Am 17. Oktober 2016 sendete die ARD den Film “Terror: Ihr Urteil” nach einem Theaterstück von Ferdinand von Schirach. Über den Film ist in der letzten Woche viel geschrieben worden: Er wurde rechtlich und moralisch bewertet, die Sendeanstalten wurden gescholten, der Ausgang der Abstimmung wurde beklagt. Doch am Ende bleibt immer eine unbeantwortete Frage übrig: Hatte der Bundeswehrmajor, der das Flugzeug abgeschossen hat, das mit 164 Passagieren auf dem Weg war, in die mit 70.000 Leuten besetzte Allianz-Arena zu stürzen, nicht recht? Hat er nicht genau das Richtige getan?
Der Film “Terror: Ihr Urteil” wollte von den Zuschauerinnen und Zuschauern wissen, wie sie entscheiden würden. Ein Flugzeug ist von einem Terroristen übernommen worden, an Bord 164 Menschen. Es fliegt auf die mit 70.000 Menschen besetzte Allianz-Arena in München zu, lässt sich nicht abdrängen und reagiert auch nicht auf einen Warnschuss. Ein Bundeswehrmajor ergreift die Eigeninitiative und schießt das Flugzeug kurz vor Erreichen des Stadions ab, entgegen dem ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten. Die halten sich nämlich an ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das 2006 entschied, dass ein Bundesgesetz keine Ermächtigung zum Abschuss eines solchen Flugzeuges geben könne, weil für das Grundgesetz jedes Leben gleich wertvoll sei. Die Zuschauer sollten, nachdem sie in einer fiktiven Gerichtsverhandlung die Fakten serviert bekamen, entscheiden, ob der Major wegen Mordes verurteilt werden sollte oder nicht. 86,9 % der Zuschauer entschieden mit nein, der Major hatte in ihren Augen richtig gehandelt. Was hätte er denn tun sollen? Hätte er einfach zusehen sollen, wie 70.000 Menschen starben, obwohl er die Möglichkeit gehabt hätte, es zu verhindern, nur weil ein in den Augen der Zuschauermehrheit weltfremdes Gericht Entscheidungen traf, die mit dem wirklichen Leben nichts zu tun hatten?
Lassen wir einmal außen vor, dass im Film schlichtweg vergessen wurde, das Stadion rechtzeitig zu räumen, und vergessen wir auch mal, dass die ARD den Fall zuspitzte, weil sich die Zuschauer aus Gründen der Spannung nur zwischen Mord und Freispruch entscheiden konnten. Tun wir mal so, als wären wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden, und die Zuschauer hätten nur zwischen richtig und falsch entscheiden müssen. Wäre dann nicht das Verhalten des Majors in jedem Falle richtig gewesen? Hätte er nicht völlig zurecht das kleinere Übel gewählt? Wenn ich mich entscheiden muss, 165 oder bis zu 70.000 Menschen zu opfern, für was entscheide ich mich dann in letztmöglicher Sekunde?
Die Antwort scheint klar: Jeder Mensch mit Verstand schaut nicht einfach zu, sondern greift ein, wenn er die Möglichkeit hat. Dem will ich auch gar nicht widersprechen. Die wichtige Frage für mich ist nun: Hat der Major damit rechtswidrig gehandelt und muss deshalb für schuldig befunden werden?
Vor 10 Jahren wollte die Bundesregierung in ein Gesetz aufnehmen lassen, dass es rechtlich in Ordnung sei, ein Flugzeug, das von einem Terroristen beherrscht wird, trotz der Unschuldigen an Bord abschießen zu lassen, bevor es durch ein Selbstmordattentat am Boden großen Schaden anrichten kann. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Bestimmung verboten, weil es der Meinung war, dass jedes einzelne Leben in jeder Situation gleich viel wert sei. Leben dürfe nicht gegen Leben aufgewogen werden, die Anzahl der gefährdeten Personen spiele dabei keine Rolle. Das mag vielen von Ihnen als weltfremd erscheinen, bis Sie selbst einmal in der kleineren Gruppe sind. Würden Sie in einem solchen Flugzeug sitzen, und würden Sie mitbekommen, dass auf Sie geschossen werden soll, würden Sie sich vermutlich nicht einfach in Ihr Schicksal fügen und es für richtig halten. Leben ist ein individuelles Gut, und das muss über allem stehen.
