Triumph des Rechtsstaats?

Von Stefan Sasse
Die Debatte um die Deutung der Geschehnisse, die mit Schirrmacher und Habermas in der FAZ begonnen und von Steingart im Handelsblatt fortgesetzt wurde, geht in die nächste Runde. Ebenfalls in der FAZ, im neu gegründeten Wirtschaftsblog "Fazit", erklärt Rainer Hank, dass Habermas eine völlige Fehleinschätzung hinlege und dass es sich bei dem Abtreten von Regierungen auf Druck der Finanzmärkte nicht um ein postdemokratisches Phänomen, sondern vielmehr um einen Triumph des Rechtsstaats handeln würde. Diese etwas ungewöhnliche Einschätzung erfordert von Hank eine kleine Volte, indem er die Staatsschulden zu normalen Verträgen mit realen Personen, die hinter den Finanzinstitutionen stünden erklärt und auf dem simplen Fakt, dass Staaten niemals zahlungsunfähig, sondern allenfalls zahlungsunwillig sein können (da sie theoretisch unbegrenzt Geld drucken oder Abgaben erhöhen und Ausgaben zurückfahren können), dass die Zurückbezahlung von Staatsschulden schlicht eine sine qua non des Rechtsstaats und daher eine Austeritätspolitik gegen die "wildgewordene Mehrheitsdemokratie" angeraten sei. Das ist zumindest eine fragwürdige Argumentation, und zu ihrem Kern kommen wir auch gleich. Vorher müssen wir uns allerdings mit der Frage beschäftigen, ob tatsächlich Habermas' und nicht vielleicht doch Hanks Demokratieverständnis der Nachfrage bedarf. 
Das fängt bereits damit an, dass Hank Wicksell mit seinem Satz von der Demokratie als "Diktatur der zufälligen Mehrheit" zitiert. Nun ist es richtig, dass in einer Demokratie die Mehrheit ihren Willen durchsetzt, und dass diese Mehrheit relativ zufällig zustande kommt - man denke nur an Oderflut und Irakkrieg 2002, ohne deren zufälliges Eintreten die Mehrheit sicher eine andere geworden wäre. Nur, Hank übersieht, dass wir nicht in einer Demokratie leben, in der eine Mehrheit diktatorisch durch Handheben bei der Abstimmung ihren Willen durchsetzt, sondern in einer Republik. Wir wählen Vertreter, die uns für die Legislaturperiode repräsentieren sollen (ohne dabei sklavisch an den Willen der Mehrheit, sondern ihr eigenes Gewissen und den Fraktionszwang gebunden zu sein). Und wir haben diverse mal gewählte, mal nicht gewählte Checks and Balances, vom Föderalismus zum Bundesverfassungsgericht. Die reine Demokratie, in der der demos seinen Willen abseits von Gesetzen und Moral nach Lust und Laune durchprügeln könnte existiert gar nicht. Und es bedarf schon einer solchen Schreckensvision, um die Märkte als Hüter der Rechtsstaatlichkeit in Stellung zu bringen, anstatt mehr Vertrauen auf Parlament, Verfassungsgericht und Medienöffentlichkeit zu setzen. Bevor ich die Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit Josef Ackermann überlasse, werfe ich das Heft des Handelns Kai Diekmann in den Schoß. 
Nun hat Hank sicherlich Recht damit, wenn er befindet, dass Staatsschulden Verträge sind, und es ist tatsächlich ein Charakteristikum des Rechtsstaats, dass Verträge einzuhalten sind. Auch die Nachordnung von Demokratie zur Rechtsstaatlichkeit ist nicht verkehrt, da Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit tatsächlich zu einer Diktatur der zufälligen Mehrheit degenerieren kann. Da aber in unseren republikanischen Staatswesen zahlreiche Checks&Balances gegeben sind, besteht diese Gefahr in wesentlich geringerer Weise, als Hank das ausmalt. Konkret sind nur sehr wenige Verträge betroffen: eben sie von einigen Gläubigern mit einigen Staaten. Alle anderen Verträge und Bestandteile von Rechtsstaatlichkeit stehen überhaupt nicht zur Disposition, und die wenigen Verträge, die es tun, werden unter aktiver Beteiligung der Gläubiger selbst diskutiert, die mitnichten passiv die Diktatur der Mehrheit ertragen müssen, sondern sehr aktiv an der Umgestaltung (und nicht Aufhebung!) dieser Verträge beteiligt sind. Solche Prozesse gehören eigentlich zur Rechtsstaatlichkeit hinzu: wird die Ausführung eines Vertrags unmöglich, weil sie einen Vertragspartner (etwa Griechenland) zerstört, so versuchen beide, notfalls mit gerichtlicher Vermittlung, den Vertrag zu ändern. Dies geschieht täglich in jedem Rechtsstaat, ohne dass dieser dadurch gefährdet wäre. Neu ist hier nur das Ausmaß der Verträge einerseits und die einzigartige rechtliche Stellung der Staaten andererseits. 
