Tag 12 – von Dufton nach Alston (31.5 Kilometer, 1066 Meter Anstieg)

Ein kurzer Blick in mein Guidebook empfiehlt mir Folgendes für den heutigen Tag: “Verlasse Dufton auf keinen Fall
ohne ausreichende Wasser- und Nahrungsreserven und halte Kompass und Karte fest umklammert! Das ist eine ernsthafte Bergwanderung, die nicht auf die leichte Schulter genommen werden sollte.”

Ui ui ui, das klingt recht halsbrecherisch. Und in der Tat werde ich heute den höchsten Punkt der Pennines besteigen. Der Tag wird also zeigen, wie viel Wahrheit in dem bitterernsten Ratschlag steckt. Als ich mich fertigmache liegen die Hostelflure noch in Dunkelheit. Nur meine Zimmergenossin, eine ältere Dame aus einer schottischen Alternativkommune, wünscht mir eine gute Reise. Ich brühe mir noch einen Instantkaffee auf und verlasse gegen 7 Uhr das Hostel. Die bedrohliche Bergkulisse liegt noch ein paar Meilen entfernt. Ich schlage mich durch einen schmalen Pfad, der links und rechts von Hecken und Zäunen begrenzt ist. Ich bin ganz froh, dass Pferde und Kühe dahinter sicher verwahrt sind. Doch… Natürlich hab ich mich wieder mal zu früh gefreut. Als ich um die nächste Kurve biege, lümmelt eine ganze Herde friedlich auf dem Pennine Way. Okay, was in einer solchen Situation meiner neuesten Erfahrung nach am Besten hilft ist: Die Situation in Angriff nehmen, noch bevor die geringste Angst aufkommt. Also schnell handeln und selbstbewusst auftreten.

Ich atme also tief ein, nehme eine aufrechte Haltung ein, ramme meine Laufstöcke so laut wie möglich in den Boden und gehe strammen Schrittes auf die Kumpels los. Die starren mich verwundert an, kommen zentimeterweit an mich ran. Doch dann spiele ich die Rolle eines grummeligen Farmers und mit zackigen Abwinkbewegungen und einem scharfen: “Go, go!!!” bahne ich mir meinen Weg.

Plötzlich stiebt die Herde auseinander, die Kühe flüchten in alle Richtungen davon. Kälber werden von ihren Müttern getrennt. Meine Güte, ich wollte ja nur ein wenig Platz haben und nicht gleich ganze Familien auseinanderreißen. Jetzt habe ich aber schon ein schlechtes Gewissen. Egal, die kriegen sich schon wieder ein.

Der erste Berg rückt näher, nur noch ein Tor durchquert und dann beginnt der Aufstieg. Doch was ist das?! Genau hinter dem Tor, das ich passieren muss, hat sich die nächste Kuhherde versammelt. Große braune Kulleraugen stieren mir neugierig entgegen. Ich suche verzweifelt nach einer Ausweichroute, aber nix da. Ich muss da irgendwie durch. Scheinbar ist heute der Tag der Kuhmutproben auf dem Pennine Way. Als ich direkt vor dem Tor stehe bekomme ich Muffensausen. Gut, ich probiere mal was Neues aus. Mit ein paar knackigen Schlägen knalle ich meine Gehstöcke aufeinander und gebe den Kühen eindringliche Abmarschbefehle. Mein deutscher Akzent ist hier sicher von Vorteil. Die Hälfte der Schar macht zumindest schonmal Platz und tritt die Flucht an. Okay, das Tor ist schonmal frei und ich komme durch.

Ich bin jetzt mitten in der Herde. Hinter mir trotten Tiere, vor mir trotten Tiere. Ich drehe mich immer wieder um, um klarzumachen, dass mir hier ja keiner zu nahe kommen sollte. Doch dann, kurz bevor ich das rettende zweite Tor erreiche wird mir schlecht. Direkt vor mir steht in all seiner übermächtigen Männlichkeit ein gestandener, übermächtiger Bulle, der mich verständnislos und wenig angetan anstarrt. Ich denke nur: “Ach du Kacke!” Mit bestimmtem Schritt erreiche ich endlich den Ausgang, doch das verdammte Schloss klemmt. Ich versuche so gelassen wie möglich rüberzukommen. Bullen kennen da nämlich keine Gnade. Dann versuche ich es mit Gewalt und Sesam öffne dich, ich schlüpfe ins Freie und bin jetzt schon völlig fertig.

Aber der anstrengende Part folgt auf dem Fuß. Der nicht enden wollende Aufstieg auf Knock Fell. Der erste von vier Monsterhügeln. Und immer, wenn ich mich zur Atempause niederlassen will, bin ich in Sekunden umringt von beißenden Gnitzen. Also bleibt mir nichts übrig als weiterzugehen, egal wie erschöpft ich bin. Die Aussicht von hier oben entschädigt allerdings für so einige Strapazen. Bei strahlendstem Sonnenschein kann ich bis hinüber zum Lake Distrikt schauen. Himmlisch!

Hinter mir nähern sich dicke, tiefhängende Wolken und ich fürchte, dass ich schon bald von dichtem Nebel umgeben sein werde. Doch die Wolken ziehen weiter und ich kann beruhigt weitermarschieren. Nun geht es kurz bergab und dann hinauf auf Great Dun Fell, auf dessen Gipfel eine futuristische Radarstation thront. Von hier aus wird der Luftraum Nordenglands und Südschottlands überwacht. Für mich sieht das spacige, ganz in weiß gehaltene Bauwerk eher wie eine marsianische Raumstation aus. Ziemlich abgefahren.

