Tag 11 – Von Middleton-in-Teesdale nach Dufton (32 Kilometer, 701 Meter Anstieg)

Von vielen Wegbegleitern aber auch örtlichen Spaziergängern habe ich im Vorfeld gehört, dass der heutige Tag einer der
schönsten und sehenswertesten Abschnitte auf dem Pennine Way bereithält. Davon kann ich mich ziemlich bald schon selbst überzeugen. Aber mein Guidebook verrät mir auch, dass 32 Kilometer Wegstrecke voll knochenharter Arbeit vor mir liegen. Daher muss ich an diesem Morgen auch noch früher aus den Federn als üblich.

Gegen 6.15 Uhr stehe ich als eine der ersten durchgeknallten Hikerinnen auf Middletons Hauptstraße und navigiere mich müden Schrittes zum Pennine Way. Der führt mich zuverlässig immer am Fluss Tees entlang. Ich streife durch endlose vom Tau durchweichte Wiesen, klettere über Trockenmauern und nicht immer stabile Brücken, lausche dem beruhigenden Rauschen des mich begleitenden Stromes.

Den Schafen bleibt förmlich ihr Frühstück unzerkaut im Mäulchen stecken. Wer zum Himmel ist dieser bekloppte Mensch, der da in der Morgendämmerung durch unsere Wiesen hechtet, fragen sie sich, ihrem Blick nach zu urteilen. Dann gelange ich an das erste Highlight des Tages, ich erreiche Low Force, einen beeindruckenden Doppelwasserfall. Doch der bewaldete Platz ist für ein Frühstück eher ungeeignet, also ziehe ich weiter und gelange nach einer weiteren Stunde an einen noch weitaus mächtigeren Wasserfall, der Tonnen von schäumenden Fluten in die Tiefe spült. High Force ist mit seinen 21 Metern Fallhöhe der höchste ungebrochene Wasserfall Englands. Na das glaub ich gern. Es kursieren eine Menge Geschichten rund um das impressive Naturwunderwerk. Von Selbstmördern und wahnsinnigen Kajakfahrern, die sich von den donnernden Fluten haben mitreißen lassen. Und da ich hier schon mit offenem Mund herumstehe, kann ich auch gleich mal frühstücken.

Nach der kleinen Stärkung heißt es, keine Zeit vertrödeln. Ich folge dem Flusslauf weiter und gerate in eine der einsamsten und gleichzeitig schönsten Moorlandschaften, die der Pennine Way zu bieten hat. Es geht vorbei an stillgelegten Minen und zerfallenen Farmhäusern, felsige Hügel hinauf und hinunter. Ich bin echt froh, dass die Sonne scheint, denn diese Menschenleere nagt ganz schön am Herzen. Es ist eines der seltsamsten Gefühle, die nur schwer zu beschreiben sind. Es ist in etwa so als gehe man über einen verlassenen, fremdartigen Planeten und wüsste nicht, wohin der Weg führen wird. Eine magische Mischung aus Melancholie, Ungewissheit und Neugier, die mal lähmt, dann wieder vorwärtstreibt.

Und immer wieder führt der Trail mich gnadenlos an meine Angstschwelle. Die nächste Weide ist mit riesigen Kühen übersät. Die haben es sich schön mitten auf dem Weg gemütlich gemacht. Ein mächtiger Bulle wacht über seinen Harem. Und wieder zögere ich, nähere mich vorsichtig, kehre wieder um. Da tauchen hinter mir zwei Spaziergänger auf. Er ein großer Hüne, sie eine kleine Zierliche. Sie bieten mir an, dass wir zusammen durch die Herde gehen. Ich bin heilfroh. Die Biester kommen extrem nah, aber ein Abwedeln mit der Hand scheint zu genügen und sie weichen missmutig. Puuhh! Ich danke den beiden herzlich und muss auf der nächsten Bank erstmal nach Atem ringen.

