Es sind die immerselben Postkarten, die Toskana-Reisende in die Heimat zurück schicken: Sanfte Hügel in pastellgrün, auf deren Kuppen stolz die Zypressem thronen – so als ob sie jemand mit einem Lineal abgemessen und zentimetergenau hintereinandergepflanzt hätte. Der Himmel stahlblau, der Klatschmohn knallrot. Das Frappierende daran ist, dass diese Motive keine seltenen Glücksschüsse darstellen, sondern dem Reisenden – sofern denn das Wetter mitspielt – an jeder Ecke in einer schieren Panorama-Ansicht geboten werden. Doch als sei die Lanschaftsästhetik allein nicht schon die Reise wert, gesellen sich zahllose kulinarische Genüsse den fast surreal erscheinden Momenten im Freien hinzu. In den kleinen Bergdörfern, die wie Schwalbennester in den grünen Berghängen klemmen, servieren Pizzerien, Trattorien und kleine Bars toskanische Hausmannskost, die für den geschmacksorientierten Toskana-Neuling die bezaubernde Landschaft zur Randnotiz verkommen lässt.
Wer die atemberaubend malerischen Hügel der Toskana erkunden will, muss der Mittelmeerküste den Rücken kehren. Von Grosseto, über die Via Aurelia kommend, dient die Kleinstadt Cecina als perfekter Startpunkt für eine Tagestour durch das toskanische Hinterland, das alles bietet, was eben erwähnte Postkarten versprechen. Erstes Ziel: Das Bergdorf Volterra, dessen Namen sich aus dem italienischen „voltare“ und „terra“ ableitet. Zusammengesetzt und übersetzt heißt das so viel wie „über der Erde fliegen“ und gibt dem keuchenden Touristen auf dem Weg nach oben in die Festungsstadt bereits einen subtilen Hinweis darauf, was ihn dort erwartet. Unser erster Halt zur Mittagszeit führt uns jedoch zunächst in ein unscheinbares Lokal am Straßenrand des Örtchens Saline di Volterra, am Fuße der historischen Stadt.
Das Ristorante „Afrika“ ist leicht zu übersehen – genau das was wir an diesem Tag suchen. Ein unscheinbares, authentisches familiengeführtes Traditionslokal mit kleiner Speisekarte. Der erste Eindruck: Keinesfalls altbacken, dennoch bodenständig. Auf der kleinen Terasse an der Hauptstraße bestellen wir Salat, der wie überall in Italien vom Gast selbst angemacht wird, dazu hausgemachte Cannelloni mit Ricotta und Spinatfüllung, Spaghetti all’Arrabbiata. Die Gnocchi mit Pesto sind aus, deshalb bietet uns die sympathische Wirtin Gnochetti al Ragù di Coniglio an – ein Highlight. Butterzarte Kartoffelteigbällchen mit einem Ragout aus Kaninchenfleisch, mild süßlich und mit feinem Wildgeschmack. Alles unaufgeregt serviert, ohne olles Balsamico-Geschnörkel, auf Tellern wie aus Omas Wohnzimmerschrank.
Unser Weg führt uns nun bergaufwärts, hinaus aus dem Dorf, hinauf nach Volterra. Die Hügel werden weitläufiger, in sanften Kurven winden wir uns dem ersten Ziel entgegen. Toskana-Feeling stellt sich jedesmal aufs Neue ein, wenn sich hinter einer Kurve wieder ein Panorama-Ausblick um einen Foto-Stopp bewirbt – und wir stoppen oft. Zu groß scheint uns die Gefahr den Schnappschuss des Tages zu verpassen. Rückblickend wird deutlich, dass selbst das beste Weitwinkelobjektiv den Gesamteindruck im Kopf nicht adäquat abbilden kann. Idyllisch, dem Auge schmeichelnd, wildromantisch, rückständig und doch in sich stimmig. Soviel sei gesagt: das Gesamtbild samt Stimmung in Worte zu fassen wird dem realen Eindruck bei Weitem nicht gerecht.