Und weiter geht’s zum nächsten Hügel, dem Zwillingsberg Little Dun Fell. Der steht wie eine übermächtige grüne Glocke vor mir und ist verdammt steil. Ich brauche Ewigkeiten, um da hochzukrabbeln. Auf seinem Gipfel schnarchen ein paar Schäfchen in der Mittagssonne und ich verspeise mein Lunchpaket in einem kleinen Steinverschlag. Und während ich so vor mich hin knabbere, blicke ich mit wachsender Ehrfurcht auf den Giganten, der sich direkt vor mir 893 Meter hoch in den Himmel erhebt: Cross Fell. Der Hüne unter den Pennine- Bergen.

Ich sammle meine Kräfte für den wohl anstrengendsten Kletterakt des Tages und der hat es in sich. Den Pfad da rauf muss ich mir nämlich auch noch selber zusammenbasteln. Eine nachvollziehbare Vorlage gibt es nicht. Ich kämpfe mich durch Schlamm, Felsbrocken und knietiefe Pfützen. Und dann ist es vollbracht. Ich stehe am Gipfelpunkt und bin bis in Mark und Bein gerührt. Die Aussicht ist der absolute Wahnsinn! Ich habe das Gefühl, ich kann über ganz England blicken. Rundum eröffnet sich ein alles bisher Dagewesene in den Schatten stellendes Panorama. Es ist unfassbar schön! Ich lehne mich im Windschutz zurück, genieße das cineastische Spektakel und leere eine ganze Tüte Chips.

Dann heißt es Abmarsch und wieder suche ich vergeblich einen klaren Pfad ins Tal. Den gibt es einfach nicht, also muss ich mir selber einen suchen und gelange schließlich auf eine steinige Straße, die in sanften Kurven nach unten führt. Und gar nicht weit entfernt treffe ich auf einen ganz besonderen Unterschlupf auf dem Pennine Way: Greg’s Hut, eine alte Minenarbeiterhütte, die von einer Freiwilligenorganisation zu einer simplen, aber effektiven Unterkunft ausgebaut wurde. Es gibt hier zwar weder Strom, noch fließend Wasser, dafür aber einen kleinen Ofen, eine Pritsche für circa acht müde Wanderer, ein paar Stühle und jede Menge toller Geschichten im hauseigenen Gästebuch. Die Hütte steht jederzeit offen. Ob als kurzzeitiger Unterschlupf vor Regen und Sturm oder als Übernachtungsoption, Greg’s Hut ist ein wahrer Segen auf dem Pennine Way.

Es ist gerade mal halb drei, also entscheide ich mich für das Dörfchen am Fuß des Berges: Garigill. Doch vergeblich versuche ich auf dem stundenlangen, steinigen Weg dahin telefonisch eine Unterkunft zu organisieren. Sämtliche Übernachtungsmöglichkeiten aus meinem Guidebook scheinen geschlossen worden zu sein. Ich hoffe dann mal einfach aufs örtliche Pub. Da wird man mir sicher weiterhelfen. Doch als ich gegen halb sechs im Dorfkern eintreffe, ist der Pub schottendicht, sämtliche Läden verrammelt und verriegelt. Und Netz habe ich hier auch keins. Meine einzige Rettung ist eine rote Telefonzelle. Ich komme mir vor wie in einem Point- and- Click- Adventure-Computerspiel. Benutze die Dinge, die dir zur Verfügung stehen und entkomme aus dem dunklen Verließ.

Zum Glück funktioniert der nostalgische Apparat und ich wähle die im Guidebook angegebene Taxinummer. Eine männliche Stimme versichert mir, in 45 Minuten säße ich im Auto Richtung Alston. Gut, die Zeit kriegen wir auch noch rum. Die nächste Nummer, die ich wähle ist die vom Youth Hostel in Alston. Dort hat man noch ein Bett frei für die Nacht.

Wupp, der Hals ist aus der Schlinge. Nun noch etwas rumsitzen am Straßenrand und dann wär’s geschafft. Und als ich so warte gesellt sich aus dem Nirgendwo plötzlich ein fröhlicher Hiker zu mir. Paul aus Newcastle ist auf dem Pennine Way Richtung Süden unterwegs, campt hinter der Stadthalle, hat Angst vor Kühen, wird vermutlich aufgrund unvorhersehbarer Fußschmerzen vorzeitig aufgeben und ist unvorstellbar taub. Jedes Wort muss ich ihm entgegenschreien. Das muss man sich mal vorstellen. Da sitze ich in einem cumbrischen Kaff, am Ende meiner Kräfte, mit einem halb tauben Pennine Way Wanderer, der durchs Dorf zieht, in der Hoffnung ein ungesichertes Wifi-Netz zu finden und brülle ihm über dem ausgestorbenen Marktplatz meine Erfahrungen entgegen. Das ist doch der absolute Knüller. Und genau das ist das Liebenswerte an diesem verflucht harten Weg: du wirst in die verrücktesten Situationen geworfen, die absolut einmalig und besonders sind. Und heute habe ich diese Bilder für euch:

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