Nun sagen viele Leute, dass wir schließlich im Krieg gegen den Terror leben und daher solche Gutmenschenansichten weltfremd und unsinnig seien. Dem widerspreche ich vehement: Wir leben in keinem Krieg. Unser Land wird nicht von Militärs angegriffen, sondern höchstens von ein paar Terroristen, die es immer und zu jeder Zeit gibt. Wir würden, und damit komme ich auf den Kern meiner Meinung, unsere grundsätzlichen Werte immer und für alle Zeiten aufgeben, wenn wir sie wegen jedes Terrorangriffs beiseite schieben. Im Abwehrkampf gegen den Terror leben wir immer, auch schon in den siebziger und achtziger Jahren gegen den Terror der RAF. Es gäbe immer gute Gründe, mehrere Leben für wichtiger zu halten, als wenige Leben.
Aber, so werden manche von Ihnen wissen wollen: Was wäre schlimm daran? Hätten wir eine solch klare Regel, wüsste jeder, was er oder sie in einem solchen Moment zu tun hätte. Das Problem ist, dass wir dann jedes mal neu entscheiden können, welches Leben mehr wert ist als das andere oder die anderen. Wir würden uns nach dem sogenannten kleineren Übel richten, und das kann schon heftige Auswirkungen haben. Ist das Leben des Konzernmanagers, der in seinem Betrieb hunderttausende Menschen beschäftigt und vielfacher Millionär ist, mehr Wert als das Leben von 80 oder 90 Flugzeuginsassen? Wonach bemisst sich der unterschiedliche Wert des Lebens der Menschen? Ist es nur die Anzahl, oder auch die Wichtigkeit für unsere Gesellschaft? Wer bestimmt das? Befinden sich 20 Menschen und der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin in der Hand eines Bankräubers oder Terroristen, muss man dann nicht zugreifen, um diese wichtige Persönlichkeit zu retten, auch wenn andere Geiseln dabei getötet werden?
Das Bundesverfassungsgericht war gar nicht weltfremd. Es hat eine Lösung für ein unauflösliches Problem gefunden. Wenn ein Gesetz die Tötung, die Herabsetzung oder die Demütigung, die Folterung oder die Verletzung eines Menschen erlaubt, egal welches Menschen, gibt es den Grundsatz auf, dass alle Menschen gleich sind, jeder Einzelne. Dann könnten wir auch der Polizei erlauben, Kindesentführer zu foltern, um herauszukriegen, wo das entführte Kind versteckt ist. Dann hätten wir uns entschieden, das Leben eines Kindes höher zu werten als das Leben bestimmter Erwachsener, oder zumindest seines Entführers. Die ARD und Ferdinand von Schirach haben die Fernsehzuschauer dazu verleitet, genau so eine Entscheidung zu treffen. Sie gipfelte in der Äußerung des ehemaligen Verteidigungsministers Jung, er hätte ohnehin schießen lassen, egal, was das Verfassungsgericht sagte. Und dafür hat er auch noch Applaus bekommen.
Wenn wir aber den Grundsatz aufgeben, dass jedes Leben gleich viel wert ist, dann können wir auch die Nazigreuel und die SED-Diktatur und die Stasi-Folter im Nachhinein gutheißen, und wir müssten uns auch nicht mehr über Waterboarding und andere menschenverachtende Methoden der CIA unterhalten. In all diesen Fällen stand am Anfang eine unterschiedliche Bewertung des Lebens einzelner oder vieler personen.