Volterra selbst versprüht noch immer den Charme einer alten Festungsstadt – wie so viele toskanische Bergdörfer. Ein Regenschauer zieht durch die Ebene, oben stehen wir im Trockenen und bestaunen, wie die Sonne die Regenschwaden sanft durchleuchtet. In der Hand haben wir Panforte, eine Mischung aus Müsliriegel, Früchtebrot und Lebkuchen. Wir testen uns doch das Sortiment, schmecken Feige, Zitrone, Orange, Weihnachtsaromen, Schokolade, Mandeln und Honig. Eine Spezialität aus der Provinz Siena, die sich vom Weihnachts-Schmankerl zur Ganzjahresnascherei gemausert hat. Süße Verzückung mit einem noch süßerem Ausblick über die Ziegeldächer der Stadt. Viel vom alten Prunk der Stadt ist erhalten, kein Wunder, dass die Regisseure der Twilight-Kinosaga den großen Platz im Zentrum als Residenz der Volturi-Familie auserkoren haben. In den Schaufenstern hängen Edward und Isabella, viele Touristen kommen wohl nur deshalb. Wer Volterra einigermaßen beschaulich erleben will, sollte deshalb unter der Woche kommen.
Das schönste Teilstück der Toskana-Tour liegt noch vor uns. Vom Shootingstar Volterra führt unser Weg zum Klassiker der Toskanastädtchen, San Gimignano. Im Nachmittagslicht leuchten die Felder entlang des Weges in pastelligen Farben – gelb, grün und beige. Die roten Klatschmohnblüten setzen brilliante Akzente – speziell für die Kameralinse. Wie eine Achterbahn schlängelt sich die Straße um die Hänge, kriecht den nächsten Hügel hinauf, wirft mit Aussichtspunkten nur so um sich und führt schnurstracks hinein nach San Gimignano, dieses kleine Städtchen mit den berühmten Geschlechtertürmen, das lange von Hügeln verdeckt liegt und sich dann urplötzlich vor uns auftürmt. Die Häuser aus Stein, verwinkelte Gassen, der obligatorische zentrale Platz mit seinen kleinen Bars, San Gimignano hat alles was man von einem toskanischen Bergdorf erwartet. Positiv wirkt sich die zunehmende Popularität von Volterra auf das Stadtbild aus – weniger Menschen bedeuten mehr Flair für die Gassen.
Die heimliche Diva der Toskana-Städte liegt jedoch etwa 100 Kilometer weiter südlich, in der Maremma, die nicht mehr mit der typisch weichen Landschaftszeichnung aufwarten kann, dafür jedoch mit Massa Marittima das wohl schönste Bergdorf der Gegend beheimatet. Wir besuchen die tradtionsreiche Stadt am frühen Abend, schlendern durch die belebten Gassen und landen schließlich auf der Plaza die Garibaldi. Ein Platz der durch seinen asymetrischen Schnitt, seine schepse Lage gerade seinen Reiz bezieht. Auf den mächtigen Treppen hinauf zum Dom stand einst schon Mutter Theresa und sprach zu den Menschen. Heute sitzen hier Fremde, Einheimische und italienische Touristen und blicken über die Weite, schiefe Fläche hinein in die kleinen Gässchen, die bereits im Schatten der Abendsonne liegen. Wenn die Dämmerung über Massa Marittima hineinbricht flackern die Gassen voll kleiner Lämpchen – die Szenerie wandelt sich schlagartig, Van Goghs Café bei Nacht taucht unweigerlich vor dem inneren Auge auf. Es lohnt sich, die Stadt bei Nacht von oben zu betrachten. Jede kleine Gasse zieht dann ihre Leuchtspur durch die alt-ehrwürdigen Gemäuer von Massa.
Während auf der Plaza di Garibaldi bereits die Jacken übergestreift werden, sitzen die Menschen etwa 100 Meter weiter unten noch im T-Shirt im Ristorante Le Mura. Wer einen Platz direkt an der Mauer ergattert, genießt während des Essens einen unverstellten Blick ins Tal, wo die Sonne dem bewaldeten Horizont entgegendriftet. Der Ausblick alleine zieht wohl einen Großteil der Gäste hierher - und das zu Recht. Das Essen ist teils begeisternd, teils zufriedenstellend. Toll waren die Crostini, die eindeutig unterschätzten Artverwandten der Bruschette. Geröstetes Weißbrot mit Aufstrichen aus Hühnchenleber, Steinpilzen, Fisch und Mozarella oder – ganz klassisch – Tomatenwürfel. Gerade die toskanische Paste aus Leber, Zwiebeln und Olivenöl blieb uns nachhaltig in Erinnerung. Und wenn wir schon bei Olivenöl sind: Wer in der Toskana urlaubt, der nehme sich doch bitte einen Sixpack des edlen Öls mit nach Hause. Reineres und grasig-wohlschmeckenderes Olivenöl findet man – so munkelt man – nirgendwo anders.
