Zwei Choreografien aus Israel am Samstagabend (6. Sept. 2014): Das Tanztheater International bietet wieder spannende Überraschung, diesmal mit vielen leisen Momenten. Keine Pause zwischen den beiden Produktionen in der Orangerie Herrenhausen, insgesamt 95 Minuten, die kurzweilig blieben.
Restlos überzeugt wie selten hat mich das zweite Stück: "We love Arabs". Es ist eine rundum gelungene Persiflage auf das "Gutmenschentum", anspruchsvoll, tiefsinnig und humorvoll zugleich. Der Choreograf Hillel Kogan übernimmt selbst die Rolle des "ach so toleranten" Israeli, der in Wirklichkeit voller Vorurteile steckt; als "Partner" hat er Adi Boutrous ausgewählt, der die Rolle des Arabers darzustellen hat. Kogan lässt die ZuschauerInnen am Prozess der Entwicklung der Choreografie teilnehmen, er hat ein Mikrofon umgehängt und gibt Erläuterungen, die sich später, an den Partner gerichtet, mehr und mehr zu Anweisungen und Befehlen entwickeln.
Es beginnt ruhig, Kogan ist alleine auf der Bühne und sagt, er möchte einige Gedanken zeigen, die er im kreativen Prozess erlebt hat. Jede, jeder braucht Raum. Als Tänzer habe ich eine besondere Beziehung zum Raum. Ich bewege mich in dem Raum, der mir zur Verfügung steht, ich fülle ihn aus und strukturiere ihn, immer wieder, bis mein Körper es genießt. Der Raum wirkt auch auf mich zurück. Es gibt Räume, die mich zurückweisen. Das kann der Raum eines anderen sein ...In Telaviv, wo es viele Flüchtlinge gibt, kann es der Raum eines Arabers sein.
Adi Boutros kommt dazu, sagt nicht viel, sagt überhaupt nicht viel, der Monolog "des Juden" herrscht vor. Ich bin Jude, Du Araber - was, Du heißt nicht Muhammad? -, damit wir kenntlich sind, male mir den Davidstern auf das T-Shirt. Ich male Dir ein Zeichen auf die Stirn - es ist ein Halbmond ("so eine Figur wie ein Croissant" sagt Kogan in der Gutmenschen-Verschleierungssprache); Boutros zaghaft: aber ich bin doch Christ ... Boutros bekommt Anweisungen: tanze so, dass Du selbst zum Ausdruck kommst, nein, noch immer sehe ich, dass Du tanzt, aber nicht, wer Du bist ... usw. Immer stärker entwickelt sich ein Herr-Diener-Verhältnis: Der Diener tanzt hauptsächlich, der Herr gibt mehr Befehle, als dass er selber tanzt. Hier ist mein Raum, da ist Dein Raum, beachte beim Tanzen die Grenze. Wir sind gegensätzlich, aber doch gleichartig ("similarity"), Du bist wie ein Schatten von mir, wir sind wie zwei Seiten einer Münze. Sie üben dann das Tanzen mit Objekten, sie nehmen Besteckteile als Beispiel, "natürlich" bekommt "der Araber" das Messer, "der Jude" die Gabel; sie haben schließlich Messer und Gabel im Mund und tauschen danach. Schließlich tanzen sie mit einer Schale mit Hummus. Die soll den Frieden bringen. Sie halten sie gemeisam in den Händen, tanzen damit, füttern einander. Damit überschreiten sie gemeinsam sogar die Grenze des Bühnenrandes. Es endet mit einer Speisung. Eine abschließende versöhnliche Geste, die Hoffnung gibt. Auch, wenn es schwer in Worten zu schildern ist, ich war sehr beeindruckt von dieser Darbietung.
Auch die zuerst gezeigte Produktion handelte von mehr oder weniger subtilen Machtstrukturen, von den Unterschieden zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, von schön geredeten Illusionen: "Ship of Fools", Choreografie und Leitung Niv Sheinfeld und Oren Laor - diesmal mit drei TänzerInnen: dem trainierten, aber meist freundlichen Sasha Engel (joggt mit Kopfhörer), der kraftvollen, tätowierten Anat Grigorio und dem hageren, melancholisch gestimmten Uri Shafir, der gerne Gitarre spielt und singt. Der Titel bezieht sich auf das Buch "Das Narrenschiff" von Sebastian Brant aus dem Jahr 1494, worin 100 Narren auf einem Segelschiff der absurden Wirklichkeit einen Spiegel vorhalten. Auch hier wird den absurden modernen Verhaltensweisen ein Spiegel vorgehalten, wenn auch gelegentlich Abweichungen von der Norm ("verrückte" Bewegungen, Schreie) geprobt werden: Jede/r tut was für sich, solange es geht, lebt in ihrer/seiner eigenen Welt mit Handys, Kopfhörern, Jogging, Krafttraining, Gitarrespielen und Methoden der Einnebelung. Bewusster Beginn, während das Publikum die Plätze einnimmt, das dann die abgekapselten Unterschiede zwischen den dreien schon studieren kann. Sobald zwei oder drei zusammenkommen, kommt es zu kleinen Grausamkeiten - ein Beispiel: Die Frau bittet die Kollegen um Hilfe beim Tanztraining, kommandiert aber immer stärker mit ihnen herum. Das Publikum wird einbezogen, soll mitsingen oder aufstehen (fast alle machen mit!), auch eine kleine Machtausübung. Oft stille Momente ohne Musik und pantomimische Bewegungen (eine Boxpantomime z.B.), ruhige Gitarrenmusik, zwischendurch lauter Beat, dann wieder Karrusellmusik oder Anklänge an Glocken. Es ließen sich noch viele Geschichten erzählen. Der episodenhafte, narrative Charakter wirkt hier ansprechend und kurzweilig. Kurz vor Schluss sitzen alle drei absolut still auf ihren Stühlen. Danach wird noch einmal zum Mitsingen aufgefordert - "I don't care what comes tomorrow, we can face it together, the way all friends do" -, aber Uri Shafir kann den Text nicht mehr richtig, fängt an zu stottern, die Musik mit dem Text wird immer lauter, bricht ab, dann ist Schluss.
Elisabeth Nehring berichtet in "Tip Berlin" von extremen Reaktionen bei Aufführungen in Israel, weil ZuschauerInnen, z.B. Exsoldaten, an die vielen alltäglichen Demütigungen erinnert wurden. "Doch all diese kleinen und großen Demütigungen", schreibt Elisabeth Nehring, "die gar nicht so gemeint sind, die vielen zufälligen Entgleisungen und kleinen Grausamkeiten des Alltags, über die schon lange nicht mehr nachgedacht wird oder noch nie nachgedacht wurde, dienen nicht nur als Spiegel, sondern als Vergrößerungsglas für das destruktive Potenzial in jedem von uns."
Die nächsten Vorstellungen sind hier aufgeführt: http://tanztheater-international.de/Programm.html
Text bis auf das Zitat: Dr. Helge Mücke, Hannover; Bilder: Gadi Dagon (beide).