Traurigkeit, nicht Trauer

Was wir dieser Tage verstärkt erleben, ist die übliche Massentrauerkultur, wie sie bereits seit Jahren modern ist. Momentan herrscht Rückblick auf Duisburg und man trauert mit Norwegen. Da sind gigantische Menschentrauben auf Straßen, weinen, gedenken, erinnern sich an Menschen, die sie nie kannten und die sie vermutlich nie kennengelernt hätten.

Trauer ist massiv ins Gedächtnis einbrechende Erinnerung an einen entschwundenen, beziehungsweise verstorbenen Menschen, der Schwall an gemeinsamen Augenblicken, die man mit ihm hatte, die einen mit ihm verbinden. Trauer ist das persönliche oder fast-persönliche Band (man kann auch um einen Künstler trauern, dessen Werk man genoss und von dem man sich einbildete, ihn deshalb gut zu kennen - obgleich: diese Trauer ist kaum die intensive Trauer naher Angehöriger) das zwischen auseinandergerissenen Menschen gespannt wurde und nun durchschnitten ist. Trauer ist deshalb nur persönlich möglich. Sie kann nur von Menschen geleistet werden, die dem Verstorbenen nahe standen, die dessen Denkweise, dessen Interessen, dessen Leidenschaften und Schwächen kannten. Um einen Menschen zu trauern, den man nicht kannte, ist daher nicht möglich. Der Tod eines Unbekannten, zumal aus der Ferne betrachtet, nicht leibhaftig beiwohnend, als der Tod anstelle des Lebens trat, kann betrüben, macht sicherlich traurig - das ist nur menschlich. Dann kann man ein Weilchen traurig sein, landet deswegen aber nicht im tiefen Tal der Trauer, aus dem man üblicherweise erst nach Monaten oder gar Jahren wieder heraussteigt.

Was wir derzeit und regelmäßig immer wieder beobachten, hat mit Trauer nichts zu tun, auch wenn die Redenschwinger dieser medial gelenkten Massentrauergemeinden, gerne davon sprechen, dass sie "mit den Hinterbliebenen trauern" - das würde aber bedeuten, sie nehmen an einem längeren Prozess des Erinnerns und Verarbeitens teil, versuchen der Flut an Bilder im Kopf Herr zu werden, die ein Trauernder zu verdauen hat. Daran kann man aber nicht teilnehmen, wenn man den Verstorbenen gar nicht kannte. Wo kein persönliches Band, da keine Trauer, da ist nur bestenfalls temporäre Traurigkeit, die man nach einigen Augenblicken abstreifen kann wie eine Schlangenhaut. Wie sollte man sich denn unbekannterweise auch einfühlen, wie Erinnerungen an einen Menschen wachhalten, dem man nie begegnet ist?

Was praktiziert wird ist eine kurze Weile der Solidarität, die man optimistisch (oder pessimistisch?) Trauer nennt. Die massenkonforme Trauer ist zum Event geworden, zum lenkbaren Massenspektakel, um einen Augenblick lang eine Welle der Wärme und Zuneigung zu schaffen, die traurige Ereignisse zumutbarer erscheinen läßt. Und natürlich ist es Betroffenheit. Betroffenheit, weil man sich vorstellt, man hätte selbst betroffen sein können. Wenn man überhaupt trauert, dann weniger mit den unmittelbaren Hinterbliebenen der Toten, als mit sich selbst, der man ja auch Hinterbliebener ist, wenn auch nur am Bildschirm - hinterblieben mit der Gewissheit, dass man selbst hätte tot sein können. Die verständliche, aber kurzlebige Traurigkeit vieler Menschen, aufgebauscht zur inbrünstigen Trauer, das ist es, was medial publiziertes Anteilnehmen so unerträglich, ja so peinlich werden läßt. Wie Zeitungen und Fernsehen übertreiben, die Trauer regelrecht beschwören und den Begriff an sich aushöhlen, das ist schon aller Unehren wert. Und mit journalistischem Benehmen hat das auch nichts zu tun.

Es ist nicht Aufgabe des Journalismus, die Trauer zu beflügeln, sie anzufachen, um Bilder verheulter Gestalten oder hysterischer Menschenmassen, die Blumen und Teddybären an öffentlichen Plätzen niederlegen, zu knipsen. Auch Ereignisse wie jene in Duisburg oder in Norwegen, sollten mit Abstand, mit kühlem Kopf und Sachverstand abgehandelt werden. Der Journalist ist kein Trauerbeauftragter und die Trauer soll er denen überlassen, die wirklich trauern können: denen nämlich, die direkten Kontakt zu den Getöteten hatten. Die Trauer den Seelsorgern! Kollagen, in denen das Leben getöteter Personen mit Bildern, Erzählungen und Beschreibungen nachzeichnet wird, macht die wirkliche Trauer ebenfalls nicht gangbar - Traurigkeit kann sich freilich einstellen, aber man rutscht nicht ab, verkriecht sich deshalb nichts ins Bett, ißt weniger oder gar nichts, weint fortan, sieht kein Licht mehr. Kurz, man trauert auch dann nicht wahrhaft, wenn der Journalismus arg auf die Tränendrüse drückt.

Das was Trauer üblicherweise bedeutet, das kann der Journalismus nicht herbeiberichten. Er kann nur die Traurigkeit, die ein mitmenschlich fühlendes Wesen empfindet, zur Trauer umdeuten, um damit ein Publikum zu bedienen, dass so süchtig nach trauernden Menschenaufläufen ist, wie nach emotionalen Augenblicken im Sport. Kurzum, wer behauptet, er trauere nun, weil dies oder das irgendwo in der Welt geschehen ist, fernab seiner eigenen Wirklichkeit, der schwindelt entweder, oder er hat keinen Begriff davon, was Trauer eigentlich bedeutet...


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