Die meisten Tage lassen wir uns die mediterrane Sonne auf den Pelz scheinen, in der Bucht zwischen Piombino und Punta Hidalgo. Im Dunst erheben sich am Horizont die Hügel Elbas, der Sand brennt beim Laufen unter den Füßen und wir versüßen uns die sonnigen Tage mit frischen Früchten von der stämmigen Frau, die mit ihrem Fruchtmobil den Strand abklappert. Im Ristorante El Pino gönnen wir uns mittags ab und an eine Portion Cozze, Miesmuscheln in Tomaten- oder Weißweinsud. Speziell der würzige, knoblauchige Tomatensugo, den wir bis auf den letzten Rest mit getrocknetem Weißbrot aufsaugen, macht uns glücklich. Wenn die Temperatur gegen 18:00 Uhr unter die 25 Grad Marke fällt, beginnt jeden Tag aufs Neue die Qual der Wahl der Essgelegenheit. Durch den Tipp eines Einheimischen entdecken wir das Ristorante “Mum and Dad” im Küstenörtchen San Vicenzo. Auf die Frage, ob wie draußen sitzen können führt uns die nette Kellnerin zielgerichtet in einen Vorraum mit breiter Glasfassade. Anfängliche Skepsis weicht überschwänglicher Euphorie, als wir die wilden Kreationen der Pizza-Karte entdecken. Die Wahl ist schnell getroffen, wir ordern Pizza Bianca – Pizza ohne Tomatensauce. Die eine mit Steinpilz-Trüffelpaste und Prosciutto, Nummer zwei mit Artischocken, Fisch, Feldsalat und Balsamico. Die verführerische Zutatenliste lässt uns das Wasser in den Mund strömen und wir werden nicht enttäsucht. Das Essen ist durchweg hervorragend, der Service überdurchschnittlich freundlich und gesprächig. So erfahren wir auch, dass der sperrige Name “Mum and Dad” auf die vorherigen Besitzer zurückgeht, eingeheiratete Engländer, die dem Restaurant – zumindest nominell – ein Stück Heimat anheften wollten. Das warume Kokossoufleé zum Dessert – etwas gänzlich untoskanisches – setzte dem hervorragenden Gesamteindruck das Krönchen auf.
Wer die Toskana kulinarisch tiefgreifend ergründen will muss viel Ausdauer mitbringen. Ein Muss für jeden Gernesser ist der Lardo – ein gereifter Speck, dessen durchgehend weiße Farbe bereits auf seinen fast 100prozentigen Fettgehalt hinweist. Doch weil Fett eben auch Geschmacksträger ist, transportiert der Lado das feine Aroma des Schweinespecks besonders in Kombination mit Weißbrot wie kaum eine andere Sorte Speck. Lardo ist in verschiedensten Qualitäts- und Preisklasse erhältlich. Spitzenreiter in allen Bereichen ist wohl der Lardo di Colonnata, der in einem kleinen Dorf nahe der Mamorbrüche von Carrara in großen Mamorsärgen mehrere Monate vor sich hin reift, bis er Gourmets aus der ganzen Welt mit seinem Aroma begeistert. Böse Zungen sprechen ihm eine gewisse Seifigkeit zu, wir konnten dieses Traditionsprodukt leider nicht testen und mussten und auf den Lardo aus dem örtlichen Supermarkt beschränken – der zumindest war lecker. Cantuccini, Ravioli, Parmesan, Wildschweingerichte, die Liste toskanischer Spezialitäten lässt sich noch weiter fortsetzen. Leider blieben uns letztlich nur 8 Tage. Tage, die unseren kulinarischen Horizont jedoch ein deutliches Stück erweiterten und die Gewissheit besiegelten, dass sich traditionelle Hausmannskost und gehobene Küche zwischen Ligurien und Umbrien sehr nahe kommen.
Weitersurfen!
- Von Grill-Gourmet und notorischem Schnorrer: Eine kleine Grill-Typologie
- Die Idee
- Italienische Cantuccini in hell und dunkel