Third Culture Kids – der Verlust der Muttersprache

„Setz Dich, Emil“ … nichts passiert

„Sit down, Emil“ – schwupps, das Baby landet auf seinem Po und guckt erwartungsvoll nach dem Essen.

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Emil ist klein, erst ein Jahr alt und wird das Sprechen erst noch lernen. Anweisungen befolgen klappt aber schon gut. Allerdings nur auf Englisch.

Bei unserem Umzug nach Singapur vor 8 Monaten hatten wir ein Baby mit 6 Monaten und ein Kleinkind von 2,5 Jahren an der Hand. Der Größere zählte zu Hause in Hamburg die Treppenstufen bis 17 und sprach, so viel ein Zweijähriger halt spricht.

In Singapur angekommen wollten wir ihm den Einsteig erleichtern, hatten wir doch von Kindern gehört, die sich in sich selber zurückzogen oder zu stottern begannen, da niemand sie verstand. Die sich ob der Sprachbarriere insoliert fühlten.

Wir hatten ein Ziel: Bei seinem Start im Kindergarten, 3 Monate später, sollte er um Trinken, Essen oder eine neue Windel bitten und die wichtigsten Fragen der Erzieher verstehen können. Er sollte sich nicht separierter fühlen, als es in einer neuen Gruppe ohnehin der Fall ist.

Wir switchten also und sprachen jeden Satz mit ihm erst in Deutsch und dann in Englisch. So hörte er die neue Sprache täglich und sie war ihm nicht mehr komplett fremd.

Felix´ anfängliches „Nicht das sagen, Mama“, wenn ich Englisch sprach wurde schnell weniger. Und als nach einer Weile die ersten Babysitter bei uns aushalfen, während wir im Wohnungs-Besichtigungsmarathon feststeckten, sprach er zwar noch kein Wort, verstand aber zumindest ein wenig von der ihm fremden Sprache.

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Es dauerte Monate, bis wir das Gefühl hatten, dass er tatsächlich das Meiste verstand und die Sprache anerkannte. Dafür aber fing er vorerst an sämtliches Sprechen durch Beobachten zu ersetzen. Er machte einen Schritt zurück und ging in Wartestellung, sprach wenig. Auch in Deutsch. Wie wir hörten eine ganz normale Reaktion.

Im Dezember dann zog unsere neue Helferin ein, bei deren Auswahl wir darauf geachtet haben, dass sie nicht lediglich gebrochenes Philippino-Englisch spricht, sondern die Sprache wirklich fließend beherrscht und diese auch nahezu akzentfrei nutzt. Die Jungs werden viel Zeit mit ihr verbringen. Da ist ein gutes Vorbild auch sprachlich wichtig.

Mit ihrem Einzug stellten wir die Familiensprache fast ausschließlich auf Englisch um. Einerseits, weil sie verstehen muss, was wir gerade zu den Kindern gesagt haben, andererseits weil Felix nun viel verstand und wir das Nutzen der Sprache etwas beschleunigen wollten. Immerhin stand bald sein erster Kitatag an. Er sprach bereits erste Wörter und verstand „seine Auntie“ gut.

So sprachen wir also Englisch und er begann ebenso zu antworten.

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Die Kita und Felix hatten von Beginn an kein Problem sich zu verständigen. Er fand schnell seinen Platz in der Gruppe, konnte neue Freundschaften schließen und sich mit allen verständigen. Insgesamt sprach er insgesamt etwas weniger als die anderen seines Alters, was der Sprachumstellung zuzuschreiben und zu erwarten war.

Als wir von den ersten Bekannten aus unserem Wohnhaus hörten, dass der 5-jährige Sohn Deutsch zwar verstand, aber nicht sprach und auch die Tochter mit zwei Jahren sich nur in Englisch ausdrückte, wurden wir stutzig. Sprachen auch wir zu wenig Deutsch zu Hause? Würden auch unsere Kinder die Sprache verlernen?

Wir diskutierten und recherchierten, kamen allerdings wieder davon ab uns groß Gedanken zu machen, da einfach zu viele neue Eindrücke auf uns zuströmten und uns ablenkten.

Bei einem BBQ mit Nachbarn kam dann Wochen später erneut das Gespräch auf dieses Thema. „Sprecht zu Hause nur die Muttersprache“, so der O-Ton. Aber war das nicht falsch? Dieser Rat griff jedes Prinzip an, das ich lebte.

Verlangte nicht jeder in Deutschland von den Immigranten die deutsche Sprache zu erlernen und auch den Kindern die neue Sprache beizubringen? War es nicht notwendig im Rahmen der Integration auch zu Hause die Landessprache zu sprechen?

Hier waren und sind wir die Immigranten. Wir sind die Ausländer. Wir sind „die Weißen“.

Wie in Deutschland manchmal anstatt der Herkunft die Hautfarbe betitelt wird, so ist es hier mit uns nicht anders. Und es stimmt ja auch. Wir sind weiß. Die Helfer wollen gerne für „Weiße“ arbeiten.

