Tanja Kinkel: Das Spiel der Nachtigall

Tanja Kinkel: Das Spiel der Nachtigall

Wolfgang Krisai: Ruine Mödling. Tuschestift, Buntstift, 2017.

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Die Vorbereitung auf meinen Deutschunterricht war der Anstoß, mich mit Walther von der Vogelweide zu beschäftigen. Dabei stieß ich auf Tanja Kinkels opulenten biographischen Roman und las ihn sofort mit großem Genuss.

Kinkel schildert Walthers Leben von seiner Ankunft in Wien bis zur Ankunft Friedrichs II. in Deutschland. Sie lässt also Kindheit und Jugend Walthers genauso weg wie seine letzten Lebensjahre.Trotzdem füllt der Roman noch mehr als 900 Seiten.

Wie geht das, wo man doch über die Biographie Walthers ziemlich wenig Gesichertes weiß?

Walther, ein politischer Influencer

Tanja Kinkel denkt sich Walther als einen sehr einflussreichen, auf der politischen Bühne immer präsenten und sogar mitgestaltenden Sänger. Das übertreibt die Bedeutung Walthers wohl, andererseits macht es aber plausibel, warum Walther von Kaiser Friedrich II. schließlich sogar ein Lehen bekommen hat (was nur noch im Nachwort des Romans erwähnt wird). Wenn dieses Lehen mehr als ein Schrebergarten war, dann war Walther durchaus ein bedeutender Mann, und das wohl nicht nur seiner dichterischen Leistungen wegen. Vielleicht ist es wirklich denkbar, dass Menschen im Umfeld der Herrscher diese durchaus beeinflussen konnten. Immerhin waren die mittelalterlichen Staaten ja keine modernen Staaten mit gigantischen Einwohnerzahlen, einem Gewirr von Institutionen und Politikern, die man als Normalsterblicher niemals von Angesicht zu Angesicht sah. Wenn eine Weltstadt damals so groß war wie heute bestenfalls eine größere Bezirkshauptstadt, dann ist es durchaus denkbar, dass man die Herrscher ebenso „kannte“, wie man als Bürger einer kleinen Stadt heute den Bürgermeister kennen kann. Und beeinflussen, wenn man geschickt genug ist.

König und Gegenkönig

Die Zeiten waren damals reichlich unsicher. Nach dem Tod von Kaiser Heinrich VI. wird Philipp von Schwaben zum deutschen König gewählt, obwohl es schon einen solche gab, nämlich den gerade dreijährigen Friedrich II. Bald jedoch wählte eine gegnerische Fraktion von geistlichen und weltlichen Fürsten den Welfen Otto zum Gegenkönig, und es entspann sich eine Dauerfehde zwischen den beiden, die erst durch die Ermordung Philipps zu Ende zu gehen schien. Denn nun hat Otto freie Bahn, lässt sich von Papst Innozenz III. zum Kaiser krönen, wird jedoch schon bald vom selben Papst fallengelassen zugunsten des inzwischen fünfzehnjährigen Friedrich II. Im Roman kündigt sich bereits an, dass dieser dann erfolgreich die Herrschaft in Deutschland an sich reißen kann und Otto in die Bedeutungslosigkeit verdrängt.

Im Roman werden diese Vorgänge, gespickt mit Intrigen, diplomatischen Spielchen, verräterischem Seitenwechsel und gelegentlichen Mordanschlägen, drastisch geschildert.

Liebe zu einer Ärztin

Doch Tanja Kinkels Roman ist nicht nur ein politischer Roman, aus dem man die Zeitverhältnisse plastisch kennenlernen kann, sondern auch ein Liebesroman. Die Autorin erfindet eine jüdische Ärztin, Judith aus Köln, die Walther in Wien eher zufällig kennenlernt. Judith geht zur Ausbildung nach Salerno, wo auch Frauen Medizin studieren konnten. Sie wird die Leibärztin der Frau von König Philipp, der Byzantinerin Irene.

Der mieseste Typ des Buches

Von ihrem Onkel, dem zum Christentum übergetretenen Kaufmann Stefan, ebenfalls aus Köln, wird sie immer wieder geschickt benützt in einem intriganten politischen Spiel, mit dem die Kölner Kaufleute in die Wirren der Politik eingreifen. Bei einer gemeinsamen Fahrt nach Frankreich wird Judith in einer blasphemischen Zeremonie von dem Grafen Otto, dem späteren Kaiser, mit Gilles, einem Soldaten, „verheiratet“. Otto ist der mieseste Charakter im ganzen Buch, und die Feindschaft mit Judith ist der Rote Faden der Handlung.