So viel zur Theorie. Im Ernstfall, so werden manche von Ihnen sagen, stünde der Major aber immer noch allein da. Doch das ist falsch. Der fiktive Major im Film und jeder Verantwortliche Kampfpilot in der Bundeswehr hätte in einem solchen Fall zwei Möglichkeiten, die ihm sein Gewissen eröffnen. Erstens: Er hätte sagen können, dass er sich dieser Entscheidung nicht gewachsen fühle, dass er die Entscheidung über den Wert des Lebens nicht treffen wolle. Das hätte von ihm einen sehr großen Mut erfordert, eine sehr große Charakterstärke, denn er hätte bewusst die Katastrophe in Kauf genommen. Fälschlicherweise hätten die meisten Menschen ihm dies als Feigheit ausgelegt, dabei ist es viel schwerer, der Stärkere zu sein und nicht zuzuschlagen, als seine Stärke, der man sich ja sicher sein kann, voll auszuspielen. oder der Offizier hätte sagen können, dass er es mit seinem Gewissen nicht hätte verantworten können, eine so große Anzahl von Menschen sterben zu lassen. In diesem Falle hätte er das Flugzeug abschießen und sich dann ohne Ausflüchte zu seinem rechtswidrigen Handeln bekennen können, und zwar ohne das Recht und das Grundgesetz zu missachten. Er hätte sagen können: Ich habe strafbar gehandelt, ich erkenne das an, ich sah für mich keinen anderen Ausweg, bitte verurteilen Sie mich, denn ich habe gegen die Gleichwertigkeit des Lebens und damit gegen die Menschenwürde gehandelt. Jedes Gericht hätte höchstens auf Totschlag, keinesfalls auf Mord erkannt, und es hätte viele Milderungsgründe gegeben, weswegen der Mann höchstens eine geringe Strafe abgesessen hätte und für viele ein Held gewesen wäre. Aber die Rechtsordnung wäre nicht verletzt und beschädigt worden, das Leben Einzelner wäre nicht zur Disposition gestellt worden.
Viele Menschen mögen es nicht verstehen, doch es gibt für dieses Dilemma keine rückstandsfreie Lösung. In einem solchen Fall hätte jede Handlungsweise Konsequenzen gehabt, eine vollständig glückliche Lösung kann es einfach nicht geben. Wenn wir aber zulassen, dass wir jeden Lebenswert in jeder Situation neu bewerten und abwägen, dann werden wir genau wie die Terroristen: Wir ordnen das Menschenleben einer Sache, einer Ideologie unter. Für uns bleibt nur, an dem individuell unendlichen Wert jedes Lebens festzuhalten, auch wenn wir damit keine Antwort auf alle Fragen haben, oder die Antwort uns Bauchgrimmen verursacht. Unser persönliches Gerechtigkeitsempfinden mag dem Major Freiheit gewünscht haben, zumal dem im Film, der ein schöner, sympathischer Man war, der allein kämpfte, weil sein Verteidiger eher eine nervige Figur war. und die Staatsanwältin war in den Augen manches Fernsehzuschauers sicher ein rotgrünlinksversiffter Gutmensch, der weltfremde Reden schwang. Aber sie hatte im Großen und Ganzen recht. Allerdings ging es nicht darum, mit dem Finger auf den Major zu zeigen, sondern klarzumachen, dass er rechtswidrig und schuldhaft gehandelt hat, auch wenn seine Motive ehrenhaft waren und man ihm das unbedingt anrechnen muss. Ein Freispruch schafft hingegen einen Präzedenzfall, der künftig jedes menschliche Leben unter den Vorbehalt der aktuellen Situation stellt und immer überprüft, ob nicht ein Leben bedroht ist, das mehr Wert ist. Dahin dürfen wir es auf keinen Fall kommen lassen, damit stellen wir unsere gesamte Ordnung in frage, unser Zusammenleben, die Freiheit und Gleichheit jedes Einzelnen von uns.
Darum hätte der Major verurteilt werden müssen. Dass er das von den Fernsehzuschauern nicht wurde, zeigt deutlich, wie zuspitzend die Aufgabenstellung war, wie wenig man in dem Film die eigentliche Frage behandelt hat, und wie sehr sich unsere Gesellschaft schon von unseren elementaren Grundwerten entfernt hat. Eines Tages, wenn es wieder Menschen zweiter Klasse gibt, die getötet werden dürfen, wird sie das bedauern.