Allerdings hat das Betiteln als „Weiß“ oder „Dunkel“ hier keinen rassistischen Hintergrund, wie etwa in Deutschland. Hier ist es einfach eine Feststellung. Bei dem multikulturellen Hintergrund in Singapur weiß man oft nicht, woher jemand konkret kommt. Zu vielfältig sind die Herkunftsländer. Kommt jemand aus Pakistan, den Emiraten oder Bangladesch? Steht vor mir ein Koreaner oder Japaner? Ist der Weiße da ein Franzose oder Deutscher? Häufig ist es einfacher die Information auf das herunter zu brechen, was man sieht. Und das ist halt manchmal die Hautfarbe. Ohne Wertung.

Singapur ist ein multikutureller Staat und stolz darauf. Singapur möchte und fördert diese Vielfalt. Und hier hat die Herkunft nichts mit der sozialen Schicht zu tun. In jeder Einkommensklasse gibt es Anteile fast jeder ethnischen Gruppe.

Und wie dieser Stadtstaat stolz auf seine Multinationalität ist, bin auch ich es. Ich bin froh in einer solch modernen Gemeinschaft leben zu können. Ich bin stolz darauf, dass es hier egal ist, ob ein Hindi, ein Moslem und eine katholische Philippina zusammen sitzen. Ich bin stolz, dass niemand schräg angesehen wird, nur weil er besonders weiß, besonders dunkel oder gelb ist; weil er einen Turban oder einen Schleier trägt, weil er viel oder wenig Haut zeigt.

Hier ist jeder gleich. Ja, es gibt Unterschiede in Lebensstilen der „Schichten“, aber keine begründet sich auf der Hautfarbe oder dem Glauben.

Und wie Singapur die Multinationalität seiner Einwohner fördert, so möchte ich die Offenheit und Toleranz meiner Kinder fördern. Ich möchte, dass sie sich integrieren in diese Gesellschaft der Unterschiede. Und das fängt für mich auch mit der Sprache an. Und die ist hier nun mal Englisch.

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Heute, 8 Monate nach unserer „Relocation“ stehen wir nun aber vor einem Problem. Und das ist hausgemacht. Emil hört nicht auf Deutsch. Und Felix? Er versteht uns, antwortet aber in Englisch und mischt maximal ab und an ein deutsches Wort unter. Er fragt auf Englisch, er spielt mit seiner Puppe auf Englisch.

Wir haben darüber nachgedacht, was die Nachbarn uns vor Monaten rieten. Sie haben Erfahrung. Die einen sind bereits 2x mit ihrem Kind interkontinental umgezogen. Die anderen leben seit Jahren in Singapur und mussten dem Verfall des Muttersprachschatzes ihres älteren Kindes zusehen.

Also wagen wir uns mal daran das Ausmaß einzuschätzen und testen:

  • „Felix, was ist das?“ Das Wimmelbuch liegt aufgeschlagen vor uns.
  • „Blossom, Tree, Flower, Car“ …
  • „Und auf Deutsch“ fragt Martin? Felix guckt seinen Papa an. Das Fragezeichen steht ihm ins sprichwörtliche Gesicht geschrieben.

Wir erklären: „Auntie, Auntie spricht Englisch. Papa und Mama sprechen Deutsch. Es gibt jedes Wort in Deutsch und Englisch.“

Zum Glück ist der Wissensdurst eines Kleinkindes extrem groß. So haben wir nun also sein Interesse und er geht das Buch neugierig mit uns durch.

Ich glaube dieser Moment war entscheidend. Es war wichtig und grundlegend für Felix, dass er verstand, dass wir nicht eine Sprache mit vielen Wörtern sprechen, sondern dass dies tatsächlich zwei Sprachen sind und jeder Gegenstand zwei „Namen“ hat. Einen für Auntie und seine Freunde, einen für Mami und Papi.

Immer öfter fragten wir nun also auch im Alltag, wie heißt dies, wie heißt das. Und wie wir zu Beginn zwei Sprachen parallel verwendeten, erfragen wir nun häufiger die deutschen Begriffe zu etwas.

Da er sich trotzdem weiterhin fast ausschließlich auf Englisch artikuliert, sind wir mittlerweile darauf umgestiegen zu Hause tatsächlich Deutsch als Familiensprache rückeinzuführen. Wir erklärten unserer Helferin das Problem, damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlt und wundert, warum wir so plötzlich vermeintlich nicht mehr „verstanden werden wollen“.

Fragt oder antwortet Felix uns nun auf Englisch, heißt es nur: „Hmmm, ich kann Dich nicht verstehen, sag es nochmal auf Deutsch“. Das läuft nun seit 3 Wochen und funktioniert immer besser. Wo er anfänglich einfach ein „Papa“ oder “ Mama“ vor den Satz setzte, diesen aber trotzdem auf Englisch fortführte, so fängt er wieder an, die Sätze auf Deutsch zu bilden. Noch braucht er viel Hilfe, saugt aber auch diese Sprache auf wie damals das Englisch. Er hat sie schon mal gesprochen, das macht es einfacher. Trotz Dessen bedeutet es tägliche Arbeit.

