Traumanovelle

Eine der wiederkehrenden Fragen der Menschheit ist jene, was man mit denen anstellt, die die Brutalität und die Gräuel des Krieges über einen längeren Zeitraum über sich haben ergehen lassen müssen. Modern gefragt: Wie reintegriert man Traumatisierte wieder ins Gemeinwesen? Sterbende Menschen, Feuer, erloschene Schicksale und Verwüstungen – all das macht ja was mit einem. Traumata sind mannigfaltig. Manche ziehen sich zurück, werden schweigsam. Andere bemessen dem menschlichen Leben und der Würde keinen Wert mehr. Sie werden Zyniker am Nächsten, erblicken bloß noch Organismen, die eben verenden, wo andere Mitmenschen sehen würden. Das Problem ist so alt wie die Zivilisation. Gelöst hat man es jedoch selten. Die psychologische Aufarbeitung von Traumata ist aber auch noch ein relativ junges Fach. Heute haben wir es in der Hand.

Cäsar musste seine Veteranen mit Land entschädigen, um sie bei Laune zu halten. Frankenkönig Karl zog, wie viele Regenten und Krieger, von Feldzug zu Feldzug, auch um keine marodierende Gruppe kriegssozialisierter Männer im Reich erdulden zu müssen. Der Dreißigjährige Krieg traumatisierte (mehr als jeder Krieg zuvor) auch die Zivilbevölkerung. Zumindest auf deutschen Boden. Nach Jahrzehnten des Blutes und des Hungers, des Brandschatzens und des Kannibalismus, des Vergewaltigens und der Seuchen, war das Leben nicht mehr dasselbe. Es gibt natürlich keine Erhebungen, doch unzählige Berichte, wonach das Trauma noch viele Dekaden anhielt. Mancher Historiker erging sich gar in der Behauptung, dass diese Ära den deutschen Nationalcharakter geprägt habe wie keine andere. Allerdings führt jene These an dieser Stelle etwas zu weit.
Nach dem Ersten Weltkrieg war Deutschland voller junger Männer, deren Schule der Schützengraben war und deren Lehrmittel der krepierende Kamerad an der Seite. Diese Männer wirkten mit an der Zersetzung der Weimarer Republik, prügelten sich durch die Straßen deutscher Städte, wurden Corpsmitglied oder landeten gleich bei der SA. Diese Gruppierung, die durch den Krieg traumatisiert menschlicher Regungen verlustig wurde, war die Basis von Hitlers Erfolg. Anderes Beispiel: Vietnam-Veteranen griffen zur Flasche, neigten zu familiärer Gewalt oder wurden gelegentlich zu Amokläufern. Die Litanei könnte ausladend ergänzt werden. Jede Episode zeigt, dass der Krieg traumatisiert und Menschen zurücklässt, die verlernt haben in menschlichen Kategorien zu empfinden und je nach Traumatisierungsgrad mehr oder weniger »gewaltbereit« (auch und vor allem im Sinne von »ohne Respekt vor menschlicher Würde«) sind.
Über die Verfassung von Menschen, die den Schrecken des Zweiten Weltenbrandes erlebt haben, gibt es keine Evalution. Nur Erzählungen. Der Historiker Sönke Neitzel sagte unlängst in einem Interview, dass das Leben danach weiterging und keine »traumatisierten Zombies« durch das Land liefen. Aber das darf bezweifelt werden. Alleine der Umstand, dass er Traumata für die psychischen Auswüchse von Untoten hält, zeugt von seinem Anspruch. Es gab in jenen Jahren sicherlich verstärkt häusliche Gewalt, versteckte Übergriffe und Aggressionen. In den Schulen hielt man es ähnlich. Der Ausbruch der 68er-Generation hatte unter anderem auch mit solchen Erlebnissen in der Familie zu tun; daher erspähten die jungen Leute zum Beispiel eben auch in der Familie die Keimzelle gesellschaftlicher Gewalt. Die Kommunen sind die Folge traumatisierter Haushalte. Zudem wird von regem Alkoholismus berichtet. Zum Psychologen wäre man ohnehin nicht gegangen. Es gab ja auch wenige ärztliche Niederlassungen dieser Art. Außerdem wollte man nicht als Spinner gelten. Man verdrängte und der ökonomische Aufschwung half dabei mit, die erlittenen Qualen zu kanalisieren, sie durch ein Konsumsurrogat zu ersetzen. Der Rest ist Erzählung, ist Leiche im Keller mancher Familie. Es wurde nicht darüber gesprochen. Das war Zeitgeist, auch über dem Teich. In »Die besten Jahre unseres Lebens« von William Wyler kommen US-Soldaten zurück nach Hause und erzählen nichts, trinken nur oder sind seelisch mitgenommen. Und deren Frauen machen auch einfach weiter und werden nicht damit fertig, dass ihre Männer sich völlig verändert haben.