Wer jetzt aber glaubt, der Pennine Way sei von nun an ein ebener Spazierweg, der ist ein ziemlich unverschämter Optimist. Der Pfad wandelt sich schlagartig in steinerne Geröllwüsten, auf denen jeder Schritt gut durchdacht sein muss. Die Zeit rennt mir davon, während ich von Felsen zu Felsen klettere und ich habe noch nicht mal die Hälfte geschafft. Dann wird es wieder etwas ebener und als ich um die nächste Ecke biege bekomme ich nochmal einen herzzereißenden Anblick präsentiert. Cauldron Snout, ein weiterer kraftvoller Wasserfall donnert tösend von den Felsen. Ich kriege meinen Mund nicht mehr zu, stehe da wie festgewachsen und starre mit klopfendem Herzen und Gänsehautkribbeln auf ein Pennine Way Weltwunder der Extraklasse.

Nun, der Pennine Way wäre nicht der härteste Trail Englands, wenn er nicht noch einen oben drauf setzen würde. Er führt nämlich nicht einfach daran vorbei, nee, nee, ich muss an einer glitschigen Felswand hinauf, direkt neben dem Wasserfall bis an dessen Spitze klettern. Ich zittere vor Aufregung, bin zum Bersten nervös, sehe mich schon in den Fluten versinken. Und dann pack ich’s an. Vorsichtig, Klimtzug um Klimtzug bis ich auf dem Plateau stehe, während unter mir der Wasserfall in atemberaubendem Tempo davonkracht. Vor Erleichterung und Freude breche ich kurzerhand wieder in Tränen aus.

Doch es bleibt wenig Zeit für Rührseligkeiten. Die Zeit drängt. Es geht rauf auf Rasp Hill, einen endlosen Hügel, immer entlang der offiziellen Übungsschusszone des Verteidigungsministeriums (ziemlich mulmige Angelegenheit). Dann endlich geht es bergab. Hier ist nichts und niemand, nur unendliche Weiten aus Gras, Heidekraut, Bächen, Hügeln und Schlamm und eine kleine Berlinerin mitten drin.

Ich bin ziemlich durch, da erreiche ich nach zehn Stunden den ultimativen Höhepunkt des Tages: High Cup Nick. Wie ein surreales Landschaftsgemälde erstreckt sich die von den Gletschern der Eiszeit geformte überdimensionierte Schale vor mir. Ein spektakuläres Meisterwerk  geologischer Erdgeschichte, bei dessen Anblick mir ganz schwindelig wird und mein Kiefer dauerhaft nach unten klappt. Hallelujah! Was für ein Geschenk!

Am liebsten würde ich mich hier auf den Hosenboden fallen lassen, aber ich muss mich ranhalten. Es ist bereits fünf und ich muss für mein Abendbrot sorgen.

Der Abstieg von dieser monströsen Erdausbuchtung wird zu einer Nervenprobe. Der Pfad führt plötzlich viel zu nah am Abhang entlang. Nie im Leben kann das stimmen. Also klettere ich bergauf und treffe, dem Himmel sei Dank auf den richtigen Weg.

Nach weiteren zwei Stunden und ellenlangem Fußmarsch kann ich kaum noch laufen und ich erreiche endlich eines der wundervollsten Hostels auf dem Pennine Way in Dufton. Der Rezeptionist Simon ist gleichzeitig auch der Koch und er plant mich lieberweise noch zum Abendbrot ein. Und das besteht aus Vorsuppe, Cumbrischer Wurst und heißem Apfelkuchen mit Vanillecreme. Ich bin im 7. Himmel.

Meine Tischnachbarn sind alte Bekannte. Ein holländisches Pärchen, das ich wenige Tage zuvor auf dem Pennine Way traf. Sie haben aufgegeben, keine Lust mehr, wollen mit dem Zug nach Schottland und dort ausspannen. Ich finde es schade, aber die beiden sind einfach nicht mehr zu überzeugen. Ich verstehe sie gut, so oft habe ich den Weg verflucht und bin daran verzweifelt und dennoch ist der Pennine Way jetzt fest in meinem Herzen verankert und ich kann mir einen Rückzug nicht mehr vorstellen. Zu sehr hat er mein Leben bereichert, mich unendlich wertvolle Lektionen gelehrt. Und seine Schönheit ist unangefochten. Seht selbst:

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