Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt
Ihr Lieben,
heute möchte ich meinen Notizen mit einem Auszug aus meinem Buch
DAS ESESLKIND beginnen:
"Seit der Reise ging es Hans-Christoph gesundheitlich erheblich schlechter. Es kam immer öfter vor, dass er, wenn er einen schweren Asthmaanfall bekam, sich mit seinen Armen an mich hing, indem er seine Arme um meinen Hals schlang, um damit seine verengten Lungen zu weiten und wieder mehr Luft zu bekommen. Es gab mir jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn ich ihn so nach Luft schnappen sah und er um sein junges, noch so unverbrauchtes Lebens rang.
In den Sommerferien des Jahres 1963 war ich mit Hans-Christoph mehrere Wochen in Fischerhude auf dem Bauernhof seiner Großeltern. Nun ergab es sich, dass die Großeltern an einem sonnigen Samstagmorgen einkaufen fuhren. Während sie unterwegs waren, bekam Hans-Christoph einen besonders schweren Asthmaanfall und er hing sich mit seinen dünnen Armen an meinen Hals. Ich blickte ihm direkt ins Gesicht, das sich immer mehr rötete, seine Augen waren angstgeweitet und sein Atem ging nur stoßweise.
Ich wollte unbedingt telefonieren und den Hausarzt herbeirufen, aber Hans-Christoph winkte ab, der Anfall sei nicht so schlimm, er werde schnell vorübergehen. Nur wenige, grausame Augenblicke später kehrten seine Großeltern zurück und als sich der Großvater über Hans-Christoph beugte und ihn berührte, bemerkte er, dass er tot war.
Die folgenden Sekunden, Minuten und Stunden erlebte ich wie in Trance.
Es war meine erste Begegnung mit dem Tode.
Fassungslos, außer mir, keines Wortes fähig hoffte ich, Hans-Christoph möge die Augen wieder aufschlagen und mit mir reden. Ich hätte ihn gerne geschüttelt, ich hätte ihn gerne berührt und gestreichelt, alles hätte ich getan, wenn er nur wieder gelebt hätte.
Das Einzige, was mich im Angesicht seines jungen, unverdienten und viel zu frühen Todes ein wenig tröstete, war der friedliche Ausdruck in seinem Gesicht. Aber innerlich kochte es in mir, ich schrie voll Wut auf zu Gott, ich klagte ihn an, dass er mir das Beste, das Wertvollste genommen hatte, was mir in meinem Leben begegnet war...
...In dieser Nacht durchbohrte mich wellenartig ein entsetzlicher Schmerz, alles in mir, jede Faser meines Herzens schrie auf, ich haderte erneut mit Gott und ich konnte den unbegreiflichen, unfasslichen und ungerechten Tod von Hans-Christoph doch nicht fassen. In dieser Nacht „starb“ auch ich, als Körper mit seinen Funktionen war ich noch vorhanden, aber als lebendiger Mensch mit seinen Gefühlen, Hoffnungen und Sehnsüchten war ich gestorben, war ich tot...
Der Tod von Hans-Christoph traf mich wie ein Keulenschlag, es war, als wenn sich die Sonne mitten am helllichten Tage verdunkelt hätte, als wenn die Finsternis der Nacht sich erneut über mein Leben gesenkt hätte und ich verstummte. Die Beerdigung von Hans-Christoph ging fast über meine Kraft. Es war nicht das erste Mal, dass ich erlebte, dass jemand beerdigt wurde, aber bei diesem Mal ging es mir unendlich nahe. Als sein weißer Holzsarg in die tiefe Grube abgesenkt wurde, krampfte sich mein Herz zusammen und löste einen grauenhaften Schmerz aus, der mich bis ins tiefste Mark traf. Am liebsten hätte ich mich in die Grube gestürzt, um dem Schmerz, den ich kaum ertragen konnte, ein Ende zu bereiten.
Nach Ende der Sommerferien besuchte ich wieder das Gymnasium in Bremen.
Ich hatte mir ein großes Stück tiefschwarzen Samtes besorgt.
