Tricksereien bei der Einkommens-Analyse

Heute gibt es mal wieder Statistik: Die Bundesagentur für Arbeit hat im Rahmen einer umfangreichen Einkommens-Analyse ausgerechnet, dass das mittlere Einkommen einer Vollzeitkraft mit einem Zeitarbeitsvertrag im Jahr 2009 gerade einmal 1393 Euro im Monat betrug. Da ist man schon versucht „betrug“ groß zu schreiben: 1393 Euro und zwar brutto, inklusive aller Zuschläge. Das ist ungefähr die Hälfte dessen, was reguläre Arbeitskräfte in der Industrie verdienen, die eine vergleichbare Ausbildung wie die Zeitarbeiter haben. Auch unqualifizierte Festangestellte verdienen in der Regel noch deutlich mehr als qualifizierte Zeitarbeiter. Das erklärt natürlich, warum Zeitarbeit für Unternehmen so interessant ist. Der Anteil der Geringverdiener ist unter denen, die überhaupt noch Arbeit haben, laut BA inzwischen auf mehr als 20 Prozent gestiegen.

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Photo: andygee1

Bekannt gewordene Skandale systematischen Lohndumpings bei Discountern und Billigketten wie Lidl und Kik oder bei Pflegeeinrichtungen wie der Diakonie sind dabei ja nur die Spitze des Eisbergs. Ganze Branchen wie Gebäudereinigung, Wachschutz, Gastronomie existieren nur dank Niedriglöhnen. Dazu kommt noch diese ganze 1-Euro-Job-Sphäre, in der die 1-Euro-Jobber keineswegs nur „zusätzliche Arbeiten“ erledigen, sondern reguläre Jobs, für die kein Unternehmer und auch der Staat nicht mehr entsprechend bezahlen will.

Natürlich kann man Statistiken auch anders lesen: Das Roman-Herzog-Institut, benannt nach dem Bundespräsidenten mit dem gewissen Ruck, behauptet, dass es weiterhin eine starke Mittelschicht geben würde und der soziale Aufstieg in die Mittelschicht auch weiterhin möglich sei. Grundlage dafür ist eine Studie mit dem Titel „Mythen über die Mittelschicht“, die das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) für das Roman-Herzog-Institut erstellt hat.

sehr blauäugig: Ausschnitt aus dem Titel-Blatt der Studie des Roman-Herzog-Instituts

Sehr blauäugig: Ausschnitt aus dem Titelblatt der Studie Mythen über die Mittelschicht.

Die IW-Ökonomen zählen alle Haushalte zur Mittelschicht, deren Einkommen zwischen 70 und 150 Prozent der mittleren Einkommen aller Haushalte beträgt. In Euro entsprach das 2009 einem Nettoeinkommen zwischen monatlich 860 und 1844 Euro für einen Singlehaushalt. Danach lag der Anteil der niedrigen Einkommen 2009 mit 21,7 Prozent nur um 0,7 Prozentpunkte über dem Niveau von 1993. Während des gesamten Zeitraums lebte also etwa jeder fünfte Bundesbürger von einem anerkannt niedrigen Einkommen. Die obere Einkommensschicht sei mit aktuell mit 16,8 Prozent ebenfalls sehr nah an dem Wert von 1993. Daher sei es ein Mythos, dass die Mittelschicht schrumpfe und die Einkommensunterschiede seit den 1990er Jahren wachsen.

Das sieht DIW-Forscher Markus Grabka anders. Es gebe eindeutige Belege dafür, dass die Einkommensschere auseinander ginge. Das Herzog-Institut habe pro Jahr nur ein Monatseinkommen angeschaut. Man müsse aber die gesamten Jahreseinkünfte betrachten, um Boni, Einmalzahlungen und Kapitaleinkünfte richtig erfassen zu können. Schaue man sich die Jahreseinkommen an, so zeige sich, dass die Realeinkommen der Ärmsten seit 1999 um zehn Prozent gesunken seien, während die Einkünfte der reichsten fünf Prozent um 23 Prozent gestiegen sind.

Auch in der DIW-Studie „Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert“ wird belegt, dass es einen deutlichen Anstieg des Anteils der unteren Einkommensgruppe gibt, und dass die mittlere Einkommensgruppe, deren Gewicht in der langen Periode seit dem Zweiten Weltkrieg enorm zugelegt hat, Verlierer bei den Umschichtungen der Einkommensverteilung insbesondere im letzten Jahrzehnt ist. Aus dieser Gruppe zwar sind einige in die obere Einkommensgruppe auf-, aber sehr viele in die untere Einkommensgruppe abgestiegen.

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, warum der Regierung (und der Wirtschaft) so dermaßen wichtig ist, dass möglichst jeder irgendwie noch zu Mittelschicht gehört oder wenigstens gehören könnte. Die Antwort liegt nahe: Die Mittelschicht wird gemeinhin als die tragende und stabilisierende Kraft für unsere Gesellschaft betrachtet. Die Mittelschicht gehört klassisch weder zur Klasse der Kapitalisten und Großbürger („die Wirtschaft“) noch zum Proletariat (je nach Betrachtungsweise „Arbeitnehmer“ oder „Prekariat“ oder beides), sondern rekrutiert sich aus dem, was einmal „Kleinbürgertum“ war, also Handwerker, Ladenbesitzer, Bauern, Beamte, also Leute, die mit der Welt im Großen und Ganzen zufrieden waren, weil sie ihr Auskommen hatten.

Die heutige Mittelschicht besteht aus hauptsächlich Normalarbeitnehmern, Beamten und Freiberuflern, die Parteien der Mitte, also CDU, SPD und Grüne wählen, Freiberufler wählen vielleicht auch mal FDP. Und das soll auch so bleiben. Wenn nun die Verhältnisse so sind, dass die Leute zwar durchaus noch Arbeit und Ansprüche, aber eben kein Auskommen mit dem Einkommen mehr haben, dann muss man ihnen beibiegen, dass das ja nicht daran liegen kann, dass die (von ihnen gewählte) Regierung nichts mehr für die Mittelschicht tun würde, sondern nur daran, dass sie, nun ja, halt persönliches Pech hatten. Aber dass genau das eben ein Grund mehr ist, um artig zu sein und seine Pflicht zu tun, denn es geht doch allen gut hier im Lande. Jedenfalls theoretisch.

Wie das praktisch aussieht kann man unter anderem auf einer sicherlich sehr interessanten Veranstaltung zum Thema „Das Proletariat: 
Der Aufstieg des Arbeiters zum Bürger ist ans Ende gekommen“ am 25. Januar erfahren. Dr. Peter Decker wird um 18:30 in der Humboldt Universität in Berlin darüber sprechen, wie der Erfolg und der Reichtum unserer Nation aus den Arbeitskräften im Land herausgeholt wird, die nun zwar nicht mehr Proletariat genannt werden (wollen), sich aber noch immer am unteren Ende der ökonomischen Verwertungskette befinden. (Humboldt Universität, Hauptgebäude Unter den Linden 6, Berlin. Raum 3094/3096)


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