Und auch wir müssen uns immer wieder in Erinnerung rufen zu Hausse Deutsch zu sprechen. Insbesondere, wenn unsere Helferin in der Nähe ist. Grundsätzlich aber herrscht nun aber die deutsche Sprache wieder vor. Dies ist wichtig für Felix, der die Sprache auffrischen muss, aber besonders für Emil, dem sie sonst gänzlich fremd sein und bleiben wird. Für ihn wird es schwerer. Felix hat das Grundverständnis, konnte lange mit seinem Umfeld Deutsch sprechen. Für Emil jedoch ist es einfach normal, dass seine Freunde und alle Bezugspersonen -außer uns- mit ihm Englisch sprechen werden. Für ihn wird das von Anfang an seine Hauptsprache sein.

Wir versuchen nun also auch uns selber immer wieder in Erinnerung zu rufen, in unserer neu ernannten „Familiensprache“ Deutsch zu sprechen. Langsam wird es besser, langsam beginnt Felix zu differenzieren, wen er wie anzusprechen hat. Auch, wenn weiterhin der englische Sprachgebrauch in seinem Alltag Oberhand hat.

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Und die Integration?

Ich bin stolz, dass Felix mit anderen auf Englisch diskutiert und erzählt. Ich bin stolz über jedes neue englische Wort, das er beherrscht. Nach wie vor ertappe ich mich häufig, wie ich mit den Kids englisch rede… zu häufig. Aber ich arbeite daran. Denn ich weiß, wie wertvoll zwei Sprachen sind und ich weiß, dass die Kinder, sollten wir irgendwann einmal wieder nach Deutschland wollen, von dem Können und Wissen um ihre Muttersprache profitieren werden. Denn auch dort möchte ich keinen dann vielleicht 10-Jährigen vor mir haben, der sich aufgrund der Sprachbarriere ausgeschlossen fühlt.

Weiterhin bin ich aber der Meinung, dass die Sprache das Fundament jeglicher Integration ist und lege großen Wert darauf, dass die Kids Englisch mindestens genauso gut oder eher noch besser als die deutsche Sprache beherrschen.

Alles Weitere geben wir ihnen durch unsere Lebensart mit und leben ihnen vor, was Integration bedeutet.

Wir haben hier Freunde aus aller Welt, wir essen Essen aus aller Welt. Wir bewegen uns nicht in einem kleinem Kreis einer bestimmten ethnischen Gruppe oder Schicht. Wir integrieren uns. In jedem Bereich.

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Die Kinder besuchen eine gemischt lokal-internationale Schule, in der sie zwar nicht die einzigen Weißen sind, aber definitiv in der Unterzahl. Und genauso wenig wie die weiße Farbe, herrscht in dieser Schule irgendeine andere Farbe oder ethnische Mehrheit vor.

Da sind lokale Kids sowie Expatkinder aus aller Welt. Aber Felix sieht in ihnen nicht etwa Charlotte aus Korea, RayRay aus China oder Ayra aus Indien. Er sieht seine Freunde. Kinder, die wie er gerne draußen spielen, Kinder die ihre Tellerchen nach dem Essen in die Kita-Küche bringen und die gemeinsam mit ihm dem Unterricht folgen. Mathe oder Chinesisch Unterricht? Egal. Unterricht ist Unterricht und alles genauso normal, bunt und schön, wie es in einer Kinderwelt sein soll.

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Für die Jungs ist Singapur ihr Zuhause. Singapur ist unser Zuhause. Ob nun für 3 oder 13 Jahre ist dabei egal. Wir leben im Hier und Jetzt und unserem Alltag.

Der erste Schritt zur Integration ist ein neues „Zuhause“ anzuerkennen, offen zu sein und nicht immer einen Fuß im Herkunftsland zu halten. Immerhin nimmt dieses Land Dich auf. Die Menschen sind Dir gegenüber aufgeschlossen.

Natürlich wird Heimat immer Heimat bleiben. Seine Wurzeln sind nun mal das Fundament. Aber genauso kann eine weitere Heimat hinzukommen, wenn man ihr nur die Chance dazu gibt und sich selber darauf einlässt.

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Und wer weiß, vielleicht werden die Jungs die Frage nach ihrer Heimat später einmal mit „Singapur“ beantworten.

Wir hoffen aber ihnen vorleben zu können, dass Du dort zu Hause bist, wo Du lebst. Gehe jeden Schritt ganz und nie nur mit einem Fuß. Stehe mit beiden Beinen im Leben und integriere Dich in die Welt in der Du lebst.

Ob temporär als Expat für 2 Jahre oder ohne „Rückflugticket“ wie bei uns: Integration funktioniert nur, wenn Du das Land in dem Du lebst als Dein Zuhause anerkennst, wenn Du es genauso nimmst wie es ist, wenn Du nicht vergleichst und aktiv versuchst ein Teil von ihm zu werden.

Wurzeln? Die versuchen wir den Jungs mitzugeben. Ob und womit sie später das Gefühl der Heimat verbinden werden, können wir heute noch nicht wissen. Wir können ihnen nur die Sicherheit und Geborgenheit geben. Ein Zuhause. Egal, wo das ist und egal, welche Sprache dort gesprochen wird.

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