Vor einigen Jahren allerdings verbreiteten einige Medien neue Erkenntnisse aus Erhebungen. Viele ältere Menschen der Kriegsgeneration würden an den Folgen jener Ära noch immer leiden, hieß es da. Vielleicht brach da nur endgültig hervor, was man über Jahrzehnte verborgen hielt. Aber das ist nur Spekulation, Zahlen gibt es wie gesagt nicht. Es gehört aber zum Erfahrungsschatz der Menschheit, dass es nach erlebten Gräueln für die Menschen nicht einfach weitergeht.
Nun sind wir bei den Menschen, die zu uns kommen und von denen man sagt, dass sie sich seltsam benehmen würden. Seltsam, weil sie respektlos seien. Gegenüber Frauen und Männern. Gegenüber menschlicher Würde an sich. Menschenrechte fielen ihnen schwer. Die Vorwürfe sind Legion, sind emotionalisiert und vieles davon mag in seinem Detailreichtum nicht zutreffen. Aber ansatzweise mag da Wahres beinhaltet sein. Dass es schwierig ist, etwaige Menschenrechte verinnerlicht zu haben, wenn man fortwährend in einem Szenario lebte, in dem es Menschenrechte nicht gab, in dem jegliche Rücksichtnahme auf Menschlichkeiten verworfen wurden, müsste mit weitaus mehr Empathie für die Geflüchteten wahrgenommen werden. Die Historie lehrt uns – wie gesagt -, dass von brutaler Gewalt Traumatisierte nicht ohne Weiteres integrierbar sind.
Die psychologische Betreuung in den Flüchtlingsunterkünften ist marginal, herrscht teilweise gar nicht vor. Die Gelder, ohnehin knapp bemessen, können weitestgehend nur die materielle Not eindämmen. Fachliche Unterstützung bei der Verarbeitung von Kriegserfahrungen wäre - wenn wir schon diese leidige Debatte über Flüchtlinge führen müssen, denen wir jedwede Empathie absprechen – eine erste Maßnahme, um traumatisierte junge Leute integrierbar und ihnen den Respekt vor dem menschlichen Leben und das Grundrecht auf körperliche und psychische Unversehrtheit kenntlich zu machen. Man sucht zwar unter Studenten Hilfskräfte, die auch die psychische Verfassung abfedern sollen. Aber den jungen Leuten fehlt es an Erfahrung und Praxis, um sich dieser kolossalen Aufgabe stellen zu können. Denn manchen der Geflüchteten müssen soziale und universelle Konventionen nicht etwa neu beigebracht werden, sondern sie müssen sie überhaupt erst erlernen. Wer seit dem Teenageralter Kriegserfahrungen machte, der kennt keine andere geistige Schule als Hunger, Angst und Gewaltexzesse, dem lehrt das Leben schnell, dass Egoismus, Wegschauen und Gegengewalt funktionierende Überlebensstrategien sind.