Denn tatsächlich hat Hank Recht, wenn er befindet, dass Staaten technisch gesehen nicht bankrott gehen, sondern allenfalls ihre Zahlungen einstellen können - so geschehen etwa mit Argentinien 2002, und die gewaltige Zahl immer noch anhängiger Prozesse und ihre ordnungsgemäße Bewältigung zeigt, dass auch das nicht das Ende der Rechtsstaatlichkeit darstellen muss. Es gibt keine übernationale Institution, die Staaten tatsächlich zwingen könnte, ihre Schulden zu bezahlen. In der Hochphase des Imperialismus des 19. Jahrhunderts, als der Zahlungsausfall besonders kleinerer Staaten noch Alltag war, marschierten die Großmächte dann oftmals ein, übernahmen gewisse Bereiche und sorgten für die Bedienung der Forderungen. Beispielhaft ist das bei Großbritanniens Einmarsch in Ägypten zu sehen, wo man Zoll- und Finanzbehörden übernahm und die Einkünfte des Landes direkt in die Taschen der britischen Gläubiger leitete und das Land vor die Hunde gehen ließ. Ob das die Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit ist, die Hank vorschwebt? Griechenland erlebt derzeit mit der Troika die aktualisierte Version dieser Politik. 
Für Hank kann die Schlussfolgerung nur sein, dass die Staaten eine Austeritätspolitik betreiben und "ihre Ausgaben den Einnahmen anpassen" müssen. Nur darin sieht Hank eine Chance, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren; und folgerichtig sieht er auch den Wohlfahrtsstaat als den Bereich, der von der Austerität zurechtgestutzt werden muss, da er die Schulden der Industriestaaten überhaupt erst hervorgerufen habe. Diese Sicht der Dinge ist beliebt, aber die Schuldenkrisen des frühen 20. und des 19. Jahrhunderts zeigen deutlich, dass auch ohne Wohlfahrtsstaat Staatsbankrotte möglich und sogar wesentlich häufiger waren als heute. Als Anhänger von Austeritätspolitik und dem Stabilitätsdogma kann Hank hier kaum anders als zu kurz springen. Für ihn gibt es nur zwei Optionen, die hier gefahren werden können: entweder dem Austeritätsdogma entsprechend die Ausgaben zurückfahren, bis ein ausgeglichener Haushalt erreicht ist, koste es was es wolle (im Dienste des höheren Ideals der Rechtsstaatlichkeit, natürlich) oder einfach weiter Schulden machen, was seiner Meinung nach die logische Folge der zufälligen Mehrheitsdiktatur wäre. 
Er übersieht dabei aber vollkommen die dritte Handlungsoption (und sicherlich noch einige weitere): man kann auch die Einnahmen den Ausgaben anpassen. Für Hank möglicherweise völlig unvorstellbar ist es nämlich gerade nicht die Dikatur seiner zufälligen Mehrheit, sondern die Diktatur einer gar nicht so zufälligen Minderheit, die die verfahrene Situation mit eingebrockt hat. Um beim beliebten Beispiel Griechenland zu bleiben: vom laxen Umgang des Staates mit der Steuermoral profitierten zwar alle Griechen irgendwie, seine Millionäre aber doch deutlich mehr als die toten Rentenempfänger. Und bis heute gibt es in Griechenland bei aller Brachialkonsolidierung keine ernsthafte Belastung der Reichsten, die mit der der Mittelschicht oder der Armen auch nur ansatzweise mithalten könnte. In Italien und Deutschland selbst, in den USA und Großbritannien haben wir dasselbe Muster: einige reiche Partikularinteressen haben den Staat jahrelang als Geißel genommen und für seine eigenen Interessen eingespannt. Der große Erfolg des Mems von der schwäbischen Hausfrau und die generelle Begeisterung über Stabilitätspolitik hierzulande sollte Hank eigentlich verraten, dass seine zufällig-diktatorische Mehrheit eigentlich nicht Alleinschuldiger sein kann. Das aber spielt bei Hank alles keine Rolle.
Seiner Zielsetzung, am Ende die sich hemmungslos verschuldenden Staaten als Bösewichter stehen zu haben, fällt eine differenzierteres Bild zum Opfer. Wo Steingart wenigstens noch das Verdienst zukommt, die unheilige Allianz von Politik und Hochfinanz anzuprangern, fällt Hank in das alte Erklärungsmuster von sich verschuldendendem Staat und dem davon seltsam losgelösten Markt zurück. In seiner Vorstellung besteht zwischen beiden Seiten eine vertragliche Bindung über ein Geschäft, und alle anderen Interessen sind scharf von einander getrennt, verfolgt der Markt doch eine rationale Profitmaximierungsstrategie, während die Politik einzig dem verderblichen Einfluss der Massen verpflichtet ist. Diese Sicht ist bestenfalls naiv, aber eigentlich nur falsch. Markt und Politik sind auf zahllose Weisen miteinander verknüpft und vernetzt und nehmen aufeinander Einfluss. Hanks Sichtweise vielleicht wirklich nicht postdemokratisch. Sie ist eher prädemokratisch. Seine Befürchtungen vor einer Diktatur der Masse erinnern frappant an die Befürchtungen der Protagonisten liberaler Staatswesen im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, die im Einfluss der Masse den Untergang des Abendlandes vermuteten und eigentlich hinreichend widerlegt wurden. Derzeit aber feiert diese Sicht fröhliche Urständ und glaubt, in den Märkten einen Verbündeten gefunden zu haben, der den wildgewordenen demos zur Vernunft zwingt. Diese Sicht ist auf gefährliche Weise falsch.

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