"Transit" [D, F 2018]


Wenn Geschichte in die Gegenwart hineinwirkt, dann erinnert sie uns fatalistisch an die Erschütterungen einer grauen Vorzeit – Narben, die nimmer verheilen, verheilen wollen. Christian Petzold verschiebt das Vergangene nicht in das Historische, entmündigt es nicht mit einem Schlussstrich. Das ist das Übergreifende seines Films "Transit". Er verlegt stattdessen den gleichnamigen Exilroman von Anna Seghers in das heutige (Exil-)Marseille, und damit ist "Transit" zwar eine Geschichte über Geflüchtete und Flüchtende, aber keine historisch gebundene Erzählung Geflüchteter und Flüchtender während des Zweiten Weltkriegs. Petzold erweitert, "universalisiert" quasi Seghers' gefühliges Stück Zeitgeschichte zu einer aktualisierten Parabel der Unsichtbarkeit inmitten der Bedrohung. Geschichte ist in "Transit" narrative Identität, Wiederherstellung und Dekonstruktion von Zeit gleichermaßen – für Petzold ist jener historische Spielfilm abgeschlossen, der von Kolorit und Kokolores benebelt scheint und nicht danach fragt, warum wir uns dieser Zeit immer wieder stellen und wie sie unser Heute prägt, ja im Hier und Jetzt fortlebt. 
Franz Rogowski spielt Georg, der an die Hinterlassenschaften des (toten) Schriftstellers Weidel gelangt und sich fortan in (s)einer Geschichte bewegt – in seinem Leben, in seiner Biografie, in seiner Zeit. Und diese Zeit ist gleich gegenüber der vergangenen Zeit. Georg, ein Aussätziger "minderen Rechts", taumelt darin, läuft Gefahr, aufgesammelt und abgeschoben zu werden. Immer der Blick nach draußen und nach hinten, durch das Fenster, über die Schulter. Er wartet auf das Schiff, um mit diesem nach Mexiko zu entkommen. Die Parallelen zwischen der nackten Existenz im Faschismus und der nackten Existenz in vorübergehenden Auffangstationen, die kurzzeitig Asyl gewähren, sind frappant: Obwohl Rogowski seine Figur mit einer sensiblen und außerweltlichen Müdigkeit überzieht (seine Stimme knarzt in den letzten Tönen der zu spät Gestrandeten), explodieren die Geräusche, Fanale des Bruchs und willkürlichen Einbruchs, umso schwerer. Das Blaulicht, aggressiv unterstützt es dessen durchdringende Sirenen. Georg wartet in einer existenzialistischen Nebengasse der Ungewissheit, in einem biopolitischen Raum passiver Entmachtung. 
Nichtsdestotrotz blühen die Geschichten dort, in Marseille. Georg hört sie ständig, Geschichten von einer eleganten Hundebesitzerin (Barbara Auer), von einem Dirigenten (Justus von Dohnányi), der Tag um Tag die geforderten zwölf Passbilder abzählt. Das Mittel gegen die Verlorenheit – es sind die Geschichten, die reinen und reinigenden, jene, die die Zeit überbrücken, ablenken, sich anvertrauen. "Transit" ist ein literarischer Film, denn auch dessen auktorialer Erzähler übt sich in Wörtern auslassender, vergänglicher Annäherung. Als Georg durch Zufall die Identität Weidels annimmt, gelangt er in eine Position, selbst zu einer Geschichte, zu einem Mysterium zu werden. Worin sich Petzold von anderen deutschen Filmemachern unterscheidet, liegt in seinem außergewöhnlichen Blick, der niemals die wachen Wahrheiten von Poesie und Empfindung untergräbt. Egal, ob Georg Pizza isst, mit einem neuen kleinen Freund (Lilien Batman) das Standbein beim Fußball übt, ein Radio repariert oder ein Lied der Kindheit gebrochen anstimmt – in "Transit" betonen die Dinge das Derzeitige, das erlebt werden muss, ehe es sich löst und verschwindet. 
Wenn "Transit" über das Warten erzählt, während das Schokoladeneis schmilzt, dann erzählt der Film gleichzeitig über die Ungeduld und Raserei, nicht mehr warten zu können. Paula Beer spielt Marie, die Ehefrau Weidels. Wo Georg die Strömungen der Niederlage(n) stumm erträgt, bewegt sich Marie vergessen durch die Zeit, nicht nur ein Schritt nach dem anderen, sondern Schritte überspringend. Sie wirbelt, macht Halt, fragt, drängt – sinnlich. Georg verliebt sich in sie, wohingegen sie auf ihren Mann wartet, ausharrt, es nicht mehr erträgt. Soll Georg ihr die Wahrheit sagen? Soll Marie mit Georg abreisen? Die Diskrepanz zwischen Täuschung und Verlangen mündet in einem unauflösbaren moralischen Konflikt, der einige andere Petzold-Filme zuvor (wie "Phoenix") charakterisierte. Die Heimat, was auch immer das sein mag, ist fremd geworden in diesem Film, da sie sich von Ort zu Ort weiterträgt, kurzfristig anbrandet, dann wieder zergeht. Voller menschlicher Anteilnahme, umhüllt Petzold das, was wir fühlen, in verwunschene Magie. Ein Meisterwerk.
8 | 10

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