Was die Geflüchteten hier im Exil erwartet ist das Gegenteil von Respekt. Sie werden kriminalisiert und werden von einem großen Teil der Öffentlichkeit als Schädlinge bezeichnet und behandelt. Rechte Schlägertrupps und anonyme Brandstifter machen ihnen das Leben schwer und lassen sie nur schwerlich zur Einsicht geraten, dass es hierzulande ein anderes Konzept von menschlicher Würde gibt, als jenes, dass sie kennengelernt haben. Sie sehen in gewaltbereite Gesichter, sollen aber gleichzeitig einsehen, dass manche ihrer »gewaltbereiten« (vor allem im oben genannten Sinne) Anwandlungen völlig falsch sind in dieser Gesellschaft.
Jeder von uns ist Produkt seines Umfeldes, ist geprägt von Erlebnissen und Erfahrungen, von Eindrücken und den Ängsten, denen man uns aussetzt. Nicht jeder entwickelt dieselben Überlebensstrategien und mentalen Selbsttäuschungen, um durch eine schwere Zeit zu kommen. Manche ziehen sich zurück, andere werden aggressiver. Was bedeutet, dass nicht jeder Geflüchtete potenziell gewalttätig ist. Doch auch die stillen Traumatisierten benötigen die Schaffung von Vertrauen in ein Menschenbild, das nicht von Gewalt dominiert ist, um zu genesen und um als Bürger mit sensibilisierter Wahrnehmung ankommen zu können.
Stellen wir uns nur mal vor, dass der Streit um das Menschenbild, in den wir schlittern, den neue Rechte gegen Demokraten und Linke führen, irgendwann in ein Patt gerät, die Gemüter weiter erhitzt. Stellen wir uns vor, wir verlieren die Fassung und geraten in eine Auseinandersetzung, die irgendwann in Straßenkämpfe und dann in einen Bürgerkrieg führen. Aus dem besorgten Bürger würde ein bewaffneter Bürger. Aux armes, citoyens / Formez vos bataillons. Frankreich jedenfalls würde schnell fallen, auch die dortige Gesellschaft wankt zwischen Weltbildern. Und dann erleben wir das in Zentraleuropa drei Jahre lang. Unsere Kinder kennten nur Krach, blieben den Schulen fern, sähen oft Blut, viel Feuer und manchen Toten auf der Straße. Sexuelle Gewalt wäre keine Seltenheit, wie in jedem Krieg. Wo wir uns noch Jahre zuvor empört hätten, stumpften wir ab. Wir stumpften ab, um mental überleben zu können. Und dann wird der Druck unerträglich und wir flüchten, kratzten unser letztes Geld zusammen, um die Schlepper bezahlen zu können, die uns über die Ostsee nach Norwegen brächten.
Man kesselte uns in Unterkünften ein und begrüßte uns mit Breivik-Plakaten, die die Sehnsucht nach Reinigung von fremden Elementen preisgäben. Ständig fürchteten wir, dass man uns zurückschicken könnte. Und wir spürten, wie unsere Kinder den Krieg in ihrem Benehmen hätten. Wir allerdings auch, nur nicht so ausgeprägt. Jugendliche Flüchtlinge aus Deutschland machten abends, was sie gelernt haben im Krieg: Sich nehmen, was man bekommen kann, was man will. Und die Norweger kriminalisierten uns und wollten schnelle Abschiebung, die Ausschaffung in eine Gegend, in der wir jede Minute dem Tod ausgesetzt sind. Und in einem solchem Klima aus Kriegserfahrung und Abschiebeangst, aus Kriminalisierung und Pathologisierung, aus Isolation und fehlender psychologischer Betreuung, sollen wir die Wesensmerkmale, die der Bürgerkrieg uns auferlegt hat, einfach wieder und ohne psychologische Betreuung ablegen?

wallpaper-1019588
Ikoku Nikki: Anime-Adaption angekündigt + Teaser
wallpaper-1019588
#1508 [Review] Manga ~ Spring, Love and You
wallpaper-1019588
Monogatari Series Off & Monster Season: Starttermin bekannt + Trailer
wallpaper-1019588
[Comic] Sandman Albtraumland [2]