Judith nützt die scheinbare Ehe mit Gilles, der sich als Homosexueller erweist, zu ihrem Vorteil: Von Gilles wird sie sexuell nicht belästigt, und er unterstützt sie in ihrer Tätigkeit als Ärztin.

Verleumdung – Befreiung – Lüge

Bei einem längeren Aufenthalt in Braunschweig kommt es zu einer Verleumdung, Gilles wird eingesperrt und verurteilt. In letzter Sekunde kann er von Walther, der sich rechtzeitig eingestellt hat, aus dem Gefängnis befreit werden. Judith, Gilles, Walther und dessen Freund Markwart fliehen eiligst aus der Stadt. In Bamberg, wo sie Zuflucht finden, kommt es zu einer schrecklichen Wendung: Gilles wird von einem zornigen Ritter niedergemacht und büßt dabei beide Beine ein. Judith hätte ihn vielleicht retten können, wenn Walther ihr nicht vorgelogen hätte, Gilles habe sich in den Süden abgesetzt, um ein neues Leben zu beginnen.

Mit dieser Lüge im Hintergrund beginnt ein fragiles Zusammenleben von Walther und Judith.

Jahre später kommt die Wahrheit an den Tag, und die beiden trennen sich nach einer hasserfüllten Szene. Grund dafür ist Gilles’ plötzliches Auftauchen, das von Onkel Stefan inszeniert wurde. Gilles war nämlich jahrelang ein „Ausstellungsstück“ einer Gauklertruppe, die auch Krüppel zur Schau stellte.

Als Judith die Wahrheit über Gilles Verschwinden erfährt und ihm wieder begegnet, kauft sie ihn frei und lebt wieder mit ihm zusammen. Bis Gilles in einer brenzligen Situation sein Leben für Judith opfert.

Der Roman wäre kein Unterhaltungsroman, wenn Judith und Walther nicht am Ende wieder zusammenfänden.

Die literarische Seite

Die Literatur und Musik, bei Walther ja eins, spielen im Roman keine geringe, wenn auch nicht die wichtigste Rolle. Immer wieder streut Kinkel Walther-Gedichte ein (man erfährt nicht, von wem die Übersetzung stammt). Sie beschreibt, wie sehr Walthers Gedichte auf das Publikum gewirkt haben und wie weit sie sich verbreitet haben.

Walther findet immer wieder Gönner in höchsten Kreisen, die es lieben, einmal nicht nur die braven Minnelieder konventioneller Art, sondern lebensvolle Liebeslieder und vor allem ätzende politische Sangsprüche zu hören. Dass Walther auch mehrmals die Seiten wechselte, wird durch den Gang der Handlung durchaus verständlich.

Der Dichter des Nibelungenlieds

Sehr interessant auch die Begegnung mit dem Dichter des Nibelungenlieds, das ja zu Lebzeiten Walthers entstanden ist. Man weiß in der Literaturwissenschaft nicht, wer es geschrieben hat. Tanja Kinkel erlaubt sich eine sehr originelle Lösung: Bei ihr ist der Autor nicht ein Kleriker aus dem Umfeld des Bischofs Wolfger von Passau, sondern – dieser selbst! Aus seiner Kanzlei stammt auch die einzige urkundliche Erwähnung Walthers, nämlich dass dieser Geld für einen Pelzmantel bekommen habe. Bei Kinkel bekommt er nicht das Geld, sondern gleich den Pelzmantel.

Südtiroler? Niederösterreicher?

Was mich als in Niederösterreich Lebenden natürlich ein bisschen schmerzt, ist Tanja Kinkels Wahl des Geburtsorts Walthers. Um die Ehre, jenen Vogelweiderhof, von dem Walther stammt, zu besitzen, streiten sich ja mehrere Gebiete, unter anderem die Zwettler Gegend in Niederösterreich und die Gegend um Bozen in Südtirol. Kinkels Walther stammt aus Letzterer.

Auf der Burg Mödling

Ebenfalls schmerzlich ist, dass Walthers vermuteter Aufenthalt auf der Burg Mödling bei Wien nicht in den Roman Eingang gefunden hat… Die Wahrscheinlichkeit, dass Walther in Mödling war, ist jedenfalls höher als die, dass er aus dem Waldviertel stammt. Wenn man daher zur Burg Mödling hinaufsteigt, die heute eine Ruine und als solche ein schönes Ziel für Spaziergänge ist, wandelt man auf Walthers Spuren, wie einem eine große Gedenktafel auf der Burg bewusst macht.

Tanja Kinkel: Das Spiel der Nachtigall. Roman. Droemer-Verlag, München 2011. 924 Seiten.

Bild: Wolfgang Krisai: Ruine Mödling. Tuschestift, Buntstift, 2017.

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