Toiletten I

Und noch einmal.
“Molly-Schatz, geh nochmal auf Toilette, bevor wir losfahren!” – Dieser Satz, den ich wie wohl jedes Kind unzählige Male zu hören bekam, hat sich in mir eingebrannt. Und sorgt – wie bei vielen anderen auch – dafür, dass ich nicht nur vor jeder Autofahrt, sondern prinzipiell vor jedem wichtigen Anlaß ein paar Mal auf Toilette renne.
“Nur noch einmal, dann können wir los”, rufe ich Herrn L. zu. Er und die Kinder sind schon längst fertig und der Zug in Vollzivilistion wartet nicht.
Ich sehe mich in unserem Badezimmer um und vermisse es schon jetzt. Mein Zuhause und natürlich meine Liebsten.
Aber keine Zeit für Sentimentalitäten, die Uhr tickt!

Ich stehe mit meinen Liebsten im Bahnhof und lache.
“Ich glaub, ich gehe gleich nochmal auf Toilette!”, habe ich eben noch im Auto zu Herrn L. gesagt. Und habe dann spitzbübisch ergänzt: “So früh am Morgen sind die Bahnhofsklos ja sicher noch sauber!”
Jetzt stehe ich hier und die Toiletten sind ganz zweifellos blitzeblank, aber leider auch nicht zugänglich, da sie grade noch vom putzen trocknen müssen.

Ich überlege grade gegen all meine Prinzipien, auf die Zugtoilette zu gehen, als die Durchsage ertönt: “Sehr verehrte Fahrgäste, wir erreichen in Kürze mit zehn Minuten Verspätung den Umsteigbahnhof. Nicht warten konnten leider der Zug nach Irgendwo und der ZugdenMollynehmenwollte, wir bitten dies zu entschuldigen!” – “Alles klar, mach ich!”

Die Toilette der Sanitäranlagenfirma im Bahnhof ist hübsch sauber, aber ist das wirklich einen ganzen Euro wert? Die Drehschrankentür, die nach Münzeinwurf in den Kabinenraum führt ist so eng, dass ich mich frage, wie dicke Leute da durch passen sollen. Die Antwort ist einfach: Gar nicht! Auch mit meinem Gepäck habe ich Mühe, aber dann bin ich durch. Gut, dass ich es nicht eilig habe.

Die Toilette des bahnhöflichen FastFood-Tempels wird gut besucht. Weniger von Gästen, als von Leuten, die einfach wissen, dass es sie gibt. Ich kaue auf einem Burger, trinke einen Cappuccino. Telefoniere mit Herrn L. und den Kindern, die gerade eifrig das Mittagessen kochen. Ich sitze da und vermisse sie, aber gleichzeitig ist auch alles so schrecklich aufregend!
Als ich auch auf die Toilette gehe – “Molly-Schatz, geh nochmal auf Toilette, bevor wir losfahren!” – muss ich mich durch haarzupfende, nachschminkende, Oberteile zurechtzuppelnde oder einfach nur auf dem Smarttphone rumtippende und im Weh rumstehende Mädels durchkämpfen, um mir die Hände waschen zu können. Dann ein Tuch auf die Türklinke, Tür auf, mit Fuß fixiert, das Papier in den Abfalleimer geworfen und mit weitestgehend keimfreien Händen wieder raus.

Der Zug rumpelt und pumpelt mich durch den Osten Deutschlands und meine Blase jault auf. Die Toilette auf Weichen scheint unausweichlich, aber wie könnte ich jetzt gehen, wo es so viel zu sehen gibt?
Flache, weite Ebenen. Vorbei an sonnengoldenen Weizendtoppelfeldern mit Wolkenschattenflecken drauf. Unendlich vorsichtige Hügel im Gras; man möchte sich die Hand eines Riesen wachsen lassen und darüber streichen …
Städte mit Kirchen und ausgebrannten Fabrikanlagen. Pastelbunte Fassaden neben kontrastkräftigen Farben. Glitzerspiegelriesenhäuser und schlanke, elegante Hochhausdamen, man sollte nicht meinen, dass die stehen könnten!
Und Leben, immer wieder so viel Leben: In Straßen, in Autos, in Häusern, in Einkaufsgeschäften, auf Parkbänken, hastig-eilig auf dem Weg irgendwohin.
Dörfer, Schienen, und dazwischen Schrebergärten, eine Lebensart, die mir so fremd ist wie ein Leben in einer Hochhauswohnung. Aber warum haben die Menschen keine eigenen Gärten, es ist doch so viel Platz?
Die verlotterten Wildgärten geplatzer Lebensträume neben liebevoll gepflegten und versatelliteten Miniaturparadisen.
Immer wieder kleine Seen, nicht viel mehr als Minipfützen für den Zeigefinger meiner Riesenhand, pitsch-patsch stippe ich ihn hinein.
Gar nicht gut, sagt meine Blase.

