld auszuzahlen, weitaus ehrlicher, als das Märchen von der Vereinbarkeit.
Das sind einige elementare Punkte, die mich von Die Linke trennen. Sachpolitischer: Grundeinkommen befürworte ich nicht. Eine Frauenquote ist ein klassistischer Gag, da nur für Frauen aus der Oberschicht gedacht. Das BaföG soll nicht, wie Die Linke meint, unabhängig von Einkommen der Eltern ausgezahlt werden. Wieso soll Rechtsanwalts Spross von der Allgemeinheit profitieren, wenn Papa genug hat? Bei Kindern aus der Hartz IV-Schicht wertet man Kindergeld sogar als Einkommen. Und dann natürlich: Hartz IV muss nicht weg! - um die beliebte Parole mal vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es gehört allerdings gründlich überarbeitet und zugunsten der Antragsteller und Leistungsberechtigten liberalisiert. Aber eine Grundsicherung wird es immer geben müssen - wenn dann auch mit anderem Namen.
Übereinstimmungen nach ZK-Maßgabe müssen für Die Linke schon historisch gesehen grauenhaft sein. Mit Löffeln gefressene Weisheit ist auch nicht die Aufgabe politischer Parteien. Man wählt nach den Schnittstellen, die eine Partei zum Andocken bietet. Das heißt nicht, dass persönliche Sichtweise und Leitlinie der Partei deckungsgleich sein müssen. Wäre dem so, könnte sich eine Partei nie neu ausrichten, anpassen, sich für die Gegenwart rüsten. Dann wären ihre Mitglieder und Sympathisanten nur Claqueure und nichts weiter.
Jenseits der 90 Prozent auf einer Linie zu liegen, halte ich fast schon für problematisch. Wie soll man sich da innerparteilich noch streiten? Wie diskutieren und Impulse setzen? Wenn alles so voller Harmonie ist, dann besteht die Gefahr, dass sich daraus Sucht, dass sich daraus Harmoniesucht ergibt. Und ich bin ehrlich, ich kann harmoniesüchtige Menschen nicht leiden. Sie kitzeln es bei mir geradezu heraus, sauer zu werden. Harmonie ist die Pforte zur Ignoranz. Und eine ignorante Partei wollte ich nicht wählen. Davon gibt es genug.
Ich denke, Die Linke kann als Partei gut damit leben, Menschen in ihrem Umfeld zu haben, die nicht hochprozentig auf Linie liegen. Das bereichert sie. Jedenfalls dann, wenn die Grundlinien gewahrt bleiben. Friedenspolitik, soziale Gerechtigkeit und Ökologie, Partizipation und Mitsprache, Liberalismus zwischen gesellschaftlichen Gruppen, Einhaltung von Bürger- und Menschenrechte; philosophischer gesprochen: allerlei Ausgänge aus der (selbstverschuldeten) Unmündigkeit: Das sind die gemeinsamen Nenner. Über den Rest kann man streiten.

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