Vor etwas mehr als einer Woche ging es zu Ende für dieses Jahr: das Tanztheater International in Hannover, die 28. Ausgabe 2013, worüber ich hier schon mehrfach berichtet habe. (Bitte bei der internen Google-Suche links oben das Suchwort "Tanztheater" eingeben ...)
Die Abschlussbilanz ist positiv: "Das bewährte Festivalkonzept aus neu zu entdeckenden und bereits eingeführten Tanzkompanien lockte rund 3.500 Festivalbesucher zu den Veranstaltungen und sorgte für eine Auslastung von ca. 97 %", heißt es in der abschließenden Pressemitteilung. TANZtheater INTERNATIONAL 2013 rückte "mit insgesamt elf verschiedenen internationalen Tanzproduktionen zeitgenössischer Choreografen das Leben in der Gemeinschaft ins Zentrum" und legte "einen Schwerpunkt auf Künstler aus Frankreich. Mit dabei" waren "darüber hinaus Künstler, die in der Schweiz, in Deutschland und in Schweden arbeiten, viele darunter haben ihre kulturellen Wurzeln in anderen Ländern wie Algerien, Korea, Finnland, Spanien, Japan und Kuba. Unter den gezeigten Arbeiten waren diesmal fünf deutsche Erstaufführungen sowie drei Uraufführungen."
Am letzten Tag, dem 7. September 2013, gab es noch drei Veranstaltungen (die ich besucht habe): "Autarcie" von Anne Nguyen aus Frankreich mit ihrer Compagnie par Terre; Martin Schick mit "Halfbreadtechnique"; der außerdem für den Nachmittag einen Workshop für ZuschauerInnen angeboten hatte.
Als ein "wildes Ritual" hat Anne Nguyen selber ihre Choreografie "Autarcie (....)" bezeichnet, "ein wildes Ritual, in dem kollektive Beschränkungen mit dem Bedürfnis nach Siegen und Freiheit verglichen werden". Anne Nguyen kommt aus der Tradition des Breakdance und Hip-Hop - das ist sofort zu merken, unterstrichen durch die pulsierenden Rhythmen des Perkussionisten Sébastian Lété, der sie kongenial speziell für diese Darbietung komponiert hat. Es ist Anne Nguyens sechste Choreografie, in der sie ihren wissenschaftlichen Hintergrund (Mathematik) benutzt, um das Bewegungsvokabular des Breakdance aufzubrechen und "um es geometrisch zu verankern und auf diese Weise neue choreografische Räume zu erschließen" (so wird es im Pressetext formuliert). Zwei B-Girls teilen den Raum mit zwei Spezialistinnen des Popping, einer roboterähnlichen Variante des Hip-Hop. Wer ordnet sich wem unter, ist das erforderlich der Gemeinschaft zuliebe? - das ist hier ein augenscheinliches Leitmotiv. "Die vier Frauen" sagt Anne Nguyen mit Nachdruck "wollen nicht gefallen, sondern berühren, den Boden und - das Publikum". Beides ist meiner Meinung nach gelungen.
Einen völlig anderen Charakter hatte die Vorstellung von Martin Schick am selben Abend im zweiten Ballhof (20.30 Uhr). Martin Schick arbeitet nich nur als Choreograf, sondern ebenso als Performer und tanzt in diesem Stück selber überhaupt nicht. Er führt als Lehrstück des Postkapitalismus für Anfänger die "Halfbreadtechnique" vor: Mensch gebe von allem, was mensch hat, die Hälfte seinem Nächsten. Martin Schick teilt sein Honorar und seinen Raum auf der Bühne. Die Hälfte gibt er "einem Gasttänzer aus einem ökonomisch gebeutelten Land", in Hannover ist es der Italiener Vito Alfarano. Der körperlich die Hauptlast des Abends trägt, als einziger professionellen Tanz vorführt. Die andere Hälfte des Bühnenraums und Honorars teilt Martin Schick in immer kleineren Stücken (die Hälfte von der Hälfte usw.) an Laien aus dem Zuschauerraum aus, die dann versuchen, mit der Situation umzugehen: Schlaf- und Ruhestellungen werden schnell zu langweilig, bald werden Bewegungen aus dem persönlichen Repertoire (Yoga, Gymnastik) dem Publikum vorgeführt. Besonders interessant wurde es zunehmend, eine Teilnehmerin zu beobachten, die eine gemeinsame Grenze mit Vito Alfarano hatte: Sie reagierte immer mehr auf dessen Bewegungen und nahm Kontakt auf, er wiederum reagierte spontan und intuitiv entsprechend, es entstand so etwas wie ein Dialog. Diese sicherlich nicht geplanten Szenen empfand ich als berührendes Überraschungsgeschenk für Zuschauerinnen und Zuschauer. Das als mögliches Ergebnis der "Brothalbierungstechnik"? Ja, das ist zukunftsweisend: Neue Begegnungen in der Gemeinschaft, Auflockerung von Grenzen, Reichtum durch Teilung.
Nicht ganz so berührt hat mich Martin Schicks Workshop "The spectacular spectator", der der Fortbildung der ZuschauerInnen dienen sollte. Es begann damit, dass alle beim Hereinkommen, ohne es zu wissen, gefilmt wurden. (Das schien manchen ganz witzig, aber es war der schale Witz eines Spiegelkabinetts ohne tiefere Bedeutung.) Nach Vorführung des Films bekamen alle die Gelegenheit, ein zweites Mal hereinzukommen und das erste Mal nachzuspielen ... Wir bekamen auch die Gelegenheit und wurden dazu aufgefordert, Lob und Tadel zu äußern. In Erinnerung geblieben ist mir, dass Frauen sich hier nicht genügend angesprochen oder berücksichtigt fühlten, jedenfalls hat sich eine so geäußert. Aufgefordert wurden wir auch, sich ab und zu zu bewegen oder aufzustehen. Allerdings wurden wir auch ermahnt, das Gelernte nicht gleich auf Marin Schicks eigene Vorstellung am Abend anzuwenden. "The director direct, the actor act, and the public?" - der Grundgedanke, dass auch das Zuschauen und Zuhören gelernt sein will, ist zwar nachdenkenswert, aber die Lehrstunde dazu dürfte noch weiter entwickelt werden, um an eine tiefere Dimension heranzureichen.
Ich hoffe, ich konnte Sie mit dem Abschlussbericht dazu (und den vorherigen Artikeln) dazu anregen, beim nächsten Mal dabei zu sein! Das nächste Tanztheater International findet statt vom 4. bis 14. September 2014 (29. Ausgabe) und darf vorgemerkt werden!
© Das obere Foto stammt von Philippe Gramard (als Pressefoto nicht frei verfügbar), das untere hat Martin Schick selbst montiert.