Mein liebes Tagebuch,
da liegt es nun vor mir. Das ausgedruckte Manuskript. Fast fertig. Ich habe es noch einmal Korrektur gelesen und ich kann nicht sagen, dass es sich richtig gut anfühlt. Eher wie Wasserlassen, wenn man unter einer Harnwegsinfektion leidet. Man ist froh, dass es vorbei ist, aber es brennt weiter nach.
Letzter Manuskript-Korrektur-Durchgang *will alles anzünden*
Ein von Familienbetrieb (@betriebsfamilie) gepostetes Foto am 7. Jul 2016 um 10:00 Uhr
Nach dem Lesen habe ich den Eindruck, etwas geschrieben zu haben, das die Untergrenzen von Banalität und Trivialität neu definiert hat. Am liebsten würde ich das Manuskript zerreißen, aufessen und anzünden. Und zwar genau in dieser Reihenfolge. Das ergibt zugegebenermaßen keinen Sinn, aber das trifft größtenteils auch auf den Text zu.
Wer kam überhaupt auf die wahnwitzige Idee, dass ich ein Buch schreiben soll. Meine Agentin Christine Härle? Oder Manuela und Chris vom Seitenstraßen Verlag? Und warum hat meine Frau mich dazu ermutigt, anstatt dieser Narretei einen Riegel vorzuschieben? Hasst sie mich etwa?
Lebten wir in den USA, könnte ich sie alle wegen seelischer Grausamkeit verklagen. Dann wäre ich Milliardär und müsste das Manuskript nicht mehr fertigstellen. Allerdings könnten mich in den USA auch die Leserinnen und Leser verklagen. Wegen gestohlener Lebenszeit. Da wäre das viele Geld wieder futsch.
Vielleicht sollte ich das Buch unter einem Pseudonym veröffentlichen, mein liebes Tagebuch. Am besten als Werner Broidel. Das war ein Klassenkamerad in der Grundschule, der mir meinen Walkman kaputt gemacht und nie ersetzt hat. Geschähe im recht, wenn die Leute denken, er hätte diesen Mist zusammengeschrieben.
Wenn ich mir das Manuskript so anschaue, frage ich mich, ob Sätze wie „Der ideale Partner im Kreißsaal ist also eine Mischung aus Butler, Physiotherapeut und Callboy.“ oder „Nervös und mit der feinmotorischen Fingerfertigkeit eines bulgarischen Kugelstoßers kleide ich das Kind an.“ überhaupt das Papier wert sind, auf dem ich sie ausgedruckt habe? Wohl eher nicht. (Und dabei habe ich schon das ganz billige Papier im Büro-Discounter gekauft.) Ohnehin habe ich ein schlechtes Gewissen, dass Bäume gefällt werden, um diesen Schund zu drucken. (Ich sollte im Sinne des ökologischen Ablasshandels eine großzügige Spende an den BUND überweisen. Und sicherheitshalber auch noch an Greenpeace und Robin Wood.)
Als hätte ich nicht schon genug Schaden angerichtet, muss ich nun aber sogar noch mehr Text produzieren, mein liebes Tagebuch. Manuela hat mir nämlich ganz nebenbei mitgeteilt, ich solle noch einen kleinen Epilog schreiben, der ausführt, was Schwangerschaft und Baby aus der Freundin und mir gemacht haben, wie wir uns vom Paar zu Neueltern entwickelt haben. Das müsse auch gar nicht lang sein, sondern einfach ein paar flotten Absätze, die das Buch abrunden und Lust auf mehr machen.
Schönen Dank auch! Schon die letzten Kapitel habe ich mir in einem körperlich wie geistig schmerzhaften Prozess abgerungen. Mir fällt absolut nichts mehr ein. Alle Sätze sind geschrieben, alle Wörter aufgebraucht und in meinem Kopf herrscht totale Leere. (Letzteres ruft Erinnerungen an frühere Chemie-Tests hervor. Das ist auch nicht schön.)
Was ist überhaupt ein Epilog? Hier macht es sich ungünstig bemerkbar, dass ich nur Deutsch-Grundkurs hatte. Und in diesem zumeist mit geistiger Abwesenheit glänzte.
Laut Wikipedia ist ein Epilog eine Schlussbemerkung am Ende eines literarischen oder rhetorischen Werkes. (Zwei Adjektive, die ich nicht unbedingt zur Charakterisierung meines Manuskripts verwenden würde.) Er soll eine Verständnishilfe sein und die Intention des Autors darlegen. (Dazu müsste ich ja erstmal selbst verstehen, was ich da geschrieben habe.) In dramatischen Texten sei ein Epilog ein gebräuchlicher Abschluss (Das einzig Dramatische an meinem Manuskript ist wohl die fehlerhafte Kommasetzung.) und soll Fragen beantworten, die im Buch offen geblieben sind.
Welche Fragen könnten das bei mir sein, mein liebes Tagebuch? Was ist das für ein Mensch, der so etwas schreibt? Warum hat ihn niemand daran gehindert? Ist Zensur per se etwas Schlechtes? Und warum verfügt der Seitenstraßen-Verlag nicht über einen Giftschrank, in dem das Manuskript unter Verschluss gehalten werden kann?
Außer über dem Epilog brüte ich schon seit geraumer Zeit über dem letzten Satz, mit dem das Buch enden wird. Der ist das Wichtigste im ganzen Buch, er wird den Leserinnen und Lesern im Gedächtnis haften bleiben. (Vorausgesetzt, sie lesen überhaupt so weit.)
Inzwischen verstehe ich John Irving, der sich immer zuerst den letzten Satz ausdenkt und dann den Rest seiner Romane schreibt. Zum Beispiel „O Gott – bitte gib ihn uns zurück! Ich werde niemals müde werden, dich darum zu bitten.“ in ‚Owen Meany‘. Oder „Bleib immer weg von offenen Fenstern.“ in ‚Hotel New Hampshire‘. Das sind ganz großartige letzte Sätze. Mir fällt aber keiner ein. Nicht einmal ein ungroßartiger.
Auf Twitter hat mir Olaf Kutzmutz „In der Ferne bellte ein Hund“ vorgeschlagen. Hört sich eigentlich ganz gut an. Meinen Gegenvorschlag „In der Ferne furzte ein Frettchen“ hat er trotz der hübschen Alliteration abgelehnt. Das klänge zu originalitätssüchtig. Nun gut, ich sollte auf ihn hören. Immerhin ist er Programmleiter Literatur bei der Bundesakademie für Kulturelle Bildung.
Ich könnte ja zum Schluss auch einfach mitten im Satz aufhören. Wie in ‚Das Schloss‘ von Kafka: „„Sie reichte K. die zitternde Hand und ließ ihn neben sich niedersetzen, mühselig sprach sie, man hatte Mühe sie zu verstehen, aber was sie sagte“
Das hat irgendwie etwas Genialisches. Zumindest bei Kafka. Bei mir hätte es wahrscheinlich eher etwas Gestörtes.
Aber alles Lamentieren nützt ja nichts, mein liebes Tagebuch. Da muss ich jetzt durch. Und die Leserinnen und Leser irgendwann auch.
In diesem Sinne: In der Ferne bellt ein Hund.
Verzweifelte Grüße,
Christian
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Alle Kapitel von „The Making of ‚Das Buch’“ gibt es hier.