Ich bedeckte damit die Schulbank, an der Hans-Christoph neben mir gesessen hatte, und ich stellte ein besonders schönes und großes Bild von ihm in einem edlen Silberrahmen auf den Tisch. Davor postierte ich zwei dicke rote Kerzen, wie sie Hans-Christoph geschätzt hatte und entzündete sie. Auf den Tisch legte ich einen Zettel, auf den ich mit zitternden Händen das Lieblingslied von Hans-Christoph geschrieben hatte:
Dietrich Bonhoeffer
„Von guten Mächten treu und still umgeben, behütet und getröstet wunderbar,so will ich diese Tage mit euch leben und mit euch gehen in ein neues Jahr.
Noch will das alte unsre Herzen quälen, noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen das Heil, für das du uns geschaffen hast.
Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand.
Doch willst du uns noch einmal Freude schenken an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken, und dann gehört dir unser Leben ganz.
Lass warm und hell die Kerzen heute flammen, die du in unsre Dunkelheit gebracht, führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen. Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.
Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet, so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet, all deiner Kinder hohen Lobgesang.
Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Zu meiner großen Verwunderung wurde von meinen Lehrern und meinen Mitschülern und Mitschülerinnen nichts dagegen unternommen, ja man akzeptierte es sogar. Mehrere Tage nutzten die Lehrer die gebotene Gelegenheit, mit unserer Klasse über den plötzlichen und unerwarteten Tod von Hans-Christoph zu reden. Und noch ein kleines Wunder geschah: Niemand lachte mehr über mich, kein Lehrer lästerte über mich, kein Klassenkamerad / keine Klassenkameradin schlug mich, demütigte, erniedrigte oder quälte mich mehr.
Ich selbst sprach kein einziges Wort.
Am 22. November 1963 saß ich gegen Abend, es war draußen schon dunkel geworden, zuhause in meinem Zimmer an meinem kleinen Telefunken-Transistorradio, das ich mir selbst zusammengespart hatte und lauschte der Musik, die blechern aus dem Lautsprecher ertönte.
Plötzlich, es war gerade 19 Uhr 43 mitteleuropäischer Zeit, wurde die Musiksendung abrupt unterbrochen und ein merklich aufgeregter Nachrichtensprecher berichtete fassungslos und nach Worten ringend: „Auf Präsident Kennedy sind heute, am Freitag, den 22.November um 12 Uhr 27 Ortszeit in Dallas in Texas drei Schüsse abgefeuert worden. Der Präsident soll schwer verwundet sein.“
Ich eilte zu meiner Zimmertür und verschloss sie, um nicht gestört zu werden. Ich kehrte zurück zu meinem Transistorradio und lauschte auf weitere Nachrichten aus Amerika. Nur eine dreiviertel Stunde später kam die Nachricht: „John F. Kennedy, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, ist tot.“
Noch in derselben Stunde schnitt ich mir aus einem der Bücher, die ich mir über Kennedy gekauft hatte, mit der Schere ein Bild von ihm heraus und verstärkte es auf der Rückseite mit einem Stück fester Pappe. Mithilfe einer Sicherheitsnadel befestigte ich es am nächsten Morgen außen an meinem Anorak.
Nach der Schule suchte ich das amerikanische Konsulat auf und trug mich dort ins ausgelegte Kondolenzbuch ein.
Ich spürte eine abgrundtiefe Leere in mir. Es war, als wären alle meine Hoffnungen gestorben.Von diesem Tag an verstummte ich für volle 13 Monate.fast 12 Monate habe ich kein einziges Wort damals gesprochen, ich sank auf den Stand eines Kindes zurück. Ich musste gewaschen, gefüttert und komplett versorgt werden.
Ihr Lieben,
was dann geschah, dass diese Zeit zum Aufbruch in ein neues, ein fröhliches Leben wurde und warum meine Mutter diese 13 Monate als ihren persönlichen Sieg betrachtete, davon berichtet das Buch DAS ESELSKIND.
Seid alle herzlich gegrüßt, ich möchte die heutigen Notizen mit dem Lied von Joe Cocker `"With a little help from my friends" beenden, das Hans-Christoph auch sehr gefallen hätte und das ich nun Euch, Ihr Lieben, auf Facebook und auf diesem Blog widme.
Euer niemals aufgebender Werner