Ich habe nachgegeben. Gewackel, Festhalten, ausbalancieren. Erleichterung, dass ich Desinffektiontücher mithabe: Nicht die Nagelpfalz vergessen!
Als ich von der Zugtoilette komme und aus dem Fenster schaue, weiß ich endlich, was meinem Auge und meinem Herzen die ganze Zeit gefehlt hat: Deutschland, wo sind Deine Nadelwälder?
Weite, flache Ackerbauebenen. Dazwischen Dörfer mit Bäumen so fadenscheinig, man sieht sie kaum. Wie unfassbar leise und laut muss es in diesen Dörfern sein?
Aber im Frühling und Somer: Welche Pracht, welch ein Anblick müssen diese Weiten bieten, wie muss ein Dörfchen ausehen mit bunter Frühlingsblütenbaumpracht darin vor dieser unendlichen Himmelsweite?
Aber noch blüht und grünt nichts und meinem Gemüt fehlt das sattfarbene Türkisdunkel der immergrünen Wälder.

Wenn ich jetzt auf Toilette gehen würde … wäre das so ziemlich das Verdächtigste, was ich machen könnte. Der Fahrkartenkontrolleur hat das Abteil betreten und hat in seinem Berufsleben sicher schon hunderte Toilettenverstecker und Schwarzfahrflüchtlinge verfolgt.
Nein, keine Sorge: Natürlich fahre ich nicht schwarz!
Aber ich habe ein zuggebundenes Ticket (zu einem absoluten Sensationspreis!); da heißt es: Wenn ich durch Eigenverschulden den Zug verpasse, verliert das Ticket seine Gültigkeit!
Nur: Wie soll ich meine Unschuld bewesien???
Ich bin nervös, rutsche eine wenig mit dem Hintern hin und her. Meine Handflächen werden feucht: Was, wenn … Wenn … Ja, was denn überhaupt “wenn”??? Der Bahnmensch kann mich ja nun schlecht bei voller Fahrt rausschmeißen. Im schlimmsten Fall bekomme ich Ärger und muss 60 Euro Strafe zahlen. Nein, meine Angst gilt eher der Vorstellung, von jemandem angeschnauzt zu werden. Dass mich der Fahrkartennachgucker für einen fiesen, schlechten, kriminellen Menschen hält und mich vor versammelter Zuggastmannschaft zusammenbrüllt und ich in Tränen ausbreche …
OMG, wo bekomme ich eigentlich immer diese Horrorvisionen her???
Der nette Bahnmann nimmt mit einem Lächeln mein Ticket, unterbricht mein erklärendes Gestammele mit einem freundlichen “Ja, das hatten schon drei Leute hier, kein Problem!” und das war`s auch schon.
Auf Toilette gehe ich dann aber trotzdem.

Ankunft Hauptbahnhof Leipzig.
Kindergroße Stauneaugen: Ein Bahnhof wie eine Stadt!
Unfassbar schöne Fassaden, ich könnte, glaube ich, alles hier einkaufen, wass ich zum leben brauche.
Ich habe leider keine Zeit für PizzaHut.
Alles ist so groß, so unfassbar groß und wunderschön!
Aber wo geht es zum Messegelände?
Eigentlich muss ich ja gar nicht auf Toilette, aber wer weiß, wann die nächste kommt …?
“Molly-Schatz, geh nochmal auf Toilette, bevor wir losfahren!”
Nein, nicht jetzt!
Ich gehe hinunter, mit offenen Augen und offenem Mund, führe mich auf wie ein Touri und wisst Ihr was? Ich bin auch einer!
Ein freundliches Banner legt mir die Straßenbahn Nr. 16 ans Herz. Die steht draußen und es bleibt keine Zeit zu gucken, denn ich renne und renne und dann habe ich es geschafft und schnaufe und hibbele und schwitze in der Straßenbahn vor mich hin, voller Gepäck und voller Elend, weil ich auf einmal merke, dass ich ja ganz allein hier bin, in einer fremden Stadt, in der ich noch nie war, in der ich niemanden kenne, so weit weg von daheim. Und auf`s Klo muss ich auch!
Und dann sehe ich meinen ersten Cosplayer.
Und mir wird klar: Ich bin auf dem Weg zur Leipziger Buchmesse und Manga-Con, wow!!!!
Den Rest der Fahrt strahle ich vor mich hin.

Fortsetzung folgt.

(Nachtrag: Liebe Leser und Bloggerfreunde, ich bin fix und alle! Also sorry, dauert nochwas, bis ich Kommentare beantworte oderbei Euch wieder kommentiere!)


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